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Der „katholische Literaturstreit“

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Mit seinen unter dem Pseudonym „Veremundus“ veröffentlichten literaturtheoretischen Schriften von 1893 und 1898 trat Muth recht wirkungsvoll und nachhaltig an eine breitere Öffentlichkeit. Er entfachte vor dem Hintergrund der Debatte über die angebliche Inferiorität der deutschen Katholiken im Kaiserreich den „katholischen Literaturstreit“. Besonders seine zweite Schrift erregte die Gemüter. Sie trug den Titel: „Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? Eine litterarische Gewissensfrage.“2 Muth entwarf ein ernüchterndes Bild der katholischen Präsenz im hoch entwickelten Geistesleben der Nation. Er erblickte keinen einzigen katholischen Dramatiker von Rang und sah den katholischen Literaturbetrieb weithin von der Vorherrschaft des Klerus abhängig. In den katholischen Familienblättern tummelte sich eine höchst mittelmäßige Romanliteratur, die ängstlich jeden Anschein sogenannter „Unsittlichkeit“ mied und dazu von einer engherzigen, säuerlich-moralisch gehandhabten, höheren Gesichtspunkten konsequent sich verschließenden Literaturkritik – die nach Muths Beobachtung den Namen kaum verdiente – überwacht wurde.

Muths Analyse war sachlich und schonungslos, zuweilen polemisch, verließ aber nicht den damals üblichen Rahmen konfessioneller Solidarität. Was seine Auffassung von den Inferioritätsvorwürfen unterschied, die von nicht-katholischer Seite erhoben wurden, war sein Glaube, dass die Lage durch die entschlossene Selbsthilfe katholischer Intellektueller und Schriftsteller gebessert werden könne. Am Anfang stand, wie der Titel verhieß, die „litterarische Gewissensfrage“. Die stellte Muth aber den Künstlern aller Konfessionen und Weltanschauungen gleichermaßen. Denn er sah die entscheidende Vorgabe für jeden Künstler in der entschlossenen Besinnung auf den allein maßgeblichen ästhetischen Rang eines Kunstwerkes. Muth hat diesen Standpunkt später vertieft, zur intensiven und breiten Lektüre der von der Allgemeinheit als hochrangig anerkannten Werke aufgerufen, um die Kritikfähigkeit und Selbstständigkeit des mitdenkenden Lesers zu schulen. Dann erst werde jeder für sich prüfen und erkennen können, was sich aus der breiten Lektüre für die eigene Lebensgestaltung annehmen und herausfiltern lasse. Der Leser, so gegen Manipulation gefeit, werde sich in der Regel nur auf eine sehr begrenzte Rezeption einlassen. Damit begegnete Muth den Befürchtungen von konservativer Seite, die unbeschränkte Lektüre selbst der anerkannten Klassiker könne die gläubigen Leser moralisch verderben. Er hielt allerdings an der Kategorie individueller moralischer Verantwortlichkeit in Literatur und Kunst fest, die gewonnene Urteilsfähigkeit schien ihm dafür sogar eine gute Gewähr zu bieten.3

Muth exemplifizierte seine Kunstauffassung an dem nicht ganz neuen, aber verbreitetsten Medium seiner Zeit, dem Roman. Diese Form „epischer Prosadichtung“ konnte auf den meisten Anklang beim Publikum rechnen. Zudem waren auf diesem Gebiet noch einige katholische Literaturschaffende anzutreffen, unter ihnen meist Autorinnen. Auch hier war bemerkenswert, wie er seine Kritik ins Allgemeingültige erweiterte. So verwarf er nicht nur den typisch katholischen Belehrungs- oder „Tendenzroman“, sondern sprach die künstlerische Berechtigung auch jenen höchst didaktisch verfahrenden Pseudoromanen ab, die primär zur „Erörterung wissenschaftlicher Theorien“ oder „zur Schilderung gesellschaftlicher Zustände“ die dichterische Form zwar wählen, aber mit dieser kunstfernen Zielsetzung und Praxis regelmäßig verfehlen würden.4 Ein echter Roman müsse zur wirklichen Beobachtung menschlichen Lebens vordringen, „innere Wahrheit“ und „jene plastische Kraft in der Menschenbildung“ spiegeln, die vom wahren Schriftsteller gefordert sei. Das wahre Kunstwerk solle „den Genießenden seelisch befriedigen, als Zeitbild oder dichterische Lebensschilderung durch Vorführung des Schönen, Menschlich-Bedeutungsvollen, Zweckmäßigen, Großen und Guten Lebenskunst oder praktische Lebensweisheit lehren ... Ein Roman, der belehren, erörtern, beweisen oder bessern will, hat auf rein künstlerische, ästhetische Würdigung keinen Anspruch“.5

