Читать книгу Leichenstarre - Claudia Puhlfürst - Страница 11

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»Das war’s für heute, meine Lieben.« Der Lehrer schloss das Buch und sah in die Runde. Die Schüler packten ihre Sachen ein und tuschelten miteinander. Sie waren so verschieden. Große und Kleine. Dünne und Dicke. Hübsche und Hässliche. Höfliche und Freche. Und vor allem Kluge und Dumme. Die Ersteren deutlich in der Minderheit. Von Jahr zu Jahr schienen die Schüler dümmlicher zu werden. Alle Kollegen wussten das. Auch von den Hübschen und Höflichen gab es nur wenige.

Er lächelte ihnen abschließend wohlwollend zu. Jeder bekam ein Stück Aufmerksamkeit ab. Keiner wurde bevorzugt. Der Plebs hatte eine feine Ader dafür, wenn Intelligentere sich über ihn lustig machten. Und wenn sie noch so einfältig waren, das spürten sie sofort. Der Lehrer hatte erlebt, was mit Kollegen geschah, die die Schüler ihre Überlegenheit spüren ließen. Die Rache der getroffenen Kreatur konnte furchtbar sein. Zerstochene Autoreifen. Telefonterror. Selbstgebastelte Stinkbomben im Briefkasten. Die Einfältigen konnten erstaunlichen Erfindergeist entwickeln, wenn es um ihr getroffenes Selbstbewusstsein ging.

Er jedenfalls hatte keine Lust darauf und verbarg seine Verachtung. Persona. Er spielte die Rolle nicht, er war der beliebte und anerkannte Lehrer. Eine natürliche Autorität.

Die Schulklingel schepperte und die Ratten verließen in Windeseile das sinkende Schiff. Manche verabschiedeten sich, manche nicht. Er dachte über seinen Feierabend nach. Nichts zu korrigieren. Vorbereitungen für den Unterricht waren nach fünfzehn Dienstjahren nicht mehr nötig. Es hätte ein freier Nachmittag sein können, aber wichtige Aufgaben warteten darauf, erledigt zu werden. Zuerst die Einkäufe.

Rohrreiniger. Mehrere Flaschen. Fünf dürften reichen. Es war nicht angebracht, alle auf einmal zu kaufen. Manche Angestellte erinnerten sich noch monatelang an ungewöhnliche Verkäufe. Also musste er ein bisschen herumfahren. Von einem Supermarkt zum nächsten. Die großen Geschäfte hatten unzählige Kunden. Genervte Kassiererinnen waren nur damit beschäftigt, die Waren schnell über den Scanner zu ziehen und das Geld zu kassieren. Sie kümmerten sich weder um das Aussehen der Leute neben dem Laufband, noch um die darauf befindlichen Waren.

Neue Messer brauchte er auch. Neue Messer, eine neue Geflügelschere. Ein Fleischbeil. Einen Fuchsschwanz. Eine Stichsäge. Durch sein anfänglich ungeübtes Herumprobieren mit den verschiedenen Schneidwerkzeugen waren sie leider alle mit Blut und Gewebe in Berührung gekommen. Und mit modernen forensischen Mitteln konnte man dies auch noch nach Jahren nachweisen. Es blieb immer ein Risiko. Und so waren seine wunderbaren Werkzeuge zu Grabbeigaben für eine Prinzessin geworden. Besonders um die handgeschliffenen WMF-Messer tat es ihm Leid. Es waren exzellente Instrumente. Teuer zwar, aber ihren Preis wert. Scharf wie Rasierklingen schnitten sie sich durch Muskelfasern wie eine warme Klinge durch ein Stück Butter.

Aber alles nicht so schlimm. Man konnte eins nach dem anderen wieder erstehen. Jede Woche ein anderes. Zuerst die wichtigsten Größen und Formen. Manche von ihnen gab es auch im Supermarkt.

Ein elektrisches Messer würde er sich dagegen nicht wieder zulegen. Das war kindische Spielerei für ungeübte Hausfrauen. Einen weichen, warmen Braten konnte man damit vielleicht in makellose Scheiben schneiden, rohes Fleisch dagegen widersetzte sich der vibrierenden Klinge vehement. Es hatte ihn überrascht, wie unverwüstlich zäh Knochen und Knorpel waren, auch bei einem zarten, jungen Persönchen. Beim nächsten Mal würde er gleich die Stichsäge nehmen.

