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Vor der Korkwand mit den einander überlappenden Zetteln blieb er stehen, starrte auf die Aushänge und versuchte sich zu besinnen, wer der Tutor seiner Prinzessin gewesen war. Sicher hatte sie es irgendwann einmal ihm gegenüber erwähnt. Ein zerstreuter Kollege rempelte ihn an, die Brille auf Halbmast, den aufgeschlagenen Kalender in der Hand.

»Guten Morgen Herr Sibelius.« Der Angesprochene hopste einen Schritt zur Seite und schaute den Lehrer erschrocken an. »Mensch Wolf, ich habe dich gar nicht gesehen!« Seine Augenlider zuckten nervös. »Ich war mit dem Vertretungsplan beschäftigt. Meier ist schon wieder krank und mich hat’s die Woche voll erwischt. Schöne Scheiße.« Noch im Sprechen drehte sich der Kollege um und bahnte sich einen Weg durch das überfüllte Lehrerzimmer. An einem Gespräch war er nicht interessiert. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Die Wenigsten von ihnen waren zu einer Konversation im Wortsinn befähigt. Das ›con‹ – meinte eben nicht nur, dass man sich zusammen an einem Ort befand, sondern beinhaltete genauso den gegenseitigen Austausch. Nicht den Monolog eines Einzelnen, wie überlastet und geplagt er war. Der Lehrer gestattete es sich, einen Moment lang die Gedanken abschweifen zu lassen und dachte darüber nach, ob die Gesprächskultur generell verkam; oder, ob dies ein spezifisches Problem von Lehrern war, die ja schon aufgrund ihrer Tätigkeit zum stundenlangen Referieren neigten. Wahrscheinlich waren Lehrer die schlimmsten. Aber beweisen konnte er es nicht.

Der Bienenstock summte und brummte. Die Wichtigtuer huschten durcheinander, saßen an ihren angestammten Plätzen, blätterten in Unterlagen oder durchforsteten Klassenbücher. Das Ganze glich einem riesigen Ameisenhaufen. Es wirkte konfus und hatte doch System.

Der Lehrer sah sich den Ameisenstaat an und sein Blick blieb an einer Königstreuen hängen. Frau Hohlmeier. Die Oberstufenberaterin. Das hätte ihm aber auch eher einfallen können. Erst der Anblick der Frau mit dem Spitznamen ›eiserne Lady‹ hatte die Erinnerung geweckt. Die Möchtegern-Ameisenkönigin stand vor den Fächern mit den Kursbüchern, zwei der blaugrauen Hefte unter dem Arm und hielt vor einer eingeschüchtert wirkenden Referendarin einen Monolog. Monos und logos. Allein und sprechen.

Die arme kleine Referendarin stand mit gesenktem Kopf vor ihr, nickte eilfertig und wagte nur kurze Blicke nach oben. Kollegin Hohlmeier hatte sich mit geradem Rücken und erhobenem Kinn eine Idee zu dicht vor ihrer Zuhörerin aufgebaut.

Der Lehrer betrachtete das Bild eingehend. Ein Paradebeispiel. Er kannte den Effekt aus eigenem Gebrauch. Man musste scheinbar unbeabsichtigt in den persönlichen Raum eindringen, den jeder Mensch um sich herum hatte. Ein gedachter Bereich, der Freunden und Familie vorbehalten war. Fremde hatten in dieser imaginären Zone nichts zu suchen. Der Betroffene begann sich unwohl zu fühlen und wusste nicht warum. Er versuchte, nach hinten auszuweichen. War das nicht möglich, nahm die Unbehaglichkeit immer mehr zu. Der Bedrängte wurde unruhig, begann zu zappeln. Insbesondere, wenn man Millimeter für Millimeter weiter vorrückte. Und man wusste nie, wie sie letztendlich reagieren würden. Manche sprangen zur Seite und befreiten sich so aus dieser Zwangslage. Andere verstummten und schauten stur zu Boden, um die Bedrohung auszublenden. Wieder andere sprachen immer lauter, um den Eindringling abzuschrecken. Ein hübsches Psychospielchen.

