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Norbert war glücklich.

Alles lief wie geschmiert. Es gab ausreichend Aufträge für die nächsten Monate. Das Wetter war herrlich. Er hatte einen Parkplatz dicht vor der Haustür seiner Kollegin gefunden.

Norbert warf seinen Zigarettenstummel aus dem Autofenster und sah nach oben. Doreen würde gleich aus der Haustür treten und locker die Stufen herunterlaufen. Im Sommer trug sie oft einen Pferdeschwanz und sah damit wie eine Fünfzehnjährige aus. Und ihr Anblick würde ihm wie immer für einen kurzen Augenblick den Atem verschlagen.

Die schwere Holztür wurde aufgestoßen. Doreen machte einen Schritt nach draußen und blinzelte links und rechts die Bosestraße hinunter. Ihr dunkelgrüner Rock war entschieden zu lang. Norbert konnte gerade mal die Knöchel sehen.

Sehr schade. Seine Kollegin brauchte ihre Beine wirklich nicht zu verstecken. Sie hatte ihn erspäht, hob die Rechte und kam schnell näher. Einige vorwitzige dunkle Haarsträhnen hatten sich der Spange widersetzt und wehten beschwingt um ihren Kopf. Norbert beeilte sich, Luft zu holen und setzte ein neutrales Begrüßungsgesicht auf. Die Beifahrertür wurde schwungvoll aufgerissen. Doreen raffte ihren Rock ein paar Zentimeter nach oben,

Gut so. Mehr davon. setzte sich mit dem Rücken zu ihm hin und schwang dann mit einer Drehung beide Beine gleichzeitig herein.

»Guten Morgen Schönste. Du siehst hinreißend aus.«

»Alter Schmeichler.« Sie ließ ihre Zähne aufblitzen und wartete darauf, dass er ihr einen Begrüßungskuss auf die linke Wange drückte.

»Herrliches Wetter. Ich liebe das.« Norbert streckte seinen Arm aus dem Fenster und zeigte auf den Baum im Hof des Restaurants ›Levante‹. »Das frische Grün. Schon der Frühling war dieses Jahr außergewöhnlich. Viel Sonne, nicht zu warm.« Außergewöhnlicher Frühling, außergewöhnliche Frühlingsgefühle. Nur nicht bei ihm. Er sprach schnell weiter. »Eine wunderbare Jahreszeit. Und eine Auferstehung nach diesem furchtbar kalten und viel zu langen Winter.«

Eine Auferstehung? Doreen war über den Monolog erstaunt. Norbert neigte sonst nicht zu pathetischen Formulierungen oder weitschweifigen Auslassungen. Es musste das Wetter sein. Und er war noch nicht fertig.

»Wie die Luft duftet. Und du erst! Lecker!« Er blinzelte ihr spitzbübisch zu.

»Danke gleichfalls. Und nun hast du, glaube ich, genug Charme versprüht.« Sie zwinkerte zurück. »Fahr los, damit wir ins Büro kommen. Oder wollen wir den ganzen Tag hier vor meinem Haus im Auto verbringen?«

»Nein, nein, meine Herrin. Bimbo sofort losfahre. Wie Herrin es wünsche.« Norbert verneigte sich ruckhaft, ließ den Motor an und startete.

Kühler Fahrtwind fächelte um ihre Köpfe und Doreen kurbelte ihr Fenster hoch. Eine Erkältung fehlte ihr gerade noch.

»Halten wir beim Bäcker?« Sie stupste ihn am rechten Oberarm.

»Dein Wunsch ist mir Befehl.« Doreen sah von der Seite, wie er selig lächelte. Zuckrige Plätzchen, Hefekuchen mit Streuseln, Blätterteig mit Quark, Pfannkuchen mit Erdbeerkonfitüre. Das Schlaraffenland.

»Es war eine Frage, Norbert, kein Wunsch.« Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er hätte so oder so angehalten. Er hielt jeden Morgen dort an und brachte seine Beute mit ins Büro. Nur, dass sie nicht jeden Morgen mit ihm im Wagen saß.

