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Sonntag, 4. Januar 2015 15
ОглавлениеTravniczek fuhr denselben Weg nach Heidelberg zurück, über den er gekommen war. Wieder fiel Schnee in dichten Flocken und er kam nur langsam voran.
Er versuchte, sich ein Bild zu machen von dem, der den Stein geworfen hatte.
Wer bist du? Ich sehe nur einen formlosen Schatten. Zeig dich mir! Oder hast du dich mir heute schon einmal gezeigt und ich habe dich nicht erkannt?
Warum hast du diesen Stein geworfen? Weil du Wolfgang Maurischat hasst?
Sag mir, warum hasst du ihn? Was hat er dir getan? Du antwortest nicht. Du weißt also selbst nicht, warum du ihn hasst? Hat er etwas, was dir fehlt? Kann er etwas, wo du versagst? Ist er etwas, was du nicht bist, aber gerne wärst? Heißt du etwa doch Adalbert Schittenhelm?
Nein, so heißt du nicht. Du hasst Wolfgang gar nicht. Er ist dir im Grunde völlig gleichgültig. Du hast nur Angst. Angst davor nicht dazuzugehören, nicht anerkannt zu werden. Wenn ich jetzt diesen Stein werfe, hast du gedacht, dann sehen alle, ich bin wirklich einer von euch. Ihr Bürger von Waldesruh, jetzt müsst ihr mich endlich loben.
Und jetzt bist du maßlos enttäuscht. Sie loben dich gar nicht. Sie sind sauer auf dich, weil du den Stein geworfen hast. Du musst dich ganz klein machen, damit sie dich nicht erkennen. Du hast vorher nicht nachgedacht, sonst hättest du erkennen müssen, dass niemand etwas von deiner Tat hat, dass niemand sie will, selbst die nicht, die Wolfgang Maurischat wirklich hassen.
Ich erkenne dich immer noch nicht. Der Schatten hat sich kaum gehoben. Neu ist für mich nur, du hast vor deiner Tat nicht richtig nachgedacht. Machst du das immer so, wenn du handelst? Wahrscheinlich. Und – du hast Angst, nicht dazuzugehören.
Wenn ich mir einen nach dem anderen von den Menschen, die ich heute in Waldesruh getroffen habe, ansehe, habe ich dich dann gesehen?
Oder bist du doch ein ganz Anderer? Nein, nein, ich habe dich heute gesehen. Du entkommst mir nicht. Ich werde dich erkennen. Bald!
Es war schon fast ein Uhr, als er endlich nach Hause kam. Er war hundemüde und sehnte sich nach seinem Bett. Doch als er den Dienstwagen abschloss, sah er, dass oben in der Wohnung überall Licht brannte. Bernhard musste also wieder da sein. Aber wozu die Festbeleuchtung? War er nicht alleine gekommen? Sollte er …?
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend hastete er die Treppe hoch. Tatsächlich. Als er die Wohnungstür aufschloss, hörte er Stimmen. Und noch ehe er richtig drinnen war, wurde die Wohnzimmertür aufgestoßen und seine Tochter Julia kam ihm entgegen.
„Da bist du ja endlich, Paps!“, freute sie sich und fiel ihm um den Hals. Der Vater wusste gar nicht, wie ihm geschah. Glück, Angst, Schreck und Genugtuung fühlte er gleichzeitig und durcheinander. Und als Julia ihn gar nicht mehr loslassen wollte, begriff er vielleicht zum ersten Mal, wie sehr seine Tochter an ihm hing.
Erst als er nach einer Weile etwas aufsah, bemerkte er den zweiten Gast. Lang, dürr, mit hängendem Kopf und gebeugtem Rücken stand er in der Wohnzimmertür wie die personifizierte Verlegenheit: Christian, sein Jüngster. Der war vierzehn und wohl gerade in den letzten Monaten sehr in die Höhe geschossen, ohne dass die Breite mitgegangen wäre. Und mit diesen Ausmaßen schien sich sein Ego noch gar nicht angefreundet zu haben.