Der Lehrer grinste kurz in sich hinein und schraubte den Füllfederhalter auf. Vom Gang hallten die Stimmen sich verabschiedender Schüler herein. Bald würde friedliche Nachmittagsstille ins Schulhaus einkehren. Er sah sich um. Das Klassenzimmer war leer und kühl. Feierabendstimmung. Eine abschließende Eintragung in das Kursbuch, Fenster und Tür verschließen und dann konnte die Shopping-Tour beginnen. Die Schneidwerkzeuge waren kein endgültiger Verlust.

Die Principessa dagegen – sein marmorweißer Engel – für immer verloren. Unwiederbringlich.

Es klopfte und der Lehrer hob den Kopf. Er sah in zwei strahlend grüne Augen.

Sie waren zu zweit. Zwei Schülerinnen standen vor seinem Tisch und warteten darauf, dass er zu ihnen sprach.

Zu den strahlend grünen Augen gehörte ein zierliches Mädchen. Rotgoldene Haare zu einer raffinierten Frisur hochgesteckt. Die wie zufällig herausgerutschten Strähnchen kringelten sich vor den Ohren. Ihre Körperspannung war exzellent. Sie hatte etwas von einer Ballettelevin.

Sie war klein, weitaus kleiner als die königliche Principessa. Ein anderer Typ. Aber nicht minder reizvoll. Er suchte ja auch nicht nach ihrem Ebenbild. Das würde es nie geben. Der Lehrer ließ seinen Blick zu der Zweiten gleiten.

Eine von den anderen. Ein grobschlächtiger Trampel. Von denen leider viel zu viele herumliefen. Das Mauerblümchen. Die unerfreuliche Begleitung eines hübschen Mädchens. Manche von den Makellosen nahmen sich absichtlich eine hässliche Freundin, um in ihrer Begleitung um so heller zu leuchten.

Den Rücken gebeugt; haderte sie mit ihrer Größe. Ihr pickelübersätes Gesicht glich einer Kraterlandschaft. Die knollige Nase zeigte nach links. Mit einer Warze auf der Spitze hätte ihre Besitzerin die Hexe aus Hänsel und Gretel spielen können. Die großen Ohrringe mit den hellgrünen Steinen betonten das asymmetrische Gesicht noch, statt von ihm abzulenken. Der Lehrer stellte sich statt der Gesichter zwei weiße Flächen vor und schenkte beiden ein gleichlanges aufmunterndes Lächeln.

Cenerentola und Tisbe.

Das italienische Aschenbrödel, die englische Cinderella, ein stolzer Schwan in Wirklichkeit. Und ihre dümmliche, ungeschlachte Stiefschwester, Tisbe.

»Wir wollten Sie um Rat bitten.« Cenerentola hatte eine feinmodulierte, klare Altstimme. Wohlgefällig und höflich. Tisbe nickte nur katatonisch.

»Aber gern, meine Damen.« Er zwinkerte dem goldlockigen Engel zu. Nicht zu verschwörerisch. Nur ein charmantes Blinzeln. »Ich bin Ihnen gern behilflich. Worum geht es denn?«

»Wir haben bei Frau Siebdraht Latein...« Sie machte eine kurze Pause und wartete auf Einwände. Der Lehrer lächelte ihr weise zu. Er würde das nicht kommentieren. Nicht jetzt und nicht, wenn sie zu dritt waren. Man äußerte sich nicht über den Unterricht anderer Kollegen im Beisein mehrerer Schüler. Was er unter vier Augen sagte, war eine ganz andere Sache. Cenerentola fuhr fort.

»Und wir kommen nicht mit. Es ist zu« – sie suchte nach dem passenden Wort – »kompliziert. Im Unterricht verstehen wir nur die Hälfte und die Klausuren sind zu schwer.«

Der Lehrer nickte gütig. Er wusste, was sie von ihm wollte. Aber sie sollte es selbst sagen. Wieso war ihm diese fragile Cinderella noch nie aufgefallen? Er hatte doch sonst ein Auge für die seltene Kombination von Schönheit und Liebreiz.

