Читать книгу Leichenstarre - Claudia Puhlfürst - Страница 7

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Die Traumfee schwebte dichter an ihn heran. In einem weißen, durchsichtigen Kleid. Ihr Gesicht war das der Principessa. Sie berührte mit ausgestrecktem Zeigefinger zärtlich seine Wange. Dann erhob sie den Finger mahnend. Sei wachsam wisperte ihre Stimme ihm zu. Sei wachsam. Sie werden dir folgen. Sie werden dich jagen. Sie werden dir nachstellen. Du musst umsichtig sein.

Er nickte ihr verschwörerisch zu.

Das werde ich. Ich bin sehr intelligent und methodisch. Die werden mich nicht kriegen. Ich bin der Beste. Die Traumfee entfernte sich langsam. Der Saum ihres Kleides wehte. Mit zunehmender Entfernung wurde sie immer durchscheinender, bis nur noch ein feiner schleierförmiger Hauch übrig war. Abschiednehmend winkte ihm der Hauch aus der Ferne zu.

Der Lehrer öffnete die Augen, gähnte laut und streckte gleichzeitig die Arme nach oben. Die Morgensonne malte Leuchtkringel an die Wand über dem Bett.

Aber sicher würde er wachsam sein. Was denn sonst. Er war immer wachsam.

Er war gestern den ganzen Nachmittag bis spät in die Nacht wachsam gewesen. Und er würde heute wachsam sein und morgen und übermorgen. Die ganze Woche, den ganzen Monat, die Sommerferien, im neuen Schuljahr.

Der Lehrer schob die Bettdecke beiseite. Die Sonnenstrahlen kribbelten wie kleine warme Insekten auf seinen Oberschenkeln. Jetzt war die gröbste Arbeit erledigt. Das Zerteilen der schlaffen Gliederpuppe war Schwerstarbeit gewesen. Nicht zu vergleichen mit dem Schneiden eines Bratens oder dem Abtrennen eines Gänseflügels vom Rumpf. Das erzählten sie einem nicht in ihren Fernsehberichten über wahre Verbrechen. Vielleicht wussten sie es auch nicht. Wer konnte schon aus persönlicher Erfahrung schildern, wie es war, einen leblosen Körper in handliche Stücke zu zerlegen.

Es hatte knapp zwei Stunden gedauert, bis aus dem toten Ding mehrere hübsch verschnürte Müllsäcke geworden waren. Fein säuberlich nebeneinander aufgereiht standen sie an der Wand des Badezimmers. Inzwischen war er von Tschaikowsky zu Wagner übergegangen. Etwas Pathetisches passte besser zu der schweren Arbeit. Die Musiker donnerten und tösten mit ihren Instrumenten und fegten alle trübsinnigen Abschiedsgedanken hinweg, die ein Chopin vielleicht hervorgelockt hätte.

Auch die gründliche Nachreinigung hatte viel Zeit in Anspruch genommen. Und er hatte noch nicht alles zu Ende gebracht. Der Abfluss musste noch mehrmals mit Rohrreiniger und kochendem Wasser durchgespült werden. Jeden Tag ein Durchgang. Für heute jedoch war es genug. Äußerlich blitzten die Kacheln und funkelten die Spiegel. Der Rest hatte Zeit. Jetzt musste erst einmal der Müll beseitigt werden. Er hatte sich am Waschbecken gewaschen, weil es ihm widerstrebte, in der Badewanne zu duschen. Nicht, dass noch irgendwelche Spuren zu sehen gewesen wären, aber die Grundreinigung des Raumes war noch nicht abgeschlossen. Er konnte heute Nacht im Landhaus baden. Wenn der Abfall entsorgt war. Die halbvolle Flasche Prosecco hatte im Kühlschrank geduldig auf ihn gewartet. Seine Nackenmuskeln brannten. Er massierte den verkrampften Strang zwischen Schultern und Hals und genoss die prickelnde Kühle des Weins.

Auf Katzenpfötchen schlich die Dämmerung heran und lugte durch den Spalt der Gardinen in die Küche hinein. Der Mann am Tisch sah müde, aber zufrieden aus. Nach vollbrachtem Tagwerk gönnte er sich etwas zu trinken. Eine friedvolle Szenerie. Hier war die Welt noch in Ordnung. Die Dämmerung huschte weiter.

Der Lehrer hob das linke Bein, beugte und streckte es. Dann das rechte. Ein bisschen Morgengymnastik. Ein Lächeln erschien und verschwand sofort wieder. Er sah zum Wecker. Acht Uhr zehn. Die Zahlen blinkerten ihm zu. Zeit, aufzustehen. Es gab viel zu tun. Der Sonnabend würde anstrengend werden.