Leider hatte ihr Auto vorletzte Woche den Geist aufgegeben. Man hatte ihr mitgeteilt, es sei reif für den Schrottplatz. Die arme alte Blechkiste. Für ein neues reichte das Geld hinten und vorne nicht.

Natürlich hätte sie mit der Straßenbahn fahren können. Oder bei schönem Wetter zu Fuß gehen. Aber Norbert fuhr gerne einen kleinen Umweg, um sie abzuholen. Sagte er.

Und so kam er jetzt fast jeden Morgen auf dem Weg in die Bahnhofsstraße zuerst bei ihr zu Hause vorbei. Nach dem Dienst fuhren sie manchmal noch gemeinsam zum Einkaufen oder gingen in die Pizzeria, bevor er sie heim chauffierte. Manchmal kam es Norbert vor, wie eine Beziehung. Mit seiner Frau hatte er in all den Jahren nie soviel Zeit verbracht.

Doreen schloss die Bürotür auf und zwang ihre Mundwinkel wieder nach unten. Hinter ihrem Rücken bemühte sich ihr Kollege, sein Schnaufen zu unterdrücken. Es sollte auf keinen Fall der Eindruck entstehen, Treppensteigen strenge ihn mehr an als sie. Auch wenn er einige Jährchen mehr auf dem Buckel hatte. Das war keine Entschuldigung. Er war ein alter, unsportlicher Trampel, der Kette rauchte und dringend abnehmen müsste, aber das musste ja nicht gleich jeder merken.

Goldgelbes Licht flutete durch den nüchtern eingerichteten Raum und fing sich flirrend im Spiegel über dem Waschbecken. Die Fensterscheiben hätten schon vor Wochen geputzt werden müssen. Doreen hatte keine Lust dazu. Norbert war es egal. Vielleicht fiel es ihm nicht einmal auf. Er hantierte mit der Kaffeemaschine und stellte Tassen bereit, während sie die staubigen Fenster öffnete.

Puderiger Fliederduft kringelte in durchsichtig violetten Wölkchen herein. Doreen sog ihren Brustkorb voll davon und ließ den Blick schweifen. Hinter ihr blubberte die Kaffeemaschine. Zwischen den Dächern schrieen sich die Mauersegler übermütig gegenseitig an. Die frisch gepflanzten Bäume vor dem Haus winkten ihnen mit ihren frischgrünen Fingern zu. Unten auf dem Gehweg eilte eine beschwingte Frau zu einem Rendezvous.

Norberts Stimme durchbrach die Idylle. »Der Kaffee ist fertig, Doreen.« Sie hörte ihn näher kommen. »Träumst du?« Seine Handfläche berührte ihr Schulterblatt und sie nahm Abschied von der beschaulichen Frühsommerwelt da draußen.

Das allmorgendliche Ritual hatte begonnen. Es war wie eine Opernaufführung in drei Akten.

Ouvertüre: Vorbereitung des Frühstücks.

Erster Akt. Das Frühstück.

Zweiter Akt: Planung weiterer Aktivitäten.

Dann ging es je nach Akt zwei unterschiedlich weiter. Manchmal blieben die Darsteller an Ort und Stelle. Und manchmal begaben sie sich an andere Schauplätze und agierten dort. Das Stück konnte jeden Tag anders enden. Das war nicht vorherbestimmt. Doreen war gespannt, was das Skript für heute vorgesehen hatte. Meist überließ sie Norbert den zweiten Akt. Er war der Stratege.

Der Stratege mümmelte schweigend an seiner Streuselschnecke und trank dazu Kaffee. Andächtige Ruhe. Nach außen hin wirkte es, als konzentriere er sich vollkommen auf das Gebäckstück. Aus Erfahrung wusste Doreen, dass der Schein trog.

Norbert stellte die Kaffeetasse zurück und wischte sich die Krümel vom Mund. Er war soweit.