„Ja, dann komm doch auch mal her“, rief er und versuchte gleichzeitig, Julia langsam in Richtung Wohnzimmer zu schieben. Er machte mühsam einen Arm frei, um auch Christian an sich zu drücken. Als sie dann endlich zu dritt ins Wohnzimmer gelangten, konnte Bernhard sich ein heftiges Kichern nicht verkneifen.
Schließlich saßen sie dann alle um den Wohnzimmertisch und Travniczek sagte: „So, und jetzt erklärt mir mal, was hier eigentlich los ist.“
Julia sah verlegen zu Christian, dann zu Bernhard.
„Erzähl du!“
„Also, es ist im Grunde ganz einfach. Dieser sogenannte Stiefvater scheint wohl von Julia nicht lassen zu können. Er hat wieder gegrabscht. Und Mutter checkt absolut null. Da hab ich gesagt: ‚Julia, pack deine Sachen, wir gehen.‘ Und als Christian gemerkt hat, was da abging, wollte er nicht allein zurückbleiben. Ja, und jetzt sind wir alle hier.“
Die drei sahen den Vater erwartungsvoll an. Ohne noch viel nachzudenken, meinte er ganz nüchtern: „Christian, Julia, ich denke, ihr seid inzwischen alt genug, um selbst entscheiden zu können, wo ihr leben wollt.“
Julia sah ihn mit großen Augen an.
„Meinst du damit, wir können bleiben?“
Seine Augen waren feucht geworden.
„Ja, dachtest du denn, ich würde es fertigbringen, euch einfach wieder wegzuschicken?“
„Cool!“, jauchzte sie und sprang auf seinen Schoß. Christian war so verlegen, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte.
„Aber ihr wisst, mein Beruf fordert mich manchmal sehr. Daran hat sich nichts geändert, und daran wird sich auch nichts ändern können. Das müssen wir irgendwie zusammen hinkriegen.“
„Ach, Paps“, meinte Julia, die sich ganz eng an ihn kuschelte, während er sacht über ihre rotblonden Locken strich. Sie gab sich Mühe, sehr erwachsen zu klingen. „Das schaffen wir schon. Schließlich ist Bernhard schon erwachsen, ich bin fast erwachsen, und um Christian kümmern wir uns dann gemeinsam.“
Der Vater musste lachen über so viel jugendliches Selbstbewusstsein. Wobei er sich nicht so ganz sicher war, dass es tatsächlich so einfach werden würde. Aber daran wollte er jetzt nicht denken. Da erst bemerkte er auf dem Wohnzimmertisch zwei Flaschen Wein – seinen Grünen Veltliner. Eine war ganz leer, die andere zur Hälfte. Er wollte schimpfen. Vor allem Christian war doch dafür noch viel zu jung. Aber Bernhard, ein sehr guter Beobachter, kam ihm zuvor.
„Vadder, ich hol dir mal ’n Glas“, und war in die Küche verschwunden.
Schnell kam er zurück, stellte das Weinglas vor seinen Vater auf den Tisch und goss ein. Dann füllte er auch sein Glas und die seiner Geschwister. Travniczeks Ärger hatte sich wieder gelegt. Es gibt Schlimmeres, dachte er, griff nach dem Glas und verkündete mit ironischem Pathos: „Also, dann trinken wir auf die neue Familie!“
„Ist aber noch nicht wirklich komplett“, warf Bernhard ein.
„Wie meinst du das denn jetzt?“
„Oh, … das weißt du doch ganz genau.“
Er antwortete nicht, bemerkte aber die wissenden Gesichter von Julia und Christian. Hatte hier gerade der Familienrat getagt?
Bernhard sah seine Verlegenheit. „Für heute lass mal. Ich seh schon, du bist zu müd. Aber glaub nicht, dass ich dich in Ruhe lass. Wir haben uns gerade schon viele Gedanken gemacht. Aber … heute nicht mehr.“