Ob Kollegin Hohlmeier es vorsätzlich spielte, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht.

Und nun würde er das arme, in die Enge getriebene Mäuschen von seiner Qual befreien. Der Lehrer knipste ein höfliches Lächeln an und näherte sich den beiden Ungleichen.

»Einen schönen guten Morgen.« Er streckte seinen Arm zwischen die beiden Frauen in Richtung der Oberstufenberaterin. Sie mochte es nicht, wenn man sich zur Begrüßung die Hand gab. Jeglicher Körperkontakt war ihr verhasst. Immer schön auf Abstand bleiben. Die dargebotene Hand konnte sie jedoch schlecht ignorieren. Unwillig schob sie ihren rechten Arm, die Handfläche nach unten zeigend, ein bisschen vor. Der Lehrer griff zu und drehte dabei blitzschnell ihre beiden Hände, so dass sein Handrücken oben war. Dabei zeigte er die ganze Zeit sein höfliches ›Guten-Morgen-Lächeln‹ und schaute ihr direkt in die Augen. Kollegin Hohlmeier schnappte empört nach Luft, schloss den Mund jedoch sofort wieder.

Eine kleine Geste der Dominanz. Nur ein nettes kleines Spielchen, um zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Der Lehrer drückte kräftig und etwas länger als nötig zu und ließ dann los.

»Herr Kippling.« Kein netter Gruß, einfach nur sein Name.

»Ich habe eine Frage an Sie.« Kollegin Hohlmeier nickte nur und wartete darauf, dass er sein Anliegen loswurde und sie dann in Ruhe ließ. Sie hatte wirklich Wichtigeres zu tun.

»Es geht um die Schülerin Madeleine Stove. Vor einiger Zeit habe ich ihr zwei Lateinbücher geborgt, die ich jetzt gern zurückhätte.« Er hatte sich entschieden, so nahe wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. So musste man sich nicht komplizierte Konstruktionen merken und diese dann immer wieder fehlerfrei reproduzieren. Und die Principessa hatte tatsächlich zwei Bücher mit lateinischen und griechischen Übungstexten von ihm. Irgendwo in ihrem Jungmädchenzimmer bei ihren strengen Eltern lagen sie und warteten darauf, gefunden zu werden. Sein Namensstempel war darin. Gestern Abend war es ihm eingefallen. Außerdem konnte er die Bücher jetzt gut gebrauchen. Ein goldlockiger Engel wartete darauf. Die süße kleine Cenerentola. Übermorgen würde sie ihre erste Nachhilfestunde bei ihm haben. Sein Lächeln wurde breiter. Er ließ den Blick zu der hochnäsigen Pute vor ihm zurückkehren. Ihre Mundwinkel hingen leicht nach unten. Ein Zeichen jahrelanger Grundstimmung. Sie roch nach irgendeinem Business-Parfüm. Sportlich penetrant.

»Und was kann ich dabei tun?«

Der Lehrer hatte den Wunsch, die arrogante Ziege zu ohrfeigen, um sie aus ihrem Dünkel aufzuwecken. Eine schallende Backpfeife, sodass ihr Kopf zur Seite flog. Sprach man so mit Kollegen? So lustlos und angeödet? Er lächelte sie an und fuhr fort. »Da sie nicht in einem meiner Kurse ist, wüsste ich gern den Namen ihres Tutors, damit ich mich an diesen wenden kann.« Er trat einen Schritt näher und schob den Oberkörper vor. Frau Hohlmeier beugte sich nach hinten. »Jetzt gleich?«

Nein, nächstes Jahr, du blöde Kuh. Der Lehrer lächelte unverwandt und drängte sich noch dichter an die Kollegin heran. Das Parfüm war wirklich schauderhaft. Es nahm einem die Luft. Sie machte einen Schritt rückwärts und berührte dabei den Schrank. Jetzt erlebte die Frau das gleiche Spiel, das sie vorhin mit der armen Referendarin exerziert hatte, aus der anderen Perspektive. Es schien ihr nicht zu gefallen.