Tisbe schaltete sich in den Monolog ein. Ihre Stimme war wider Erwarten angenehm und klangvoll. »Wir haben gehört, Sie geben manchmal Nachhilfe. Und wir wollten fragen, ob Sie uns auch helfen würden.« Die Benachteiligte sprach für ihre vom Leben reich beschenkte Freundin mit. Bedeutete dies, er würde beide betreuen müssen? Wahrscheinlich hatte Tisbe glänzende Leistungen. Was konnte sie an sonnigen Nachmittagen und langen Wochenenden anderes tun, als hinter den Büchern zu sitzen? Ihr einziger Vorteil gegenüber den hübschen, schlanken, koketten Mitschülerinnen war doch der Lerneifer. Dass das nichts zählte in der Welt der Jugend, hatte sie mit Sicherheit schon schmerzlich erfahren. Und doch blieb ihr nichts anderes übrig.

»Von wem haben Sie denn gehört, dass ich Nachhilfestunden in Latein gebe?« Er schenkte dem Goldengel ein Zauberlächeln, während er darüber nachdachte, wer von seinen bisherigen Eleven den beiden davon berichtet haben mochte; denn er bat immer darum, die Förderung nicht publik zu machen. Schließlich konnte man nicht jeden Nachmittag seine kostbare Zeit irgendwelchen begriffsstutzigen Gymnasiasten widmen. Zwei, drei nicht zu gelehrige Schülerinnen pro Schuljahr reichten vollkommen. Manchmal waren auch Jungs dabei, obwohl er Mädchen bevorzugte. Es ließ sich nicht immer vermeiden. Und es wäre aufgefallen. Man musste die lästige Dreingabe in Kauf nehmen. So wie Tisbe zu Cenerentola gehörte. Für den Anfang.

Goldlöckchen erwiderte sein Lächeln, während ihre hässliche Stiefschwester antwortete.

»Madeleine hat es uns gesagt.«

Schau an! Die holde Principessa. Was für eine komödiantische Verwicklung! Seine Mundwinkel zogen sich noch mehr in die Breite. Die entzückende Prinzessin hatte natürlich auch bei Frau Siebdraht Latein gehabt. Bei Heidi, der ›Expertin‹ für alte Sprachen. Wie konnte es anders sein. Wahrscheinlich waren Cenerentola und Tisbe sogar mit ihr in einem Kurs. In einem Kurs gewesen, ergänzte er im Geist.

»Sie hat sich im letzten halben Jahr sehr verbessert. Durch Ihre Hilfe.« Goldlöckchen verband ihre beiden Sätze mit einem koketten Augenaufschlag. Sie gefiel ihm immer besser.

»Eigentlich wollte Madeleine zu dem Gespräch mit Ihnen mitkommen.« Tisbe hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet, während sie sprach. Ein verführerischer Augenaufschlag hätte bei ihr auch lächerlich ausgesehen. Also versuchte sie es gar nicht erst. Wer weiß, ob sie diese Kunst überhaupt beherrschte. »Aber sie ist heute nicht da. Vielleicht ist sie krank.«

»Und da habe ich zu Steffi gesagt«, Cenerentola schaute kurz zu ihrer verdrießlichen Begleiterin, »wir schaffen das auch ohne Madeleine.«

Tisbe hieß also Steffi. Nomen est omen. Plump und bäurisch hörte sich das an. Ein Allerweltsname. Unmodern. »Eigentlich habe ich keine freien Kapazitäten mehr.« Der Lehrer machte eine Pause und wartete auf die Reaktion der beiden ungleichen Mädchen. Tisbe-Steffi schaute weiter mürrisch nach unten, als habe sie es geahnt. Cenerentola dagegen – wie mochte sie richtig heißen? – blickte ihm fest in die Augen und versuchte es mit einer bittenden Schnute. Unwiderstehlich.

