Читать книгу Leichenstarre - Claudia Puhlfürst - Страница 9

6

Оглавление

»Guten Morgen, der Herr.«

Die zu laute Stimme hinter ihm hatte einen pikierten und gleichzeitig fordernden Unterton. Der Lehrer musste sich gar erst nicht umblicken, um zu wissen, wer die beleidigte Frau war. Eine seiner ›Lieblingskolleginnen‹. Frau Obst. Sie stand wie immer montags früh in ihrer Vorzugsnische herum, den Rücken an die Wand gelehnt, und tat so, als mache sie Aufsicht. Und nun hatte er sie übersehen und sie fühlte sich zutiefst gekränkt.

Dabei war es heute nicht einmal absichtlich geschehen. Seine Gedanken kreisten um ganz andere Dinge. Es gab viel zu bedenken und vorauszuplanen. Da konnte es schon passieren, dass man jemanden nicht wahrnahm. Er setzte sein ›Ist-das-nicht-ein-wunderbarer-Morgen-Gesicht‹ auf und drehte sich zu ihr um.

»Ebenfalls einen guten Morgen! Ich habe Sie gar nicht bemerkt.«

Frau Obst hatte misstrauisch die Unterlippe vorgeschoben. Nur wenige Kollegen waren nett zu ihr. Der Lehrer ging einen Schritt auf sie zu, um ihre schlaffe Hand zu schütteln und betrachtete sie mit den Augen der hereinströmenden Schüler.

Die auftoupierten Haare glichen einem Krähennest. Rund um das Gesicht hingen plattgedrückte Kringel herunter, hinten bauschte sich struppiges Geäst. Die Frisur ältlicher Frauen von Mitte fünfzig. Und was sie wieder anhatte! Der Lehrer verkniff sich ein Grinsen. Kein Wunder, dass die Schüler sie für eine alte Jungfer hielten. Der hellgrüne Pullover war eine Nummer zu klein und verbarg die Speckrollen in der Mitte sein Verstand weigerte sich standhaft, dies als Taille zu bezeichnen nur ungenügend.

Der braune Rock bedeckte gerade mal die Knie. Die sehnigen Waden mit den schwarzen Härchen verursachten ihm Brechreiz. Davon konnten auch die himbeerfarben lackierten Fußnägel nicht ablenken. Er schwenkte seine Augen schnell wieder nach oben und strahlte mit breitgezogenem Mund in das von reichlichem Alkoholgenuss aufgedunsene Gesicht. »Wir sehen uns nachher sicher im Lehrerzimmer, Frau Obst.« Sie nickte ihm gnädig zu und ließ ihre Hand wie einen toten Vogel nach unten fallen.

Der Lehrer drehte sich um und rollte im Gehen die Augen nach oben. Eine große blonde Schülerin, die, ihm entgegenkommend seine Grimasse sah, zwinkerte verschwörerisch und zog den Mundwinkel hoch. Er blinzelte zurück. Jetzt war sein Lächeln echt.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Gazelle an Frau Obst vorbeischritt und ihre langen glatten Haare mit einer eleganten Kopfbewegung nach hinten schwang. Im letztmöglichen Moment schmetterte sie ein zu lautes ›Guten Morgen !‹ heraus.

Du kleine Schlange, dachte der Lehrer liebvoll und nahm sich vor, den Namen der stolzen Blondine herauszufinden.

Seine Kollegin zog einen Flunsch. Sie musste beim täglichen Anblick dieser jungen, schlanken, wunderschönen Mädchen mit den langen, seidenweichen Haaren unter entsetzlichem Frust leiden. Jeden Tag aufs Neue.

Der Lehrer lief schneller und entspannte seine Gesichtszüge. Nun würde er für ein paar Stunden nichts anderes als ein netter, fachkundiger, kameradschaftlicher Lehrer sein.

Persona.

Die Maske oder die Rolle im römischen Theater. Seine Persona war ab jetzt die des kompetenten, geachteten Lehrers.

