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Die Sache von „unbegrenzter Elastizität“

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„Ihre Fühlung zum Christentum hatte zwar viele Wandlungen erfahren und ließ nie ab, sich umzugestalten und zu verschieben“, schreibt die Autorin, den späteren Gedanken der eingangs zitierten Auskunft variierend, bereits über die Heldin ihres Romans „Das Exemplar“ (1913): „Für nichts war ihr Auge so hart und geschärft wie für die Scheidungen, die hier zwischen Kern und Schale vorzunehmen sind.“ Weil sie vom Katholischen groß und eigenwillig denkt, fühlt sie sich in seiner realen Existenzform nicht immer beheimatet: „Auf ihren Katholizismus, der ihr von anderen Katholiken gern bestritten wurde, tat Mariclée sich nämlich viel zugute. Immer vorschnell hielt sie ihn für würdiger als den der anderen, die sich bescheiden wollten, während sie selbst den Gedanken, der ihn trug, so stark gefunden hatte, daß sie ihn, wie ein großes Kauffahrteischiff, mit allem befrachtete, was die Welt an geistigen Werten enthielt, und ihm außer den neun Musen con allegria den ganzen Olymp aufzuladen begehrte. Infolge ihrer hohen Meinung von der Tragfähigkeit jenes Gedankens war sie von einem geradezu uferlosen Liberalismus. Möglich, daß ein Körnchen Weisheit darin steckte.“10

Selbstironie macht sich natürlich auch hier wiederum geltend. Gleichwohl kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der Begriff des Katholischen für Annette Kolb in beträchtlichem Maße inklusiv ist. Er fungiert als ein Passwort für Weite und Assimilationskraft, eine Arche des Geistes sozusagen. In einer bestimmten Glaubens- und Lebensform wirksam, übergreift er doch deren sichtbare Grenzen. Annette Kolb war nicht von Ängsten geplagt, dass Umrisse damit ins Unkenntliche verschwimmen. Fast Unvereinbares, nur scheinbar einander Ausschließendes miteinander zu verbinden, ja einzuschmelzen: darin besteht für sie der Kern des Katholischen, sein „tiefinnerstes Geheimnis“.11

Annette Kolb redet keiner Identitätssicherung durch klare Unterscheidung von Draußen und Drinnen das Wort. Synthesen und Adaptationen sind vielmehr ihre Leidenschaft: „Solche Katholiken aber frönen innerhalb des Credo quia absurdum einem Freidenkertum ohnegleichen.“12 Andererseits ist, mit einer vertrackten Formulierung, deswegen auch „so mancher (...) katholisch, ohne es zu wissen, und umgekehrt“ (M 306)13 – erst recht dann, wenn die Angelegenheit, wie oft bei ihr, nach dem „Temperament“ betrachtet wird (S 154). Diese Haltung verträgt sich auf das Sinnigste mit Annette Kolbs Übersetzung eines Buchs wie „Orthodoxie“ von Gilbert Keith Chesterton (1909), in dem die Apologie katholischer Rechtgläubigkeit sterile Vorstellungen von Rationalität ins Wanken bringt. Auch was Chesterton an seinem Gegenstand faszinierte, war dessen Koexistenz von Extremen.

Stets aufs Neue wendet Annette Kolb sich daher gegen das, was sie in ihrer religiösen Internatserziehung erstmals erlitt: die verbale Zementierung, das (womöglich noch autoritär verfügte) Einschließen des Göttlichen im Begriff, mit dem man es dingfest gemacht zu haben wähnt. Ganz abgesehen davon, dass damit eine Immunisierung sowohl gegen die Erfahrungen der Subjekte als auch der Geschichte ins Werk gesetzt wird. „Alle Wörtlichkeiten trieben sie die Wände hoch“ (D 32), heißt es, beispielhaft für weitere Stellen dieser Art, im Roman „Daphne Herbst“ (1928) von der Mutter der Protagonistin. Implizit richtet sich derlei natürlich gegen den kirchlicherseits als Antwort auf die Dynamisierung und Historisierung des modernen Bewusstseins aufgerichteten neuscholastischen Argumentationsrahmen; nicht minder gegen heute nachgerade grotesk wirkende Entscheidungen der Päpstlichen Bibelkommission zur Abwehr der historisch-kritischen Exegese, mit denen noch 1909 etwa die Geschichtlichkeit der biblischen Genesis-Erzählungen dekretiert wurde.14

Das Katholische, wie Annette Kolb es sieht, hält nicht geringe Herausforderungen bereit. Immer handelt es sich bei ihm auch um etwas Komplexes, Bewegliches, Schillerndes, und das durchaus im positiven Sinne: „In richtiger Distanz zu dem ewig fluktuierenden Katholizismus zu bleiben ist ja eine so schwere und immerwährende Aufgabe, daß eine ganze Anzahl Katholiken, und gerade die sympathische Sorte, da sie sich nicht lossagen wollen, lieber Scheuklappen anlegen, als über ein so verfängliches und verwirrendes Thema nachzudenken. Und ich begreife sie sehr wohl. Dem Geiste nach ist der Katholizismus etwas in seiner Vollgültigkeit wirklich zu Geheimes und zu Irisierendes.“ Ihn mit „Anachronismen“ (F 191) oder dem bloßen Rückzug auf dogmatische Gewissheiten domestizieren zu wollen, worin seine Leuchtkraft gerade für manche zeitgenössische Intellektuelle bestehe – ausdrücklich genannt wird Paul Claudels Neigung zu statischen Denkmodellen –, heißt ihn in jedem Falle zu verfehlen. Zugleich aber ist in der realen Gestalt der Kirche, wie defizitär im Einzelnen sie sein mag und von wie „sehr merkwürdigen“ Menschen auch immer bevölkert (F 189), der Kern unabgegoltener Verheißung lebendig, die Wesenstiefe und eine nach vorne gerichtete Dynamik miteinander verbindet. Deswegen solle man sich selbst in Zeiten offizieller Engführung des Katholizismus nicht beirren lassen: Hinter einer Gegenwart nämlich, der „wir doch sonst lieber heute als morgen davonliefen“, steht „das Rätsel (...), das wie eine noch ungehobene Monstranz weit hinaus über unser Dasein schimmert. Weil hier ein Seiendes inmitten der ewig zusammenstürzenden Gestalten seinen Bann ausstrahlt.“ (F 194)