Mit diesen abstrakten Feststellungen und Forderungen war aber noch nicht viel gewonnen. Wie waren sie in der gegebenen historischen Situation umzusetzen? Die Lage der Literatur in Deutschland war gekennzeichnet durch eine säkulare Entwicklung: die von der großen Säkularisation und ihren bildungssoziologischen Begleiterscheinungen zuerst hervorgerufene, durch die Weimarer Klassik und die politischen Entwicklungen der zweiten Jahrhunderthälfte beschleunigte Entstehung einer inzwischen beherrschend gewordenen protestantisch oder säkularistisch geprägten Nationalliteratur und Nationalkultur. Hier und nicht anderswo vollzog sich in Deutschland die „allgemeine Kunstbewegung der Zeit“, von der Muth sprach. Darum richtete er an seine Glaubensgenossen den ernsten Appell, Fühlung zu nehmen und Berührung zu suchen mit „den allgemeinen künstlerischen Bestrebungen der Nation“.6 Sein perspektivischer Ansatz unterschied sich insofern deutlich von dem der „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland“ (1838 – 1923). Aus einem eigen-generierten katholischen Kulturverständnis des bayerisch-österreichischen Raums entwickelte diese Gründung des Görres-Kreises einen bemerkenswert breiten internationalen Horizont und lieferte in fast jeder Ausgabe mit großer Beständigkeit anspruchsvolle literarische und künstlerische Beiträge.

Muth listete „die wahren Ursachen unserer literarischen Rückständigkeit“ anhand eines Neun-Punkte-Katalogs auf. Die wichtigsten Mängel waren das fehlende Interesse am „Fortschritt der modernen Dichtung“, die Gleichgültigkeit gegenüber ihrer hoch entwickelten Sprachtechnik und „Charakterisierungskunst“, sodann das Abseitsstehen aus konfessionellem Vorbehalt, aus „Prüderie“ und „Engherzigkeit“. Damit gehe eine durchaus unterentwickelte und teils verfehlte Literaturkritik einher, wie sie in den wenigen katholischen Literaturzeitschriften und -besprechungen zu Tage trete („Stimmen aus Maria Laach“). Man beschränke sich hier auf das Hochhalten moralischer Maßstäbe und trete den Rückzug auf das Proprium an, statt den künstlerischen Wert der besprochenen Werke zum Maßstab zu machen. Schließlich forderte Muth die Gründung einer neuen katholischen Literaturzeitschrift, die sich auf der Höhe der Zeit mit den Problemen und Tendenzen der neuesten Literatur auseinandersetzen und selbst produktiv zum Literaturschaffen beitragen würde.