Der Sonntag entspräche dann den christlichen Vorstellungen. Ruhen und nachdenken. Auf Beten und Buße tun konnte man getrost verzichten. Das war kirchliches Brimborium für minderbemittelte Gläubige. Und es brachte nichts. Er setzte sich auf und schwang beide Beine gleichzeitig aus dem Bett.

Aus dem Spiegel über dem Waschbecken grinste ein ebenmäßiger Mund ihn an. Sein Gesicht sah frisch und erholt aus. Keine Anzeichen von Stress oder psychischer Belastung. Es belastete ihn auch schon kaum noch. Am Montag würde alles wie immer ablaufen.

Bis auf den Umstand, dass die Principessa dann nicht mehr da sein würde.

Es fehlte immer mal jemand. Beurlaubt oder krank. Die Kollegen und Mitschüler würden erst dann verwundert sein, wenn sie vom spurlosen Verschwinden der Schülerin erfuhren. Vielleicht war sie ja ausgebüxt. Schwierigkeiten mit den viel zu strengen Eltern. Und ihre Eltern waren sehr streng gewesen. Das wusste er. Sie hatte ihm mehrmals ihr Leid geklagt.

Nie durfte sie am Wochenende so lange wie die anderen ausgehen. In den kommenden Sommerferien wollte ihre Clique zum Camping an eine Talsperre fahren. Ohne sie. Die Mutter hatte es ihr untersagt. Mit knapp sechzehn war ein Mädchen entschieden zu jung für solche Eskapaden. Was, wenn etwas passierte? Sie womöglich schwanger zurückkehrte? Kam nicht in Frage. Dieses war verboten, jenes nicht erlaubt. Das hatten sie nun davon. Geschah ihnen recht. Ein hübscher kleiner Denkzettel für bornierte Spießer. Leider schade, dass diese gestrengen Eltern nur dieses eine Kind hatten, so gab es für sie keine Möglichkeit, ihre erzieherischen Fehlleistungen bei jüngeren Geschwistern zu korrigieren. Aber einerlei. Was ging ihn das an.

Der Lehrer stieg aus der Dusche, frottierte sich gründlich ab und richtete das große Badetuch ganz gerade auf dem Handtuchhalter aus. Frisch rasiert und parfümiert tapste er im Morgenmantel über die mintgrünen Fliesen in Richtung Diele.

In der Küche öffnete er als erstes die Terrassentür. Kühle Morgenluft fächelte herein und verursachte eine Gänsehaut auf seinen nackten Beinen. Der Rittersporn strahlte leuchtblau neben den zartrosa Dolden der Nachtviole. Zwei eifrige Bienen mit gelben Pollenhöschen summten um die duftenden Blüten herum.

Der gesamte Garten hatte eine gründliche Verjüngung nötig. Unkraut musste beseitigt, Hecken verschnitten, Sträucher neu gepflanzt werden. Er hatte keine Ahnung davon und auch keine Lust dazu.

Während das Wasser für den Kaffee zu kochen begann, dachte er darüber nach, jemanden aus dem benachbarten Dorf für die notwendigen Arbeiten anzustellen. Es konnte auch nicht schaden, wenn ab und zu jemand nach dem Rechten sah, vielleicht sogar an den Wochenenden, wenn er hier war, das Haus putzte. Denn dazu verspürte er noch weniger Lust, als auf die stumpfsinnige Gartenarbeit. Stolz sah er sich um.

Sein Landhaus. Seine Latifundien. Gut, es war ererbt, aber nun gehörte es schon mehrere Jahre ihm. Und sein Glück, dass keine Geschwister existiert hatten, mit denen man um das Erbe der zu früh verstorbenen Mutter hätte streiten müssen. Es war alles SEINS. Und das würde es auch bleiben. Später, wenn er eine nette kleine Frau und ein, zwei wohlerzogene Kinder haben würde, könnte man die Stadt verlassen und ganz hierher ziehen. Groß genug war es.

Der Frühstückstisch war gedeckt. Nur die frischen Brötchen fehlten noch. Der Lehrer schnürte den Gürtel des Morgenmantels fester, verließ das Haus durch die Vordertür und nahm ein paar tiefe Atemzüge von der weichen kühlen Luft.