Das „Göttliche“ ist für Annette Kolb „jenseitig“ (SB 144). Aber es hat Spuren im Diesseits hinterlassen. Das katholische Verhältnis zum Irdischen ist daher „nicht nur tributär“ (D 78), sondern bejaht dessen „unendliche und transzendente Hintergründe“ (M 306). Modus solch doppelter Annäherung aber ist die Kunst. „Wozu wäre Kunst, wenn nicht, um zu umschreiben?“ (M 304), fragt Annette Kolb. Mit derjenigen der Antike beginnt für sie demzufolge der „elementare Auftakt der messianischen Zeit“: das Bewusstsein der Herausforderung des geistigen Menschen durch das Geheimnis Gottes, seine Hinordnung auf dieses. „Alle Künste (...) waren von jeher durch den Pulsschlag, oder den Gedanken eminent katholisch. Aber ein so flutendes Meer wurde zum ungespeisten Gewässer verdrängt, das Universalste zum Einschichtigen, die Sache, deren Schlagwort unbegrenzte Elastizität ist, zur verdrießlichen Enge.“ (F 203 f.) Bloße Einforderung „korrekter“ Doktrin jedenfalls wird zur Selbstverhinderung: Darin besteht eine Kritik über die Zeit jener „antimodernistischen“ Defensive hinaus, der sich diese Zeilen verdanken.

Für Annette Kolb haben gerade die bildenden Künstler, die Dichter und die Musiker das „unrigorose Stichwort“ des Katholizismus „nie verkannt“ (M 306) – aber nicht die Ästhetik selbst, sondern das Mysterium steht hierbei im Vordergrund. Ein Bauwerk wie beispielsweise die Kathedrale von Chartres vermittle daher den „ethischen Eindruck einer aus Stein, Marmor und Glas formulierten Wahrheit, einer Vérité intrinsique, deren Zone jenseits aller Wörtlichkeit liegt“ (M 304). In der vereinseitigten Ratio- und Logozentrik, dem Überhandnehmen des Alltäglichen und Pädagogischen, der Verwandlung der Kirchen zu „Schulsälen“ und ihrer Ausleuchtung mit „Alltagslicht“ (M 305), besteht für Annette Kolb denn auch der eigentlich „leidige Bruch“, der mit der Reformation eintrat, denn, schreibt sie mit Großmut der vorreformatorischen Kirche gegenüber, „über die Notwendigkeit von Reformen war man sich ja einig“ (M 306).

Unter zukünftiger Perspektive jedenfalls bleiben Selbstkorrektur und Entwicklungsoffenheit unhintergehbar. Einmal spricht Annette Kolb von „einer ehrwürdigen und wetterfesten, aber der Umgestaltung so dringend benötigenden Feste“ (F 189). In jedem Falle bedarf es dafür der Geduld, „weil ja die Vorbedingungen noch nicht geschaffen“ sind (D 77, vgl. 86). Gleichwohl gilt: „Auch für den Katholizismus wird eine neue Stunde schlagen: die von Katharina von Siena so heiß ersehnte ,Reformation‘ steht immer noch aus.“ (M 306)

Neben und vor Bernard von Brentanos „Theodor Chindler“ (1936) ist Annette Kolbs „Daphne Herbst“ (1928) der katholische Familienroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie als ein bewusst gesetztes Zeichen für die Versöhnung der Gegensätze heiratet seine Heldin, dem Willen ihres Vaters zuwider handelnd, einen Protestanten. Obwohl sie selbst mit Begriffen des „Heidnischen“ in Verbindung gebracht wird (D 12, 63, 79) und trotz ihrer „Freigeistigkeit“ (D 88), erlebt Daphne tief reichende „religiöse Abenteuer“ (D 44). Sie spricht zwar nicht gern davon, glaubt aber doch „alles“, was das apostolische Bekenntnis fordert (D 87). „Strengste Zurückhaltung“ und „Intimität“ sind ihr wichtiger als öffentliches Zur-Schau-Stellen und ein damit verbundener „Jargon vom lieben Gott (...) und der ewigen Seligkeit“. Mit ihrer religiösen Befindlichkeit sieht die junge Frau sich auf einer Fährte „zur Freitreppe, von wo aus gesehen das Engste, Obskuranteste zum Vieldeutigsten und Kosmischen sich weitet“, das die sichtbare Realität überschreitet und in katholischer Frömmigkeit viele Bezugspunkte hat.

Eine weitere Spannung ist bezeichnend für die Psychologie und Dialektik eines von Annette Kolb bevorzugten Typus des intellektuell Katholischen angesichts der Moderne: „zu glauben und nicht zu glauben zugleich“ (D 88 f.). Dahinter verbirgt sich letztlich eine Ahnung jenes vielleicht höchsten Paradoxes, auf welches das religiöse Begriffsvermögen zuläuft: „Wer durfte das Recht des Glaubens beanspruchen, der dem anderen das Recht des Unglaubens bestritt?“ (D 78 f.) Unter diesem Blickwinkel ist wahre Religiosität immer größer selbst als ihre Negation, da sie diese einzubegreifen vermag.

Eigensinn und Bindung

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