»Na gut. Lassen Sie mich nachschauen.« Er nahm seinen Lehrerkalender, klappte ihn auf und fuhr die Spalten entlang. »Wie sieht es am Donnerstag bei Ihnen aus?«

»Da haben wir nach der siebten Stunde Schluss.« Der Goldengel strich sich eine federnde Locke aus dem Gesicht.

»Nach der siebten. Hm...« Der Lehrer schaute weiter in seinen Kalender und tat noch ein bisschen abwägend, obwohl er seinen Stundenplan im Kopf hatte. Aschenbrödel und ihre hässliche Stiefschwester sollten nicht den Eindruck gewinnen, es sei ein Kinderspiel, ihn für Nachhilfestunden zu gewinnen. Zumal sich das Schuljahr schon dem Ende zuneigte. Es war eigentlich schon zu spät, schlechte Leistungen auszugleichen und Wissen nachzuholen. Er sah hoch und vertiefte sich in die grünen Augen. Sehr attraktiv die kleine Schlange. Und sie wusste genau, wie sie auf Männer wirkte.

»Dann schlage ich folgendes vor. Sie kommen Donnerstag nach der siebenten Stunde hierher. Dann besprechen wir die Einzelheiten und was wir in der kurzen Zeit noch tun können.« Sie würden ungestört sein. Heidi war krank und Hans-Jürgen hatte donnerstags zeitig Schluss.

Seine ersten Nachhilfestunden fanden immer in der Schule statt. Später, wenn man sich vertrauter geworden war, durfte die Auserwählte ihn auch zu Hause besuchen. Wenn die störende Freundin es aufgegeben hatte und lieber wieder allein lernen wollte. Und wenn er sicher sein konnte, dass die Auserkorene ihre Privilegien nicht an der falschen Stelle ausplauderte.

So war es bei der Principessa gewesen. Und so würde es auch jetzt wieder sein.

Cenerentola klatschte in die Hände. »Vielen, vielen Dank, Herr Kippling. Danke!«

»Nichts zu danken. Kommen Sie am Donnerstag hierher. Pünktlich. Und nun –«, er klappte den Kalender mit einem lauten Geräusch zu, »entschuldigen Sie mich. Ich habe noch zu tun.« Ein abschließendes Lächeln. Unverbindlich. Die süße kleine Cinderella würde in drei Tagen wiederkommen. Mit ihrer unerquicklichen Freundin Tisbe. Und der Lehrer würde anfangs die warzige Kröte schlucken, um in den Genuss der Gesellschaft des Rauschgoldengels zu kommen. Nach und nach konnte man diese dann aus den gemeinsamen Treffen verdrängen. Unauffällig und vorsichtig. Bis Goldlöckchen ihm allein gehörte.

Sein Wolfsgrinsen wollte hervorkommen. Er unterdrückte es sofort.

»Auf Wiedersehen!« Der Rauschgoldengel drehte sich noch einmal um, während Steffi Tisbe schon hinausschlurfte. Sie sah nicht nur abschreckend aus, sie hatte auch keine Manieren.

Er hob kurz die Hand. Nur nicht zu freundlich am Anfang. Alles zu seiner Zeit. Cenerentola wandte sich zur Tür und der Lehrer gestatte sich noch einen abschiednehmenden Blick auf das kleine feste Hinterteil.

Wirklich sehr hübsch.

Er sah auf das ultramarinblaue Zifferblatt seiner Armbanduhr. Kurz vor halb drei. Es wurde Zeit, die ehrwürdigen Gemächer zu verlassen, und sich auf die Einkaufstour zu begeben.

Auf dem dunklen Gang herrschte die gewohnte nachmittägliche Stille und der Lehrer genoss die Ruhe.

Tagsüber wimmelte es hier von kreischenden, sich gegenseitig schubsenden und balgenden Schülern. Besonders die Kleinen mit denen er so gar nichts anfangen konnte, waren wie wildgewordene Ratten. Sie wuselten durcheinander, schrieen und tobten. Kannten keine Normen und grüßten nicht. Wenn sie ihm vor den Füßen herumdrängelten, verspürte er oft das unwiderstehliche Bedürfnis, sie zu treten. Ein- oder zwei Mal hatte der Lehrer einen von ihnen auch schon wie zufällig angerempelt, so dass der dumme Bankert gegen die Wand oder noch besser gegen die scharfen Kanten der Schließfächer geprallt war. Wenn er sich dann, ganz bestürzt über das Ungemach, bei dem verblüfften Balg entschuldigte, war es schwierig, sich ein Grinsen zu verkneifen.