Im Lehrerzimmer herrschte geschäftiges Treiben. Die meisten Kollegen hatten mit sich zu tun. Sie studierten Vertretungspläne, lasen Aushänge, trugen Noten in Listen ein oder malträtierten den altersschwachen Kopierer. Der Lehrer grüßte sie alle liebenswürdig. Manche bekamen einen Handschlag mit ein paar belanglosen Floskeln, andere nur ein knappes Nicken. Jeder, wie er es wünschte. Der Lehrer war ein beliebter Kollege. Stets höflich und freundlich. Hilfsbereit. Terminarbeiten wurden fristgemäß erledigt. Man mochte ihn.

Er nahm seine Kursbücher aus dem Fach für die Oberstufe, verließ den summenden Bienenstock und eilte durch das belebte Schulhaus zu seinem Vorbereitungszimmer. Der Sommer war eine wunderbare Jahreszeit. Wohlgefällig streiften seine Augen im Vorübergehen die kurzen Röcke der Schülerinnen. Glitten über lange, gerade Beine, blieben an runden, festen Hinterteilen hängen. So viele junge, knackige Mädchen auf einmal.

Es war eine Augenweide für jeden halbwegs normalen Mann. Gut, manche waren hässlich, fett oder unproportioniert, aber die konnte man ja übersehen. Keiner zwang einen, diese unglücklichen Wesen zu betrachten. Das Gymnasium hatte 800 Schüler und Schülerinnen. Es gab genug andere. Und jährlich kamen neue hinzu, wuchsen kleine Mädchen zu Schönheiten heran.

Im Vorbereitungszimmer blubberte bereits die Kaffeemaschine. Sein Kollege Hans-Jürgen Karlsson, genannt Hansi, sah es als Hauptaufgabe an, jeden Morgen vor dem Unterricht für das Wohlergehen seiner Fachkollegen zu sorgen. Keiner verlangte das von ihm. Der Lehrer frühstückte zu Hause ausgiebig, aber wenn der Kollege das so wollte, bitte sehr. Kein Problem. Seit Jahren war es ein fest gefügtes Ritual. Hansi erschien auch dann zur ersten Stunde, wenn er erst später mit dem Unterricht begann. Vielleicht gefiel es ihm zu Hause nicht. Wahrscheinlich war seine Frau ein Dragoner. Das war die Strafe dafür, wenn man zu zeitig irgendeine Tussi heiratete, die sich einem an den Hals warf. Dann saß das Weib jeden Tag im gemachten Nest und wartete, bis der Ernährer nach Hause kam und sie von ihrer Hausfrauen-Langeweile erlöste.

Die Zwischentür zum Klassenzimmer öffnete sich schwungvoll und Hansi spazierte herein. Sein Gesicht strahlte. Vielleicht war seine Frau auch supernett. Und er freute sich jeden Tag aufs Neue, weil er einfach gern in der Schule bei den Kollegen war. Es spielte keine Rolle.

»Einen wunderschönen Morgen mein lieber Wolfram!« Der Kollege streckte schon aus fünf Metern Entfernung die Hand aus. Der Lehrer hasste seinen altmodischen Vornamen. Er ließ sich Wolf nennen. Das klang durchsetzungsfähig und prägnant. Und ein bisschen beunruhigend. Respekteinflößend. Eine dünne Schicht Tünche über dem Raubtiergesicht. Von dem nur wenige wussten. Er rief sich zur Räson.

Persona.

Wolf, der sympathische Lateinlehrer, schüttelte die Hand seines Kollegen. »Guten Morgen Hans-Jürgen.« Nicht ›Hansi‹. Wie du mir, so ich dir. »Trinken wir einen Schluck Kaffee und bereiten uns seelisch und moralisch auf den Montag vor.« Er löste seine Hand aus der Umklammerung des Kollegen und griff nach der Tasse. Sie setzten sich nebeneinander an ihre Schreibtische.

»Heidi ist noch krank?« Der Lehrer sah in Hansis glattrasiertes Gesicht.

Dieser nickte heftig.

»Aber klar doch. Wir sind heute früh die beiden Einzigen, die richtig arbeiten.« Hansi grinste. Er liebte seinen Job.