»Ja bitte.« Er rückte noch näher.

»Dann schauen wir mal nach. Ich habe die Listen in meinem Zimmer. Kommen Sie bitte.« Schnell wandte sich die Frau zur Seite und drängte sich an ihm vorbei. Was für ein aufdringlicher Kollege!

Der Lehrer folgte ihr lächelnd.

Madam Hohlmeier rammte den Schlüssel ins Schloss ihres Zimmers. Als Oberstufenberaterin genoss sie den Luxus eines eigenen Raumes. Der Lehrer folgte ihr in das nüchtern eingerichtete Zimmer und sah sich um. Keine Nippes, keine privaten Bilder, kein Schnickschnack. Ordentlich einsortierte Fachliteratur stand stramm in den Bücherregalen. Im Licht der hereindringenden Morgensonne tänzelten feine Staubteilchen. Staubteilchen! In diesem Raum! Es musste ihr wie eine Verhöhnung vorkommen.

Auch hier roch es nach dem penetranten Ich-bin-ja-so-sportlich-Duft. Ein armseliger Aufenthaltsraum, so ganz ohne private Dinge. Kalt und tot.

Apropos tot. Der Grund seiner Anwesenheit drängelte sich an die Pforte zum Bewusstsein.

Der Lehrer lächelte, als die Kollegin sich vom Wandschrank zu ihm umdrehte und mit dem, was sie für einen geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck hielt, von dem Ordner in ihren manikürten Händen aufsah.

»Ich wollte mich nur noch einmal vergewissern. Der Tutor von Madeleine Stove ist Herr Nisbi.« Sie nickte bekräftigend, die schmalen Lippen zusammengepresst und schloss den Hefter.

»Herr Nisbi. Sehr schön.« Der Lehrer lächelte breiter. Keine Frau. Das war gut. Frauen durchschauten einen manchmal schneller. Er wusste nicht, woran das lag. Wahrscheinlich hatten sie ein feineres Gespür für unterschwellige Botschaften. Frank Nisbi war ein leicht zu manipulierendes Opfer.

Der hilfsbereite Lateinlehrer hatte einer Schülerin von Kollege Nisbi zwei Bücher ausgeborgt. Damit sie sich besser auf den Unterricht bei Heidi Siebdraht – bei diesem Namen würden sie sich wissend zunicken – vorbereiten konnte. Und nun bräuchte der nette Lateinlehrer eben diese Bücher zurück. Und dazu musste er den Stundenplan des Mädchens kennen, um sie inmitten der 800 Schüler und Schülerinnen zu finden. Das war alles. Ganz einfach. Frank Nisbi würde ihm den Plan geben. Vielleicht würde er ihn auch darauf hinweisen, dass die Schülerin Madeleine Stove – seine unvergleichliche Principessa – seit gestern nicht anwesend war. Unverbindlich konnte man sich erkundigen, ob sie krank sei. Vielleicht wusste der Tutor Näheres. Es blieb spannend.

Kollegin Hohlmeier stand wie ein Zinnsoldat neben dem Wandschrank und wartete mit ihrem verkniffenen Mund darauf, dass er sich verabschieden möge. Sie hatte dem Kollegen die benötigte Auskunft gegeben und nun wirklich zu tun. Er bewunderte für einen Augenblick ihre eiserne Entschlossenheit. Kein verbindliches Geplauder, keine abschließenden Floskeln. Sie hatte sich ihren Spitznamen redlich verdient. »Dann danke ich Ihnen schön.« Er zauberte ein breites Lächeln auf sein Gesicht, das keine Erwiderung fand.

»Herr Kippling.« Die Generalin beugte sich hoheitsvoll einige Millimeter nach vorn und entließ ihn aus ihrem Machtbereich.

Das wäre also geklärt. Alles Weitere würde sich ergeben. Der Lehrer schloss mit einem sanften Lächeln die Tür hinter sich. Er hatte eine Freistunde und Appetit auf Kaffee.

Leichenstarre

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