Sie schauten immer so überrascht. Zutiefst getroffen, als habe der Lehrer ihnen etwas Böses getan, und kamen gar nicht auf die Idee, dass sie selbst schuld waren. Ein nettes Spielchen. Ansonsten war er froh, mit den kleinen Dummköpfen nichts zu tun zu haben. Ihm waren die älteren, lernwilligen Schüler lieber. Sie begriffen die schlichte Schönheit der lateinischen Satzkonstruktionen. Sie verstanden das klare Ebenmaß römischer und griechischer Staatskunst. Sie folgten seinen Ausführungen aufmerksam und lachten über seine Pointen. Nicht alle vielleicht. Aber es gab einige unter ihnen, die den Scharfsinn und Witz seines Unterrichts zu schätzen wussten. Und das reichte. Die anderen hielt er mit strengen Kontrollen im Zaum.

Der Lehrer schloss die Glastür zum Gang hinter sich und blickte die geschwungene Treppe nach oben. Sein Kollege Jens, der zerstreute Chemielehrer, stolperte die Stufen hinunter und winkte ihm fahrig zu. Die struppigen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Seine leichte Stoffjacke, mindestens zwei Nummern zu groß, flatterte um die Schultern wie ein Umhang. Er kam näher, fuhr sich durch die Haare, sodass sie noch widerborstiger wurden, und grinste nervös. Seine ganze Körpersprache hatte etwas von einem tollpatschigen jungen Hund.

»Hallo Wolf. Auch Feierabend?« Der rastlose Kollege streckte den Arm aus und wäre dabei fast über die letzte Stufe gestolpert. Seine Hand fühlte sich weich und schlaff an. Wie totes Fleisch. Nur wärmer. Obwohl – frisches totes Fleisch war ja auch nicht kalt. Er schenkte dem Mann ein aufmunterndes Lächeln und löste seine Rechte angewidert aus dem schwammigen Griff. »Genau. Feierabend.« Der Lehrer nickte und sie setzten sich gemeinsam in Richtung Schulhof in Bewegung. »Weil ich dich gerade treffe, Jens«– er machte eine kurze Pause, schaute zur Seite und ankerte einen Moment in den Augen des Kollegen, »kann ich dich gleich etwas Fachliches fragen.«

»Nur zu. Was willst du wissen?« Der Chemielehrer erwiderte den Blick, kam ins Taumeln und klammerte sich in der letzten Sekunde an das hölzerne Geländer.

»Kann man hartnäckige Verschmutzungen in der Toilette mit Salzsäure entfernen?« Er bedauerte den Satz noch im selben Augenblick. Auch, wenn der Chemielehrer ein zerstreuter Professor war und Persönliches sofort wieder vergaß, konnte man nie wissen, ob es ihm nicht im richtigen Zusammenhang wieder einfiel. Aber nun war die Frage gestellt. Ein Rückzug hätte für Verwirrung gesorgt.

»Meinst du mit Verschmutzungen Kalkstein?«

Nein, ich dachte da mehr an organische Abfälle, hätte der Lehrer ihm am liebsten geantwortet. Blut, Gewebe, Haare. Alles, was so nach dem Zerstückeln einer Leiche im Wischwasser herumschwimmt. »Ich weiß auch nicht so genau, um was es sich handelt. Ich bin ja kein Chemiker.« Er zwinkerte. »Du bist der kompetente Mann für so was.« Eine kleine Schmeichelei konnte nie schaden. Die Kollegen mochten es, wenn man ihr Fachwissen betonte.

