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Von der Oberfläche der Espressotasse waberten feine weiße Dunstfäden nach oben. Norbert gab drei gehäufte Teelöffel Zucker in die nachtschwarze Flüssigkeit, rührte ausgiebig und seufzte zufrieden. Sein Blick hob sich, und noch ehe er seinen Gedanken aussprechen konnte, kam Doreen ihm zuvor.

»Nein, ich möchte jetzt nichts essen. Keinen Kuchen, keinen warmen Apfelstrudel und auch kein Gebäck.« Amüsiert beobachtete sie, wie sein Unterkiefer nach unten sank und sich der Mund ein wenig öffnete.

»Kannst du Gedanken lesen?«

»Das war jetzt wirklich keine Kunst, Norbert.« Doreen zwinkerte ihm zu. »Du warst so in deinen Espresso versunken. Und du isst zum Kaffee fast immer etwas Süßes.« Ihre Mundwinkel zogen sich in die Breite. Den nächsten Satz sprach sie nicht laut aus. ›Und damit es nicht so auffällt, fragst du fast jedes Mal zuerst mich, ob ich nicht ein Stück Kuchen möchte.‹ Erst vor einer Stunde hatte sie ein Stück Quarkkuchen und er seine allmorgendlichen Streuselschnecken verdrückt. Was zu viel war, war zu viel.

»Dann esse ich jetzt auch nichts.«

Er klang ein kleines bisschen enttäuscht, und Doreen bemühte sich, ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Ich bin gespannt, ob unsere Diebin heute schon auftaucht.« Wie auf Kommando schweiften ihre Blicke synchron zum Fenster und wanderten auf die gegenüberliegende Straßenseite. Der Eingang zur Boutique war gut zu sehen. Bis jetzt war noch nicht ein einziger Kunde erschienen. Norbert sah auf die Uhr. Viertel zehn. Es war noch früh am Tag.

»Wie wollen wir vorgehen?« Doreen nahm einen Schluck Kaffee, verzog den Mund und goss noch etwas Kaffeesahne nach. Das war schon die fünfte Tasse Kaffee an diesem Dienstagvormittag. Vielleicht hätte sie auch besser einen Espresso genommen. Der kam immer frisch aus der Maschine. Den Kaffee ließen sie dagegen in manchen Restaurants stundenlang auf der Heizplatte vor sich hin schmoren. Und so schmeckte er dann auch.

»Mal sehn. Ich dachte mir, wir warten ab, was da so an Kundschaft auftaucht. Da du heute Nachmittag allein observierst, würde ich nachher beginnen. Sobald eine in Frage kommende Kundin den Laden betritt. Findet das deine Zustimmung?« Norbert sah seine Kollegin nicken. Sie sah frisch und jung aus. Ihre Augen leuchteten. Die Wangen waren sanft gerötet. Sonnenstrahlen ließen in ihrem dunklen Haar hellere Lichtreflexe aufblitzen. Es hätte ein wunderbarer Tag sein können, wenn da nicht dieser unsägliche Zahnarzttermin wie ein Damoklesschwert über ihm schweben würde. Norbert saugte das Bild noch einen Moment in sich hinein, ehe er fortsetzte: »Hoffen wir, dass es nicht zu langweilig wird.«

»Und, dass es nicht auffällt, wenn wir dauernd da drüben rumlungern.« Doreen deutete mit dem Kinn nach draußen und stellte schnell ihre Tasse ab. »Schau mal!«

Norberts Kopf ruckte zur Seite. Er kniff die Augen zusammen und wünschte sich zum wiederholten Mal eine Brille. Ein wenig Eitelkeit mochte gut und schön sein, aber allmählich beeinträchtigte diese Eitelkeit seine Arbeit. Während er auf die andere Straßenseite spähte, nahm er sich vor, noch diese Woche einen Augenarzt aufzusuchen. Oder einen Optiker.

Die Frau stand unentschlossen vor der Auslage der Boutique. Sie war nicht besonders groß und nicht besonders schlank. Und nicht besonders jung. Konventionelle Kleidung. Keinen zweiten Blick wert. Eine Durchschnittsfrau. Ob ihre Kleidung exklusiv und ihr Schmuck kostbar war, konnte man aus der Ferne nicht sagen. Norbert verglich sie im Geiste mit dem ›Phantombild‹ der Diebin, das Doreen und er erstellt hatten. Die Durchschnittsfrau passte nicht in das Raster. Aber das Raster konnte falsch sein.

