Читать книгу Leichenstarre - Claudia Puhlfürst - Страница 14

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Der Lehrer riss die Tür zum Klassenzimmer so schwungvoll auf, dass sie ihm fast aus der Hand geglitten und an die Wand geprallt wäre. Schon im Vorbereitungszimmer hatte er das wilde Toben und laute Geschrei der 8b gehört und mit Hansi beredte Blicke getauscht. Die Klasse war an der ganzen Schule berüchtigt. In jeder Dienstberatung wurden die Disziplinprobleme thematisiert, beschwerten sich Kollegen, beschloss man neue, unwirksame Maßnahmen. Der Lehrer hasste die 8b. Eine abscheuliche Klasse. Zwei Drittel der Schüler waren dumm wie Bohnenstroh. Ein Drittel verhaltensgestört. Nicht in der Lage, sich den herrschenden Normen anzupassen. Was ihn am meisten störte, war die Tatsache, dass diese Bastarde nicht nur beschränkt, sondern dazu auch noch frech waren. Stumpfsinnige Bälger, die sich still verhielten, konnte man gerade noch tolerieren. Irgendwann verließen sie die Schule, freiwillig oder unfreiwillig, und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Sie saßen im Unterricht, dösten vor sich hin und begriffen nicht das Geringste. Wenigstens störten sie nicht. Aber die anderen.

Sie waren der Gipfel eines jeden Lehrerdaseins. In ihrem Schwachsinn hielten sie sich für cool und intelligent. Das bisschen Geist reichte nicht einmal dazu, die eigene Beschränktheit zu erfassen. Eigentlich waren es arme Schweine. Wenn sie nicht so rotzig wären.

Und nun hatten die Hohlköpfe die Schulklingel geflissentlich überhört und krakeelten frohgemut durch den Klassenraum. Er schloss leise die Tür hinter sich.

Euch werde ich ›Mores‹ lehren, Freunde. Wartet nur einen kleinen Moment. Ihr werdet schon sehen.

Der strenge Lehrer schritt mit hoch erhobenem Kopf vor die tobende Menge, setzte sein unnachgiebiges Gesicht auf und wartete darauf, dass sie ihn bemerkten. Es dauerte nicht lange. Der Lärmpegel wurde leiser. Die Ersten rannten zu ihren Plätzen und stellten sich hinter ihren Stuhl. Er hatte sie im vergangenen Schuljahr schon hübsch dressiert. Es bedurfte keiner körperlichen Züchtigung, obwohl der Lehrer es manchmal schade fand, dass Peitsche und Rohrstock nicht mehr erlaubt waren. Das Aufblühen roter Striemen auf weichem Muskelfleisch war ein hübscher Anblick. Und es wirkte. Sofort.

Sei’s drum. Er hatte andere Möglichkeiten. Subtilere. Die Schwachköpfe merkten meist nicht einmal, wie sie manipuliert wurden. Er war streng aber gerecht. Kompetent und geachtet. Persona.

Es dauerte nicht mal eine Minute, bis die wahnsinnige Herde ihre Plätze eingenommen hatte und alle Tölpel an ihren Plätzen waren. Der Lehrer ließ sie noch einen Augenblick stehen, damit sich die Stille wenigsten für die ersten Minuten der Stunde in ihre hohlen Köpfe einbrannte. Seine Augen glitten über die ihm zugewandten Gesichter und blieben an jeder der weißen kreisrunden Flächen eine Sekunde hängen. Jeder von ihnen sollte die Gewissheit haben, wahrgenommen zu werden. Sollte sich als Individuum vom Lehrer ernst genommen fühlen. Auch wenn es austauschbare Marionetten waren.

Nachdem auch die letzten Spastiker nicht mehr zuckten, wünschte der Lehrer ihnen einen guten Morgen und ließ sie sich setzen. Es würde gleich mit einer deftigen Kontrolle beginnen. Wiederholung war die Mutter der Weisheit.