»Erstens.« Sein Daumen zeigte nach oben. »Der Fall Möller. Den können wir abschließen. Wir vereinbaren einen Termin mit der Frau, übergeben die Beweise und präsentieren ihr die Schlussrechnung.«

Doreen sah die aufgedonnerte Ziege mit den dunkel umrandeten Lippen vor sich. Die brauchte sich wirklich nicht zu wundern, wenn ihr Mann sich eine Andere suchte. Sie war überheblich und unfreundlich gewesen und hatte die beiden Detektive wie Dienstpersonal behandelt. Wenn es nach Doreen gegangen wäre, hätten sie den Job gar nicht erst übernommen.

Aber Norbert hatte in der Beziehung ein dickes Fell. Es war eine Klientin. Sie konnten es sich finanziell nicht erlauben, Fälle wegen persönlicher Antipathien abzulehnen. Frau Möllers herrische Art war an ihm abgeprallt wie ein kleiner bunter Gummiball.

»Rufst du bitte bei ihr an und machst einen Termin aus?« Norbert zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf, nahm die vorbereitete Liste heraus und malte einen roten Kreis hinter den Namen Möller.

»Wenn es sein muss.« Doreen war nicht wirklich verärgert. Er hatte Recht. Sie mussten gar nicht erst darüber diskutieren. Sie wusste, dass die Begegnung mit Frau Möller, dieser arroganten Kuh, rein geschäftlich war. Und Norbert wusste, dass seine Kollegin sich beherrschen konnte. Sie schüttete den letzten Schluck lauwarmen Kaffee hinunter und verzog das Gesicht, weil ein paar Krümel dabei waren.

»Zweitens.« Norberts Zeigefinger erhob sich. Zusammen mit dem Daumen bildete er ein V. »Da wären diese Diebstähle in der Boutique. Das ist doch mal etwas Anderes, oder?« Er kniff das rechte Auge zu. Gleichzeitig zog sich wie bei einem Clown der rechte Mundwinkel kurz nach oben.

»Auf jeden Fall.« Doreen ahmte seine Fratze nach. Sie beide gaben ein schönes Paar Komödianten ab. »Das wird bestimmt spannend.« Sie zog auch den linken Mundwinkel noch hoch und verwandelte so ihre Grimasse in ein entzücktes Lächeln.

Norbert amüsierte sich darüber, ›spannend‹ fand sie es. So so. Von den schicken Klamotten und Accessoires in dem Geschäft ganz zu schweigen. Ein Paradies für jede Frau, die Kleidung, Schuhe, Schmuck und Taschen liebte. Und das taten sie doch alle.

Die Inhaberin, Frau Nürtig, war am Mittwoch ins Büro gekommen und hatte ihnen ihr Leid geklagt. Seit Wochen verschwänden fast täglich teure Bekleidungsstücke aus dem Geschäft. Die Angestellten waren zur Wachsamkeit ermahnt worden, hatten jedoch nichts Auffälliges bemerkt. Einen eigenen Detektiv konnte sich die Boutique nicht leisten. Bisher war das auch gar nicht notwendig gewesen.

Die Diebstähle erfolgten sehr geschickt. Da man sie nicht immer gleich bemerkte, war es schwierig, festzustellen, welche Leute im fraglichen Zeitraum im Laden eingekauft hatten. Die Hauptaufgabe der Mitarbeiterinnen war es, die Kunden freundlich und ausführlich zu beraten. Wenn viel Betrieb war, schafften sie es nicht, gleichzeitig das ganze Geschäft zu beobachten, zumal es ein verwinkelter Laden mit mehreren Räumen war.

Gemeinsam mit Frau Nürtig hatten sie überlegt, wie das Problem gelöst werden könnte und eine Liste der gestohlenen Gegenstände und Zeiten, zu denen diese vermutlich verschwunden waren, aufgestellt.

»Sehr schön. Ich habe gedacht, wir rufen nachher dort an und schauen heute Mittag mal in dem Geschäft vorbei, damit wir die Räumlichkeiten kennen lernen können.« Norbert malte den nächsten roten Punkt, diesmal hinter den Namen Nürtig, und redete dabei weiter. »Die eigentliche Observation startet am Montag. Das planen wir noch genauer.« Er schaute auf und blickte direkt in Doreens grinsendes Gesicht. »Was lachst du?«

»Nichts.« Sie erhob sich schnell und stapelte das Geschirr übereinander. »Du bist immer so strategisch.«

»Und das amüsiert dich?« Seine Unterlippe schob sich nach vorn. Er war stolz darauf, wenn alles durchgeplant war und reibungslos funktionierte.