Muth geriet mit seiner Kritik in eine lang anhaltende Kontroverse mit dem aus Böhmen stammenden österreichischen Literaturkenner und Schriftsteller Richard Kralik, Ritter von Meyrswalden, Herausgeber einer eigenen Zeitschrift (seit 1906). Sie trug den Titel „Gral“ und erinnerte damit an den sakralen, geheimnisvoll-sagenhaften, Himmel und Erde verbindenden Glücksspender des Mittelalters. Kralik, im katholischen Südosten des großdeutschen Kulturraumes beheimatet, bestritt die Inferioritätsthese, was Muth seinerseits zurückwies, und sah als Heilmittel an, auf literarischem Gebiet so „einseitig katholisch zu sein, wie unsere Gegner einseitig antikatholisch sind“.7 Darüber hinaus spiegelte der Streit die Unterschiedlichkeit der Situation in Wien und München, die sich aus den Kriegen und politischen Auseinandersetzungen um die Einigung Deutschlands 1866 bis 1871 ergeben hatte. Kralik glaubte noch auf einen Fundus tradierter katholisch beeinflusster Literalität zurückgreifen zu können, dagegen gewahrte Muth im kleindeutschen Reich kein nennenswertes katholisches Kulturschaffen mehr. Während Kralik die Wiederanknüpfung an einer universellen katholischen Kultur, wie sie für ihn allerdings eher in der Romantik als im Barock verkörpert gewesen war, eine „restitutio“, anstrebte, setzte sich Muth das bescheidenere Ziel einer „institutio“, einer Einfügung der eigenen Ansätze und Positionen in den flutenden Strom der wohl entwickelten Nationalkultur kleindeutscher Prägung.8

In Rückkoppelung mit der fehlenden katholischen Präsenz an den Universitäten forderte er, dort überhaupt erst die Vorbedingungen dafür zu schaffen, dass im fortschreitenden „Gährungsprozeß“ des Geisteslebens eine Urteilsbildung und Stellungnahme aus katholischer Sicht außerhalb der eigenen eng gesteckten Kreise stattfinden könnten. Wo und wie sollten die Studierenden Orientierung finden, wenn sie, wie es an den Bildungsstätten der Nation geschah, mit der Diesseitsphilosophie eines Friedrich Nietzsche oder den naturalistischen Anklagen Henrik Ibsens konfrontiert wurden?9 Muth verwies auf das Vorbild der im politischen und sozialen Bereich für den Katholizismus bereits errungenen Autonomie und Anerkennung: In Parlament und Öffentlichkeit hatten nach dem Kulturkampf die mit „thatkräftigem Gegenwartssinn“ ausgestatteten Anführer der Deutschen Zentrumspartei große Erfolge verzeichnen können und sich einen festen Platz erobert.10 Sollte sich im Literatur- und Kulturleben nicht durch „positive Mitarbeit“ ein Gleiches erreichen lassen? Eine psychologische Voraussetzung, sich an der Inferioritätsdebatte so spektakulär zu beteiligen und eigene Schuldzuweisungen vorzunehmen, lag auf katholischer Seite sicherlich auch in einem gestärkten Selbstbewusstsein, das ohne die Festigung des politischen und sozialen Katholizismus wohl kaum zustande gekommen wäre.

Muth ging im Grunde von einer pluralistischen Einstellung aus, die einen Wettbewerb auf der Basis ähnlicher oder gleicher Zielvorgaben voraussetzte. Er argumentierte letztlich nicht inhaltlich oder ideologisch, zeigte sich weder fasziniert von einer den rückhaltlosen Anschluss verlangenden, jederzeit überlegenen Nationalkultur noch veranlasst, direkt oder polemisch Respekt für herkömmliche katholisch-kirchliche Positionen einzufordern. Er bejahte und begründete vielmehr die gemeinsame Ausrichtung am Maßstab der ästhetischen Perfektion, an der künstlerischen Freiheit von vordergründigen Zwecken, Interessen oder didaktischen Lehrstunden und an der allgemeinen Verbindlichkeit einer idealen ästhetischen Gesinnung. Er bekannte sich zur Aufgeschlossenheit für den kulturellen und künstlerischen Fortschritt – wo dieser auch anzutreffen sei. Einen bloßen Standpunkt des l’art pour l’art hat er dennoch nicht vertreten. Seine Stellungnahme zielte letzten Endes – nach der politischen – auf die kulturelle Integration der Katholiken zuerst in das Kaiserreich, dann in die Weimarer Republik. Dahinter stand das optimistische Vertrauen, dass in Deutschland ein kultureller Gleichklang, ein gemeinsames kulturelles Wirken, die Erreichung der Kultureinheit über konfessionelle und weltanschauliche Schranken hinweg möglich sei.

Eigensinn und Bindung

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