Er öffnete seinen Kalender und überflog pro forma die Namensliste, obwohl schon feststand, wer gleich nach vorn kommen und sich bis auf die Knochen blamieren würde. Es gab immer ein paar, die sich in den Pausen besonders ›hervortaten‹. Eine kleine Strafe für unerträgliches Benehmen konnte nie schaden. Die tägliche Wiederholung traf nicht immer einen von ihnen, aber ab und zu klappte es. Der Lehrer lächelte kurz und sah hoch. Der hirnlose Wurm würde gleich seine Beschränktheit offenbaren und sich vor den Augen der Mitschüler winden. So einfältig sie auch waren, das ging ihnen allen nahe. Eine Blamage vor versammelter Mannschaft. Aus heiterem Himmel. Eben noch hatte man mit den Freunden vergnügt gelärmt und plötzlich schlug der Blitz ein. Sie rafften es nie.

Natürlich würde der Lehrer außerordentlich verblüfft über die schlechte Leistung sein. Und den armen Betroffenen trösten. Sicher war dies ein Ausrutscher. Er würde das arme Hascherl demnächst wieder aufrufen, damit sich der Bedauernswerte verbessern könne. Er solle sich nur immer fleißig vorbereiten und freiwillig melden. Dann käme er schon bald wieder dran. Manch einem kamen bei seinen mitfühlenden Worten sogar die Tränen. Eine erheiternde Posse. Bald wieder. Das war ein dehnbarer Ausdruck. Für die nächsten Wochen war der Störenfried ruhig gestellt. Er würde in der Pause nicht mit den anderen wild durchs Zimmer toben, sondern brav an seinem Platz sitzen und sich vorbereiten.

Hatte der Lerneifer dann nachgelassen, war es abermals an der Zeit, den Blödian aufzurufen. Manchmal blieben sie auf ihren schlechten Noten sitzen und mussten das Schuljahr wiederholen. Die wenigen Schüler mit einsichtigen Eltern verließen das Gymnasium. Ziel erreicht.

Er rief den Namen auf.

Der pickelgesichtige Dummkopf schlich mit gebeugtem Rücken an seinen Platz zurück. Ein unfreiwilliger Komödiant. Für heute war die Burleske beendet. Die berühmte griechische Komödie, eine groteske, schonungslose Satire, hatte mit dem stillen Vergnügen der Zuschauer ein Ende gefunden. Bis zum nächsten Mal. Der Lehrer schüttelte abschließend, scheinbar entsetzt über soviel Unwissenheit, noch einmal ungläubig den Kopf und ging dann zur Tagesordnung über. Texte lesen und übersetzen. Jeder für sich. Jeder schweigend. Jeder bemüht darum, den Sinn der kunstvoll konstruierten Sätze zu begreifen. Zumindest die Bedeutung. Die mathematische Schönheit der Formulierungen verstanden sie ja doch nicht. Aber so hatte wenigstens er für den Rest der Stunde seine Ruhe. Man konnte ein bisschen auf und ab wandern, Schülerinnen über die Schulter schauen, den einen oder anderen ermahnen und über wichtige Dinge nachdenken.

Zum Beispiel darüber, wie sich ein knapp sechzehnjähriges Mädchen, das von zu Hause fortgelaufen war, bei Freunden bemerkbar machen würde. Der Lehrer blickte auf den Schulhof hinunter. Der Hausmeister war dabei, die wahllos hingeworfenen Zigarettenkippen an der Raucherecke zusammenzufegen.

Wie verständigten sich Teenager heutzutage miteinander? Telefonieren war immer noch angesagt. Sie besaßen alle ein Handy. Vielleicht würde das Mädchen ihre Freundin anrufen. Durchaus möglich. Theoretisch könnte sie so etwas tun. Nur, dass diese Variante hier nicht verwendbar war. Ein Anruf aus dem Jenseits. Der Lehrer gestattete sich ein kleines Wolfslächeln. Ein interner Scherz von Persona zu Persona.

Er verließ das Fenster und wanderte langsam in den hinteren Teil des Klassenzimmers. Hinter der letzten Bankreihe konnte man gut eine Weile stehen bleiben und hatte sie alle im Blick. Die Dummen, die Frechen, die Verhaltensgestörten. Man konnte an ihren Rücken und der Kopfhaltung sehen, ob sie zum Nachbarn schielten und die Säumigen sofort nachdrücklich ermahnen. Nicht mit lauter Stimme. Es wirkte bedrohlicher für den Betreffenden, wenn der Lehrer leise sprach. Das Beste an dem Standort hinter ihnen war, dass sie nie wussten, wen er im Visier hatte. Man konnte genauso gut eine Weile vor sich hin starren, ohne dass es auch nur einer bemerkte.