»Also, wenn du nicht sicher bist, was es ist«, der Chemielehrer fuhr sich durch die Haare und hüpfte voran »dann kannst du folgendes versuchen. Salzsäure löst Anorganisches, zum Beispiel Kalkstein prima auf. Du kannst auch Essigessenz nehmen. Mach es in einem Topf heiß und schütte es in die Toilette. Dann ein paar Stunden einwirken lassen. Also; nicht gleich spülen.« Jens war in seinem Element. Er liebte es, chemische Sachverhalte anschaulich zu erklären. Und die Schüler liebten seinen Unterricht. Gerade, weil er so zerstreut war, geschahen oft kleine ›Unglücke‹. Apparaturen flogen auseinander, Reaktionen fielen heftiger aus als erwartet. Es war immer spannend.

Der Chemielehrer warf sich wie ein Hundertmeterläufer kurz vor dem Zielstrich nach vorn, hangelte nach der Türklinke und stemmte sich dann mit der Schulter gegen die schwere Tür zum Schulhof, während er unentwegt weiter gute Ratschläge gab. »Wenn es jedoch eher organisch ist, du weißt schon... sozusagen Überreste von Ausscheidungen...« Er zuckte mit den Augen. Es sollte wohl ein Zwinkern sein. Nicht einmal das konnte der Mann richtig.

»...dann nimmst du besser eine Lauge. Simpler Rohrreiniger reicht vollkommen aus. Bloß nicht Essig und Rohrreiniger gleichzeitig oder kurz nacheinander einsetzen.« Jens schaute ihn grinsend an, blieb mit der Fußspitze an einem Stein hängen und taumelte zwei Schritte nach vorn. »Dann fliegt dir nämlich das ganze Klo um die Ohren. Und wenn du Rohrreiniger nimmst, dann spüle auf keinen Fall mit sehr heißem Wasser nach. Es wird von ganz allein warm da drin. Das Wasser im Abflussrohr kann sogar kochen. Plastik wird weich und schmilzt. Und das wollen wir doch nicht, oder?« Er fummelte in seiner Jackentasche nach dem Autoschlüssel. »Alles klar soweit?«

»Ja. Danke für deine ausführlichen Erläuterungen. Das war sehr hilfreich.«

Der Kollege nickte erfreut. Die Ironie in den Worten des Lehrers verstand er nicht. »Prima. Du kannst mir ja dann berichten, wie es gewirkt hat.« Er drehte sich um, streckte den Arm in Richtung seines Autos und drückte den Türöffner. »Schönen Feierabend noch, Wolfram!«

»Dir auch!« Was für ein Chaot! Und dann dieses formelle ›Wolfram‹! Das würde der zerstreute Mann wohl nie begreifen. Der Lehrer zog eine Grimasse, nickte dem Rücken des Kollegen abschiednehmend zu und begab sich zu seinem Wagen.

Vor der Drogerie waren alle Parkplätze besetzt und es waren zwei Runden um den Block nötig, ehe sich eine Lücke fand. Er hatte beschlossen, fünf Flaschen ›Rohrfrei‹ an fünf verschiedenen Orten zu besorgen. Drei Drogerien, zwei Supermärkte. Es war günstiger, immer das gleiche Fabrikat zu kaufen. Vielleicht mischten sich die Produkte verschiedener Hersteller nicht richtig. Lieber kein Risiko eingehen. Essigessenz würde er dagegen nicht brauchen. Säure löst Anorganisches‹, hatte Jens gesagt. Das traf bei ihm nicht zu.

Dann nach Hause. Nochmalige Reinigung des Bades. Befüllen aller Abflüsse mit reichlich Lauge. Heute die erste Flasche. Morgen die zweite. Übermorgen die dritte. Und so weiter. Bis nichts mehr übrig war. Er öffnete die Tür und stieg aus. Im Drogeriemarkt herrschte gähnende Leere. Der Lehrer nahm sich Zeit und schlenderte gemächlich durch die Gänge. Es war besser, den gesuchten Artikel selbst zu finden, statt danach zu fragen. Zusätzlich würde er noch ein paar andere alltägliche Dinge kaufen. Zum Beispiel Rasierklingen. Trockenrasur war etwas für Weicheier. Davon abgesehen war es keine gründliche Methode. Zahnpasta konnte man auch immer gebrauchen. Und Toilettenpapier und Tempotaschentücher.