Die nächsten zehn Minuten machten sie belanglose Konversation. Jeden Montag das gleiche Geschwafel. Bla bla bla. Das blecherne Scheppern der Klingel bereitete dem Geschwätz ein Ende. Der Lehrer stellte die Tasse in die Spüle, griff nach seiner Ledermappe, straffte den Rücken und betrat das Klassenzimmer.

Da waren sie ja alle. Seine Schäfchen. Der Elfer-Grundkurs.

Der sympathische Lateinlehrer trat hinter sein Pult, stemmte beide Handflächen auf die Tischplatte und beugte sich leicht nach vorn. »Guten Morgen meine Lieben.« Die Schüler der Sekundarstufe II brauchten sich bei ihm zu Stundenbeginn nicht zu erheben. Es reichte, wenn sie ruhig auf ihren Plätzen saßen.

Er ließ seine Blicke langsam von Gesicht zu Gesicht wandern. Jeder sollte das Gefühl haben, persönlich begrüßt zu werden. Sie wirkten erschöpft. Für die Jugendlichen war nicht das Wochenende die Zeit der Muße, sondern die Woche. Hier, in diesem Gebäude, erholten sie sich von den Strapazen langer Nächte. Von zu viel Alkohol, Zigaretten, Ecstasy. Von Nachtvorstellungen im Kino, Diskobesuchen bis in die frühen Morgenstunden.

Zwei von den Jungs fehlten. Sie fehlten fast jeden zweiten Montag. Wahrscheinlich hatten sie noch nicht ausgeschlafen. Der Lehrer trug die ihnen zugeordneten Ziffern in sein Kursbuch ein. Es war ihm gleichgültig. Sollten sie ihren Schönheitsschlaf halten. Sie würden sehen, was sie davon hatten. In der nächsten Klausur.

Und sie waren nicht die Einzigen, die heute Morgen nicht anwesend waren. In irgendeinem anderen Kurs würde jetzt ein Kollege den Namen der Principessa aufrufen. Um dann die ihr zugeordnete Nummer in sein Buch einzutragen. In der sicheren Gewissheit, sie habe noch nicht ausgeschlafen.

Seine süße Prinzessin. Die Liebe seines Lebens. Sie brauchte sich keine Sorgen mehr um fehlenden Schönheitsschlaf zu machen. Sie konnte jetzt ruhen, solange sie wollte. Oder besser, das, was von ihr noch übrig war.

Und nun an die Arbeit. Der Lehrer schenkte seinen Schülern ein strahlendes Lächeln.

Kugelschreiber glitten über Seiten. Langsam wanderte er von Bank zu Bank. Warf prüfende Blicke auf das Geschriebene. Kontrollierte den Fortgang der Übersetzung. Am Fenster blieb er stehen und sah hinaus.

Der Hausmeister zerrte große blaue Müllsäcke mit Abfall über den Schulhof zu den Containern an der Mauer. Es war nicht leicht, solche unförmigen Behältnisse zu transportieren. Schließlich sollte der Inhalt darin bleiben und nicht durch eine ungeschickte Bewegung, ein Hängenbleiben an einer scharfen Kante, herausquellen. Der Hausmeister war ein kleiner, schlanker Mann. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, die riesigen Beutel in die Abfallbehälter zu hieven. Er mühte sich redlich. Vielleicht steckten die beiden fehlenden Schüler darin. Der Lehrer kicherte unhörbar. Duplizität der Ereignisse! Was für eine aberwitzige Vorstellung!

Seine Müllsäcke waren schwarz gewesen. Und zum Glück nicht so monströs groß. Und weil immer, immer – auch in der finstersten Freitagnacht – irgendwo jemand hinter den dunklen Fensterscheiben stand und die Umgebung beobachtete, war er froh, dass er seine Abfälle in zwei große Klappkisten gestapelt hatte. Er öffnete das Fenster. Die frische Morgenluft fächelte Kühle herein.

Der Lehrer lächelte hinunter und winkte. Der Hausmeister winkte zurück.

Leichenstarre

Подняться наверх