»Ich freue mich darüber. Wenigstens einer von uns beiden muss doch systematisch sein.« Auf dem Weg zum Waschbecken drehte sie sich zu ihm um und versuchte ein besänftigendes Lächeln. »Es war nicht böse gemeint, Norbert.«

»Das will ich hoffen.« Er grummelte noch ein bisschen, wie ein alter Bär, dem man den Honigtopf weggenommen hatte und kehrte dann zu seiner Liste zurück.

»Punkt drei. Papiere ordnen.« Doreen klapperte lauter mit den Tassen und jetzt grinste er. Sie hasste das. Und doch musste es irgendwann erledigt werden. Man konnte nicht immer nur draußen herumfahren und Leute beobachten. Zumal auch das quälend langweilig sein konnte.

»Ich hätte einen Vorschlag.« Norbert wartete, bis sie sich zu ihm umdrehte und setzte dann seinen Satz fort.

»Ich erledige das. Mir macht das nichts aus.«

Doreen lächelte halbherzig und zog die Augenbrauen hoch. »Und was macht deine Kollegin in der Zwischenzeit?« Sie hängte das Geschirrtuch über die Stuhllehne. Es wurde Zeit, dass ein paar vernünftige Haken an die Wand neben dem Waschbecken kamen.

»Meine Kollegin beschäftigt sich ein bisschen mit dem Computer.« Er ließ den Satz durch den Raum schweben und wartete, bis die Worte bei ihr angekommen waren. Seit Wochen sträubte sie sich gegen das Gerät. Es war ihr unheimlich. Im Geheimen dachte Norbert manchmal, dass sie Angst hatte, sich vor ihm zu blamieren. Erst durch das spielerische Herumprobieren konnte ihre Furcht überwunden werden. Und sie würde merken, dass es gar nicht schlimm war, sondern Spaß machte. Hoffte er jedenfalls.

»Na ja. Wenn du meinst.« Es klang zweifelnd. »Ich kann es ja mal versuchen.« Alles war besser, als Berge von Akten zu sortieren und abzuheften.

»Bestens!« Norbert schob seinen altehrwürdigen Schreibtischsessel weg, schraubte sich nach oben, kam zum Waschbecken gewackelt und drückte ihr einen trockenen Kuss auf die Wange.

»Ach, ich habe viertens vergessen.«

»Viertens? Was ist viertens?« Doreen versuchte Punkt eins bis drei zu rekapitulieren. Frau Möller. Fall erledigt, Abschlussgespräch. Boutique Nürtig, gegen Mittag hinfahren. Und drittens: Akten ordnen. »Viertens ist –«, er zögerte, spannte sie auf die Folter. Kehrte erst zum Schreibtisch zurück und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, der dabei aufseufzte. »– der Plan für heute Abend. Ich habe einen Tisch für uns beim Italiener reserviert.«

Jetzt war es heraus. Norbert blickte auf die Liste vor sich, ohne zu sehen, was darauf stand. Im Raum war es still. Draußen zwitscherte eine heitere Amsel. Ein Moped knatterte die Bahnhofsstraße hinauf.

In Zeitlupe hob Norbert den Kopf. Doreen stand neben dem Regal, die gläserne Kaffeekanne in der Hand und hielt den Kopf schräg. Ihre Miene war ernst. Ihm wurde mulmig.

Dann zog sich ihr Mund in die Breite. »Ein Tisch bei Stefano. Na klar. Lasagne und Knoblauch. Rotwein. Gute Idee.« Jetzt grinste sie richtig. »Ein schöner Start ins Wochenende.«

Norbert ließ die angehaltene Luft ausströmen. Kleine Käferchen krabbelten durch seinen Bauch und kitzelten sein Zwerchfell.

Er war selig. Das Leben war schön.

Leichenstarre

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