Auf der anderen Straßenseite wanderte die Durchschnittsfrau zögernd ein paar Schritte auf und ab. Sie strich sich über die Haare und ließ die Hand wieder sinken. Es sah so aus, als sei sie unschlüssig. Es konnte aber sein, dass sie jemanden erwartete. Vielleicht ein heimliches Rendezvous? Gerade als Doreen sich den dazugehörigen Liebhaber auszumalen begann – ein Managertyp, funktional und unauffällig gekleidet, straffte die Frau ihren Rücken und verschwand im Eingang. Norberts leere Espressotasse fiel leise klirrend um, als er hektisch aufsprang und im Gehen versuchte, in seine Jackenärmel zu schlüpfen. Doreens »Viel Spaß da drüben!« hörte er schon kaum noch. Er stoppte am Straßenrand und schaute wie ein braver Erstklässler nach links und rechts. Sie sah, wie ihr Kollege gemütlich über die Straße schlenderte und vor dem Nachbargeschäft – »Fem. -Echtschmuck, Trendschmuck, Accessoires, Raumdekoration« – stehen blieb. Norbert war ein gewiefter Beobachter. Er musste farblos und zufällig daherkommen. Niemand, an den man sich später erinnern würde. Kein Blickkontakt zu observierten Personen. Hatte man ihnen einmal in die Augen gesehen, erinnerten sie sich an einen. Durch die Glasscheibe des ›Alex‹ betrachtet, kam Doreen das Ganze wie eine kostenlose Kinovorstellung vor. Sie nahm den letzten Schluck von ihrem inzwischen kalten Kaffee. Der farblose Mann in dem bis jetzt langweiligen Film flanierte weiter. Zum nächsten Geschäft. Ging ein paar Schritte. Fast an der Boutique vorbei. Blieb dann stehen, als sei ihm etwas eingefallen. Spähte in die Auslage und kratzte sich am Kopf. Entschied sich schließlich, den Laden zu betreten. Hinter ihm schwang die Glastür zu. Weg war er.

Klappe. Schnitt.

Doreen rutschte auf ihrem Stuhl ganz nach hinten, lehnte den Rücken an die weiche Lehne, streckte die Beine aus und griff nach der Karte. Man musste sich bei solchen Beobachtungsjobs zügeln, um nicht aus Langeweile ständig etwas zu essen. Aber ein Wasser könnte sie sich noch bestellen. Und die Bildzeitung lesen, die Norbert heute früh vom Bäcker mitgebracht hatte. Sie hob die Hand und machte der Bedienung ein Zeichen.

Nachdem die eilfertige junge Frau mit Mineralwasserflasche und Glas zurückgekehrt war, zog Doreen Norberts Aktentasche unter ihrem Stuhl hervor und fingerte die mehrfach gefaltete Zeitung heraus.

Sie kaufte die Bildzeitung nie selbst. Es war ein Wurstblatt mit grob schematischem Menschenbild. Nichts für denkende Menschen. Schwarz und weiß. Gut und Böse. Dazwischen war Vakuum. Einfache Schlagzeilen, launig formulierte Kommentare. Unwichtige Skandälchen von sich wichtig vorkommenden Schauspielern, Musikern oder Möchtegern-Adligen. Und jetzt würde sie sich über die ›Skandale‹ der Schönen und Reichen hermachen. Voller Vorfreude breitete Doreen die viel zu große Zeitung auf dem runden Tischchen aus und vertiefte sich in die Meldungen.

»Da bin ich wieder!« Vergnügt stand Norbert neben ihrem Stuhl und weidete sich an ihrer Verblüffung. Sie hatte ihn, gebannt von all den Schickeria-Nachrichten, gar nicht kommen gehört.

