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Es war noch dunkel, als Travniczek erwachte. Er konnte also noch nicht lange geschlafen haben. Er drehte sich auf die andere Seite und versuchte weiterzuschlafen. Da lief auf einmal wieder dieser Erinnerungsfilm ab, der in den letzten Monaten immer häufiger ungerufen kam. Er sah in die Mündung einer Pistole und hatte mit seinem Leben bereits abgeschlossen, denn an Händen und Füßen gefesselt gab es keine Gegenwehr mehr. Da fielen drei Schüsse und seine Kollegin Martina Lange tauchte aus dem Dunkel auf. Sie hatte geschossen und die Gefahr war gebannt. Das war vor eineinhalb Jahren. Sicher, seit diesem Ereignis war sein Verhältnis zu Martina ein ganz besonderes. Schließlich hatte sie ihm sein Leben neu geschenkt. Aber was hatte Bernhard gesagt? ‚Stell dir vor, mit ihr zu schlafen, mit ihr zusammenzuleben? Wie fühlt sich das an?‘

Er versuchte, einen Zukunftsfilm mit Martina zu drehen, aber der Monitor blieb schwarz. Warum eigentlich? Hatte er Angst, noch einmal eine ähnliche Katastrophe zu erleben wie mit Marion? Oder sich einen Korb zu holen? Hatte er sich vielleicht schon so damit abgefunden, das Leben des einsamen Wolfs zu führen, dass ihn jeder andere Weg schreckte?

Er fand keinen Schlaf mehr, stand auf und durchwühlte seine CDs. Ohne viel nachzudenken, griff er nach Schuberts Klaviertrios6. Er hörte beide nacheinander und merkte, wie gut ihm das tat.

Danach blieb er lange liegen und ließ die Musik in sich nachklingen. Warum hatte ihn gerade jetzt Schubert so in seinen Bann gezogen? Schubert war wohl einer der einsamsten Menschen, die je gelebt haben. Einsam, weil ihm in seiner Zeit niemand in seine Welt folgen konnte. Und je näher er seinem viel zu frühen Tod kam, umso mehr komponierte er. Bei dem Pensum seiner letzten zwei Lebensjahre musste er eigentlich Tag und Nacht geschrieben haben. War er glücklich, wenn er komponierte? Die Antwort darauf konnte er nur in Schuberts Musik finden. Er musste nur noch genauer hinhören.

Er stand auf, kochte sich einen starken Kaffee und nahm ihn mit ins Wohnzimmer.

Das neue Jahr sollte ich mit einigen Präludien und Fugen von Bach begrüßen, dachte er und setzte sich ans Klavier. Aber bald schlug er wieder die große Schubertsonate auf und spielte zunächst bis dorthin, wo er sich vor zwei Tagen wie ein Bergsteiger gefühlt hatte, der über allen bedrohlichen Wolken im strahlenden Sonnenlicht angekommen war. Aber jetzt kam ihm das Sonnenlicht gar nicht mehr so strahlend vor, denn Schubert verwandte hier noch einmal die resignative absteigende Melodie vom vorangegangenen Abschnitt. Zudem trübten einzelne Töne das Licht weiter ein, Begleitfiguren sorgten für Nervosität.

Er glaubte, Schuberts Angst vor der Helligkeit zu hören. Für einen Augenblick kam ihm der schwarz bleibende Monitor in Erinnerung, als er vorhin seinen Zukunftsfilm drehen wollte.

Etwas später fühlte er sich dann doch in eine heile Welt versetzt. Idylle pur: Hirten mit ihren Schäfchen auf der Weide im warmen Licht der mediterranen Sonne. Nymphen und Satyrn neckten sie. Es gab keine Leiden mehr, nur Freude und Schönheit. Travniczek wusste, dass das so nicht bleiben würde.

Da öffnete sich langsam die Tür und Bernhard sah herein.

„Darf ich zuhören?“

„Nur zu, komm rein.“

Der Alte überlegte, seinem Sohn die Musik zu erklären, so wie er sie sich selbst bis zu diesem Punkt klargemacht hatte. Aber dann besann er sich doch anders und spielte die komplette Sonate einfach durch. Bernhard hörte fasziniert zu. Er hatte bisher noch nie wahrgenommen, zu welcher Gefühls­­intensität sein Vater fähig war.

Als die Musik verklungen war, blieben beide lange schweigend sitzen, bis Bernhard plötzlich die Stille unterbrach: „Vadder, ich sag‘s noch mal, du brauchst wieder ‘ne Frau. Und die kann sich glücklich schätzen, wenn du sie so behandelst wie diese Musik.“

„Hm, das hast du aber schön gesagt. Seit meiner Schulzeit hat mir niemand mehr ein solches Kompliment gemacht.“

Da schlug Bernhard mit der flachen Hand auf den Couchtisch.

„Und jetzt machen wir ein ordentliches Sektfrühstück!“

Tagebuch - 21.1.

Ich konnte lange nicht schreiben, denn ich war sehr krank. Tagelang hatte ich ganz hohes Fieber und mußte so viel husten wie noch nie. Alles hat weh getan. Dann habe ich furchtbare Sachen geträumt. Drachen wollten mich fressen. Und ein Drache sah genauso aus wie Vater. Manchmal wußte ich gar nicht, ob ich jetzt träume oder wach bin. Dr. Maurer hat immer so ein ernstes Gesicht gemacht. Einmal habe ich mitbekommen, wie er zu Mama was vom Sterben gesagt hat. Ich hatte große Angst.

Aber jetzt ist das Fieber etwas weniger geworden und ich kann auch wieder ein wenig essen. Aber eines ist gut. Vater hat mich wenigstens in Ruhe gelassen die ganze Zeit.

Es fing am Tag nach Neujahr an. Ich mußte Mama beim Putzen helfen. Ich sollte die Sachen abstauben, die auf der Anrichte und im großen Wohnzimmerschrank offen herumstehen. Da steht auch eine große Vase, die hat Papa mal Mama zum Geburtstag geschenkt. Sie ist aus Kristall und das ist sehr wertvoll. Ich will solche Sachen eigentlich nicht anfassen. Ich bekomme dann furchtbare Angst, sie könnten mir aus der Hand fallen und kaputt gehen.

Und dann ist es auch passiert. Ich hatte die Vase schon fast ganz saubergemacht, da rutschte sie mir aus der Hand und zerschlug in tausend Stücke …

Der Vater kommt. Ich muß das Tagebuch verstecken.

1 Siehe erster Fall: „Schlag auf Schlag“ und dritter Fall: „Metastasen eines Verbrechens“

2 Siehe dritter Fall: „Metastasen eines Verbrechens“

3 Siehe erster Fall: „Schlag auf Schlag“

4 Siehe dritter Fall: „Metastasen eines Verbrechens“. Hier entstand eine Freundschaft zwischen Bernhard, Janine, der Tochter von Travniczeks Kollegin Martina Lange und Berenice Winkelmann, die bei Lange wohnt. Die drei sind dabei in dramatische Verwicklungen geraten.

5 Siehe dritter Fall: „Metastasen eines Verbrechens“

6 Schubert hat zwei große Klaviertrios geschrieben

in B-Dur https://www.youtube.com/watch?v=_MzNAAuwfLE

in Es-Dur https://www.youtube.com/watch?v=qKjwFeVe6-k

Waldesruh

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