Читать книгу Leichenstarre - Claudia Puhlfürst - Страница 12

9

Оглавление

Stefanie hob abschiednehmend die Hand und sah Maren noch einen Augenblick mit zusammengekniffenen Augen nach. Die Freundin lief schwungvoll durch den Park. Voller Elan, verliebt in den Frühling und in sich selbst. Goldgrünes Licht flirrte durch das Astwerk der Bäume, brach sich an den frischen, unverbrauchten Blättern und huschte tüpfelnd über ihre schmale Gestalt. Der Zopf wippte im Takt ihrer Schritte. Stefanie seufzte leise. Maren war so wunderbar. So zierlich und grazil. Sie bewegte sich elegant. Sie flirtete gern. Sie konnte jeden Jungen dazu bringen, sich in sie zu verlieben.

Manchmal hasste Steffi Maren dafür.

Die Freundin drehte sich noch einmal um und winkte, bevor sie um die nächste Ecke bog. Dann schoben sich zwei mächtige Rhododendronbüsche ins Bild. Stefanie ließ resigniert die Mundwinkel nach unten sinken, hängte sich ihre große Ledertasche quer über die Schulter und marschierte los.

Nachhilfe in Latein! Als ob sie das nötig gehabt hätte! Aber Maren hatte so lange gedrängelt und gebohrt, sie möge doch mitkommen, dass sie schließlich nachgab. Die Freundin verehrte Herrn Kippling und bedauerte es mindestens dreimal in der Woche, dass sie nicht in seinem Kurs gelandet war.

Stefanie konnte das Gejammer nicht mehr hören. Er ist ja soo süß! Hast du gesehen, was für einen knackigen Hintern er in der neuen Jeans hat? Diese Augen! Ich liebe seine Hände. Die Finger sind schmal und doch kräftig. Er ist sooo klug und geistreich. Warum nur mussten wir diese stupide Siebdraht kriegen? Er ist bestimmt auch sportlich. Und immer höflich und nett. Und dann seufzte Maren herzerweichend.

Und so ging es die ganze Pause hindurch weiter. Süß, hübsch, gut aussehend, Seufz. Blablabla.

Als ob es darauf ankam, wie jemand aussah! Gut, es stimmte, Kippling war kompetent und besser als Frau Siebdraht. Alle wussten das. Seine Schüler bewunderten ihn. Zumindest die Mädchen.

Und es stimmte auch, dass die Siebdraht in manchen Stunden weniger zu wissen schien, als ihre Schüler. Sie ließ sich aufs Glatteis führen und merkte es nicht einmal. Aber sie waren nach der Zehnten in die Kurse aufgeteilt worden und hatten sich weder ihren Tutor noch die Lehrer für ihre gewählten Kurse aussuchen können. Stefanie konnte diese Vorgehensweise nachvollziehen, auch wenn sie es nicht besonders gerecht fand. Würden nicht sonst alle Schüler einigen wenigen Lehrern die Bude einrennen? Denen, die beliebt waren, denen, die mit reichlich Punkten nicht zögerlich umgingen; denen, die ein Auge zudrückten? Es waren nicht unbedingt die Strengsten, die gefragt waren. Man musste sich mit dem System arrangieren. Punkt. Maren hätte auch mit ihr üben können. Aber das war nicht gut genug. Kippling musste es sein. Kippling der Charmeur. Nicht, dass er die Hübschen bevorzugte. Er war zu allen gleich bleibend nett und geduldig. Stefanie hatte ein feines Gespür dafür, wenn weniger Gutaussehende vorgezogen wurden. Sie stolperte über eine Wurzel, die sich quer über den gekiesten Weg wand, und richtete ihren Blick nach unten. Der Park um den Schwanenteich war im Frühling am schönsten. Das frische Grün verströmte berauschende Düfte. Amseln und Meisen zwitscherten beschwingt. Die Luft fühlte sich samtig an und streichelte die nackte Haut von Armen und Gesicht.

Und so hatte sich Steffi breitschlagen lassen, den Lateinlehrer gemeinsam mit Maren um seine Hilfe zu bitten. Madeleine gab schließlich den Ausschlag dafür. Sie habe schon seit einem halben Jahr bei ihm Nachhilfe, hatte sie letzte Woche in einer gemeinsamen Freistunde erzählt. Kippling nehme sich Zeit und könne gut erklären. Sie habe sich schon deutlich verbessert. Er sei ein wunderbarer Lehrer.

Und ein wunderbarer Schleimbeutel dachte Steffi, sprach es aber nicht laut aus.

Madeleine hatte ihnen versprochen, zu dem Gespräch mitzugehen, um sie zu empfehlen. Herr Kippling könne nicht allen, die ihn darum baten, Nachhilfeunterricht geben. Er sei schon überlastet. Sie würde ihnen helfen, ihn zu überreden. Stefanie hatte noch bis zum Wochenende darüber nachgedacht, ob sie sich das wirklich antun solle und dann zugesagt. Maren war heute Morgen hocherfreut gewesen. Sie hatte in solchen Fällen gern einen Beistand an ihrer Seite. Zumindest am Anfang. Eine moralische Krücke.

Marens Krücke, wie passend. Steffi nickte sich selbst zu. Genau das war sie. Ein verkrüppeltes Stück Holz mit schorfiger Rinde. Ein nützliches Requisit. Sie lief schneller. Das nützliche Requisit würde in den ersten Stunden hilfreich sein und sich dann zurückziehen. Wenn die Gehhilfe weg war, konnte sich Kippling ungestört der hübschen Freundin widmen.

Gehhilfe – Gehilfin. Zwei ähnliche Worte mit unterschiedlicher Bedeutung. Wahrscheinlich entstammten sie dem gleichen Sinnzusammenhang. Ganz sicher sogar. Stefanie liebte Worte und ihre Herkunft. Ein faszinierender Zeitvertreib.

Kippling würde mit Sicherheit schnell durchschauen, dass sie keine Nachhilfe nötig hatte. Vielleicht wusste er es sogar jetzt schon. Vorhin, ganz am Ende des Gesprächs, als sie schon im Aufbruch begriffen waren, hatte er einen Moment lang gelächelt. So, als wisse er über alles Bescheid. Es war irgendwie seltsam. Dieses kurze Grinsen hatte ihr Angst eingejagt. Es hatte ausgesehen, als seien in seinem Mund Hunderte spitzer Reißzähne. Das Lächeln war sofort wieder verschwunden. Sie konnte sich auch getäuscht haben. Der Lehrer war ein netter und freundlicher Mann. Seine Schüler verehrten ihn.

Aber wieso hatte er gesagt, erkenne Madeleine nur flüchtig? Sie war doch bei ihm zu Nachhilfestunden gewesen. Das hatte sie letzte Woche persönlich erzählt. In aller Ausführlichkeit. Nun gut, kennen und kennen war zweierlei. Der Lehrer hatte damit bestimmt gemeint, er kenne sie nicht persönlich. Und wo zum Teufel steckte Madeleine heute eigentlich?

Stefanie wühlte in ihrer unübersichtlichen Tasche nach dem Schlüssel. Es war nicht bedeutsam. Sie würde jetzt in aller Ruhe eine Pizza in die Mikrowelle stellen und eine Diät-Cola dazu trinken. Das war die beste Art, sich zu entspannen. Das Mädchen öffnete die Haustür und verschwand im Innern des dämmrigen Hausflurs.

Leichenstarre

Подняться наверх