»Du bist ja völlig gefangen in den Meldungen der Yellow Press.« Jovial tätschelte er Doreens Schulter, setzte sich dann ihr gegenüber und fuhr fort. »Also, das war nichts. Sie passte weder in unser Raster, noch passen ihr die geklauten Sachen. Eine alte Stammkundin, hat mir Frau Tetrinski hinterher gesagt. Aber ich werde trotzdem alles fein säuberlich notieren.« Norbert angelte nach seiner Tasche. »Und du kannst inzwischen ruhig weiter lesen.« Er griente, griff nach ihrer Wasserflasche und hielt sie hoch, damit die Bedienung sehen konnte, dass sie leer war.

Doreen sah ihm noch einen Augenblick lang zu, wie er fein säuberlich ein neues Blatt in seiner Mappe mit »Profil/ Kundinnen« beschriftete und richtete dann ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Schlagzeilen der Zeitung.

»Da.« Norbert berührte ihren nackten Unterarm. Seine Handfläche war warm. Doreen folgte dem ausgestreckten rechten Zeigefinger. Beide Seiten der Straße hatten sich in der Zwischenzeit gefüllt. Geschäftsleute eilten mit wichtiger Miene zu bedeutenden Terminen. Eine junge Mutter bugsierte ihren Kinderwagen vorsichtig über die Bordsteinkante. Zwei Omas standen nur wenige Meter entfernt von den beiden Detektiven hinter der Scheibe auf dem Gehweg und tratschten mit aufgeregten Gesten.

Bevor sich die Tür von Frau Nürtigs Boutique schloss, erhaschte Doreen gerade noch einen Blick auf ein jung wirkendes Pärchen, das Arm in Arm im Innern des Geschäfts verschwand.

»Auf ein Neues!« Norbert erhob sich.

Doreen lächelte, während sie sich vorstellte, wie Norbert in der Boutique die unzähligen Krawatten ausprobierte und Anzüge in Augenschein nahm, die ihm auch mit zehn Kilo weniger nicht passen würden. Sie hatte ihn erst ein einziges Mal im Anzug gesehen. Anlässlich eines Theaterbesuchs, bei dem sie einen untreuen Manager im Auftrag seiner Frau observiert hatten. Norbert hatte ausgesehen wie ein Maikäfer, kurz vor dem Abflug, voll gepumpt mit Luft. Nur, dass er nicht brummte. Die ganze Vorstellung über hatte Doreen befürchtet, die Knöpfe seines Jacketts könnten bei einer falschen Bewegung mit lautem Knall abspringen und alle Leute im Theater würden sich nach diesem Paar aus der Provinz umdrehen. Es war nichts geschehen, aber der Anblick hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Gedankenverloren schaute Doreen geradeaus. Theater. Oper. Kino. Seit Monaten war sie abends gerade mal zum Italiener essen gegangen. Mit Norbert. Es gab aufregendere Freizeitbeschäftigungen, als allabendlich vor dem Fernseher zu hocken oder einen Krimi nach dem anderen zu verschlingen. Das musste sich ändern. Sie beschloss, noch diese Woche die aktuellen Kinofilme herauszufinden und Norbert dann zu einem gemeinsamen Besuch einzuladen. Es gab langweiligere Begleiter. Es gab sicher auch bessere, aber momentan war keiner in Sicht.

Die Vormittagssonne lugte ins Innere des Cafés und tastete mit dünnen Lichtfingern die Tischplatte ab. Vorher nicht wahrnehmbare Schlieren und fettige Streifen erschienen auf der Oberfläche der Glasscheibe. Der Kinofilm »Beschäftigte Stadtmenschen an einem x-beliebigen Dienstagvormittag im Frühsommer« wurde dadurch etwas verschwommen. So, als habe der Regisseur einen Weichzeichner über die Bilder gelegt.

Die Gestalt eines großen, schlanken Mannes eilte durch das unscharfe Bild.

Doreens Hände begannen heftig zu zittern. Ihr Herz setzte ein paar Sekunden aus.

Sie hätte diesen Mann aus jeder Entfernung wieder erkannt. Wenige Meter von ihr entfernt eilte er über den Gehweg, ohne innezuhalten.

Paul.

Ihre große Liebe. Der Einzige.

Doreens Herz begann wieder zu schlagen. Holpernd. So, als sei es für immer aus dem Takt gekommen.

Sie schloss den Mund, der die ganze Zeit offen gestanden hatte und versuchte zu schlucken.

Paul war wieder in der Stadt.

Leichenstarre

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