Der Beutel hing wie erwartet außen an der Klinke des Gartentores. Irgendwann, vor vielen Jahren, hatte seine Mutter mit dem Nachbarn die Übereinkunft getroffen, dass dieser auf seinem morgendlichen Gang zum Bäcker für sie zwei Brötchen mitbrachte. Da sie keine Frühaufsteherin war, hängte er die Tüte an den Zaun. Sie bezahlte immer einen Monat im Voraus und hatte so jeden Morgen noch warme, frisch gebackene Semmeln. Nachdem sie gestorben war, hatte er den Alten gebeten, an den Wochenenden dieses nützliche Ritual fortzusetzen. Stand sein Wagen in der Einfahrt, brachte der Nachbar Brötchen mit. Ganz einfach.

Der Lehrer reckte sich. Gut, dass ihm gestern Nacht noch eingefallen war, das Auto wieder in die Auffahrt zu stellen. Zum Ausladen der Müllsäcke hatte er den Wagen in die Garage gefahren. Es konnte zwar außer dem alten Mann niemand auf sein riesiges Grundstück blicken, und der schlief den Schlaf der Gerechten, aber sicher war sicher. Nicht, dass noch jemand auf dumme Gedanken kam, weil scheinbar Abfall ins Haus, anstatt aus diesem heraus gebracht wurde.

Er hatte den Kofferraum leer geräumt und alles fein säuberlich in der großen Kühltruhe verstaut. Tiefgefrorenes Fleisch, hübsch verpackt. Heute Nacht würde er die erste Ladung weit wegfahren und entsorgen. In der Nacht zum Montag die zweite. Einmal nach Süden, einmal nach Norden. Alles schön verteilen. Die Arme hier, die Beine da. Und nächstes Wochenende dann der Rest. Zu lange sollten die Teile nicht in diesem Haus lagern. Und nun zurück zum vollendeten Frühstück. Der Lehrer schloss die Eingangstür hinter sich.

Der Nachbar sah ihn hineingehen.

Er hatte letzte Nacht schlecht geschlafen; war durch das leise Gebrummel eines Autos munter geworden und hatte aus dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock in die Dunkelheit hinausgespäht.

Zuerst war der Lehrer ausgestiegen, hatte die Garage aufgeschlossen und war hineingefahren. Sonst ließ er sein Auto immer draußen stehen, damit der alte Mann es am Morgen sehen konnte. Wegen der Brötchen. Aber vielleicht wollte sein Nachbar dieses Mal nicht frühstücken.

Oder es gab etwas Schweres auszuladen. Das schien dem Alten wahrscheinlicher. Das Garagentor wurde geschlossen und die dunkle Stille kam auf Samtpfötchen zurück.

Er hatte sich wieder ins Bett gelegt und darauf gehofft, jetzt einschlafen zu können. Eine halbe Stunde später, als seine Glieder endlich schwerer wurden und er in die behagliche Traumwelt abzudriften begann, hatte er dann gehört, wie sich das Garagentor mit einem leisen Quietschen wieder öffnete.

Sein müdes Herz war mit einem Stolpern wieder in Fahrt gekommen. Mürrisch über die erneute Störung hatte er sich noch einmal aus dem Bett gequält und hinausgesehen. Da fuhr doch dieser Mann mitten in der Nacht sein Auto wieder aus der Garage heraus, ließ es in der Auffahrt stehen und verschwand durch die Vordertür. Der alte Mann hatte noch ein paar Minuten im Dunkeln am Fenster gestanden und auf die erleuchteten Fenster gegenüber geschaut. Ab und zu war ein dunkler Schatten hinter den zugezogenen Gardinen hin und her gehuscht. Mehr konnte er auch mit Brille nicht erkennen. Es war zu weit entfernt. Der alte Mann hatte sich seufzend in sein Bett gelegt, an die Zimmerdecke gestarrt und war irgendwann gegen Morgen, als die ersten Amseln schon zwitscherten, endlich eingeschlafen.

Auf dem Weg zum Bäcker hatte er das Auto in der Auffahrt stehen sehen und sich an das nächtliche Treiben erinnert. Und daran, dass ihm das Tun des Nachbarn in der Dunkelheit seltsam vorgekommen war. So, als wolle dieser etwas verbergen.

Der alte Mann sah einer Drossel zu, die in der taufeuchten Wiese vor seinem Fenster an einem Regenwurm zog und schüttelte den Kopf. Wer weiß, was der Lehrer zu tun gehabt hatte. Das ging ihn nichts an. Er war keiner von den neugierigen Alten, die in ihrem Lebensüberdruss die gesamte Umgebung ausspionierten. Er nicht. Er würde dem Lehrer auch in Zukunft am Wochenende Brötchen ans Tor hängen und den Aktivitäten der vergangenen Nacht keine Bedeutung zumessen.

Leichenstarre

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