Jemanden anzurufen fiel also aus. Trotzdem war der Gedanke an all die Handys in den Taschen und Rucksäcken nicht nutzlos. Weitaus häufiger, als miteinander zu telefonieren, schickten sich die Jugendlichen short messages. Sie nannten es ›sms‹ und wussten oft nicht einmal, woher die Abkürzung stammte.

Das Gute daran war, dass eine ›sms‹ nur Text enthielt, die Stimme des Anrufers also keine Rolle spielte. Wenn man eine Handynummer hatte, an die man eine solche Kurzbotschaft schicken konnte.

Und soweit er informiert war, wurde dabei auch die Rufnummer des Absenders mitgesendet. Es gab jedoch Möglichkeiten, dies zu vermeiden. Der Lehrer wusste noch nicht genau, wie. Das herauszufinden, würde jedoch das kleinste Problem sein.

Weitaus wichtiger war die Frage, an wen die Principessa ihre Botschaft richten würde? Eine enge Freundin? Jemanden aus ihrem Kurs? Verwandte, die Verständnis für die Probleme eines Mädchens mit den Eltern hatten? Und – wenn das geklärt war – woher bekäme ein Fremder die Handynummer dieses Betreffenden? Kompliziertes Puzzle.

Der Lehrer liebte scheinbar unlösbare Aufgaben, die den gesamten Intellekt herausforderten. Er würde darüber nachdenken. Er würde eine Lösung finden. Es war ein aufregendes Spiel.

»In fünf Minuten beendet ihr eure Übersetzung.« Er sprach leise, aber bestimmt. Einige Köpfe hoben sich, einzelne drehten sich nach hinten um. »Und – ich werde ein paar Exemplare einsammeln.« Auf den ihm zugewandten Gesichtern zeigte sich Bestürzung. Damit hatten sie nicht gerechnet. »Ich weiß noch nicht, ob ich es bewerte. Das entscheide ich später.« Jetzt hofften sie wieder. Vielleicht kam man mit einem blauen Auge davon. Der Lehrer ging nach vorn und begann die Eintragungen in seinem Lehrerkalender zu studieren. Eine nette kleine Achterbahnfahrt der Gefühle für manche von ihnen.

Er war sich tatsächlich noch nicht im Klaren, ob es Noten auf das Geschreibsel geben würde, oder nicht. Bewertungen kosteten Zeit. Und es gab momentan dringlichere Dinge zu tun. Mit dem Kugelschreiber machte er kleine Pünktchen hinter einige Namen, sah dann auf die Uhr und ließ seinen Blick über die Klasse schweifen.

»Kommt bitte zum Ende.« Sein Gesichtsausdruck war mild und gütig. Es lag nicht in seinem Interesse, sie zu brüskieren oder zu kränken. Ganz sicher nicht. In der Schule war es nun einmal so, dass Leistungen abverlangt wurden. Dazu waren sie hier. Der Sekundenzeiger seiner Armbanduhr glitt auf die Zwölf zu.

»Die Stifte weglegen. Alle. Und nicht erst noch anfangen zu reden! Dankeschön.« Er schaute von Bankreihe zu Bankreihe. »Die Genannten bringen ihren Zettel nach vorn. Dann könnt ihr einpacken.« Der Sekundenzeiger wanderte erneut nach oben und in das einsetzende Getuschel hinein schrillte die Klingel. Perfekt.

Er endete gern pünktlich. Es war angenehm, wenn alles fehlerfrei ablief. Pünktlicher Beginn, pünktliches Ende. Dazwischen ernsthafte Arbeit. So war es gut.

Die mühsam dressierten Schüler verwandelten sich wieder in eine kreischende Horde wildgewordener Brüllaffen und stürmten aus dem Zimmer. Sobald sie sich auf dem Gang befanden, war es ihm gleichgültig, wie sie sich aufführten. Nicht seine Baustelle. Wozu gab es eine Aufsicht.

Er packte seine Utensilien zusammen, verschloss die Tür und machte sich auf den Weg ins Lehrerzimmer. Es war an der Zeit, ein paar Details über die Principessa herauszufinden.

Leichenstarre

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