An der Kasse schwätzte eine dicke Frau mit der Kassiererin über das ›wundervolle‹ Wetter. Der Lehrer schob seinen Wagen dicht an den Rücken der redseligen Matrone, drehte sich um und schaute mit gedankenverlorenem Blick auf die Regale an der hinteren Wand des Geschäfts.

Dann schob er mit einem kräftigen Ruck das Vorderteil des Einkaufswagens gegen das fette Hinterteil der Klatschtante und lauschte erfreut ihrem schmerzlichen Ächzen, als der Metallkäfig sie rammte.

»Oh, entschuldigen Sie bitte...«. Sein zerknirschter Tonfall enthielt keine Schadenfreude. »Ich war in Gedanken.« Die Maske des verträumten Professors wandte sich wie eine Leinwand dem Gesicht der Geschundenen zu und lächelte reumütig.

Der zum Protest aufgerissene Mund der dicken Frau entblößte eine Reihe schiefstehender schmutziggelber Zähne. Sie schnappte nach Luft und presste dann die Lippen aufeinander. Der Mann hatte sich entschuldigt. Es war ein Versehen. Sie beeilte sich, ihre Utensilien einzupacken und flüchtete aus dem Laden. Der Lehrer bezahlte, ließ sich eine Tüte für die Kleinigkeiten geben, klemmte das Toilettenpapier unter den Arm und schritt schwungvoll die Stufen hinunter. Seine Laune war hervorragend. Ein kleines Späßchen am Nachmittag erfrischte die vom Schulstress strapazierten Nerven. Er stapelte seine Einkäufe sorgfältig in die Klappkiste im Kofferraum und setzte sich dann hinter das Steuer. Ordnung war das halbe Leben.

Die feiste Matrone hatte ihn an Tisbe-Steffi erinnert. Beides vom Leben benachteiligte Kreaturen. Dummheit konnte man verbergen, Hässlichkeit blieb zeitlebens ein Makel. Die entzückende Cenerentola schwebte in seinen Gedanken heran und verteilte goldfunkelnden Zauberstaub in der Luft. Smaragdgrün leuchteten ihre Augen. Die Löckchen wippten schelmisch. Die Erinnerung an das Gespräch mit den beiden ungleichen Freundinnen war hell und sonnig.

›Eigentlich wollte Madeleine zu dem Gespräch mit ihnen mitkommen. Aber sie ist heute nicht da. Vielleicht ist sie krank.‹

Vielleicht ist sie krank, hatte die garstige Tisbe gesagt.

Vielleicht ist sie aber auch tot. Seine Eckzähne schoben sich beim Grinsen über die Unterlippe. Er musste darüber nachdenken, wie man falsche Fährten legen konnte. Nicht erst morgen. So bald wie möglich. Wohin konnte ein Teenager verschwinden? Würde ein Mädchen Lebenszeichen geben? Vielleicht nicht an die untauglichen Eltern, aber an eine Freundin? Was konnten das im Zeitalter von Handys und Internet für Lebenszeichen sein? Und was hatten die Erziehungsberechtigten bis jetzt unternommen? Wurde die Principessa schon offiziell gesucht? Mädchen in dem Alter liefen ja auch manchmal von zu Hause weg, weil sie den autoritären Druck nicht mehr aushielten. In der Schule schien man jedenfalls zu glauben, sie sei krank. Der Lehrer nahm sich vor, am Dienstag den für die Principessa verantwortlichen Tutor unauffällig auszuhorchen. Schüler der Abiturstufe waren verpflichtet, sich innerhalb von drei Tagen krank zu melden. Möglichst mit Krankenschein. Es gab Kollegen, die penibel auf die Einhaltung solcher Festlegungen achteten. Und es gab Kollegen, denen das egal war. Er würde sich die nächsten Tage öfter als sonst im Lehrerzimmer aufhalten müssen.

Und sein Interesse musste unbedingt beiläufig wirken.

Der Zündschlüssel drehte sich im Schloss und eifrig begann der Motor zu brummeln. Ein Teenager war ausgebüxt und wollte dies einer Freundin mitteilen. Wie konnte sich das Mädchen bemerkbar machen, ohne sich zu verraten? Während der Fahrt zur nächsten Drogerie würde er über die glaubwürdigsten Varianten nachdenken.

Leichenstarre

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