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Nationalsozialismus und Nachkriegszeit
ОглавлениеNicht nur ihre freiheitlichen Ansichten sind es, die Annette Kolb schon während der Endphase der Weimarer Republik in Widerspruch zur Ideologie der Nazis bringen. Unter der Überschrift „Analphabeten“ lautet eine sarkastische Notiz ihres „Beschwerdebuchs“ (1932): „Im ,Völkischen Beobachter‘ steht, daß die Evangelien kein Wort enthalten, das im pazifistischen Sinne auszulegen sei.“ (B 120)25 Mit den faschistischen Strömungen sieht sie eine gegenchristliche Welt unter dem Vorzeichen den Schwächeren vorenthaltener Gerechtigkeit aufsteigen. Auch den Bolschewisten gilt ihre Kritik. Beim Sozialismus hingegen nimmt sie „ein in die Praxis gesetztes Agens des Christentums, ohne dessen Theorie“, wahr (B 120). Später spitzt sie diesen Satz selbstkritisch zu: „Hätten wir seiner bedurft, wären wir minder schlechte Christen gewesen?“ (SB 144)
Die Haltung des Heiligen Stuhls der nationalsozialistischen Regierung gegenüber ist ihr ein Ärgernis: „Viele Leute sind aus der Kirche heraus wegen der Haltung des Centrums“, schreibt sie am 27. April 1933 aus Basel an René Schickele: „Ermächtigungsgesetz. Die Priester sollen vielfach dagegen gewesen sein, diesem infamen Papst hätten sie nicht gehorchen sollen.“ (BW 55) Aufgrund der Verhandlungsbereitschaft Pius’ XI. mit den Nationalsozialisten hatten die deutschen Bischöfe in einer Erklärung vom 28. März 1933 frühere Warnungen vor der NSDAP „nicht mehr als notwendig betrachtet“.26 Am 16. August des gleichen Jahres kehrt im Briefwechsel mit dem Freund die Wendung von „diesem entsetzlichen Papst“ wieder (BW 71): Pius XI. hatte am 20. Juli mit Deutschland das so genannte Reichskonkordat geschlossen und damit zum Prestigegewinn wie zur Stabilisierung der NS-Diktatur beigetragen.
Nach dem Krieg tritt Annette Kolb gegen Tendenzen zur Verdrängung von Schuld und Verantwortung für die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland ein. Ganz in ihrem Sinne sind Reinhold Schneiders Aufrufe zur radikalen Gewissenserforschung, die allerdings auf taube Ohren stoßen: Dieser halte das „Unglück“ seiner Landsleute „mitnichten durch ein Hinwegsehen über dessen Ursachen [für] gelindert, oder wenn sie der Zeit (die nicht alle Wunden heilt) durch Vergessenheit vorbeugen wollten. Denn Vergessenheit wäre kein Weg“ (SB 127). Neben Charles de Gaulle erscheint ihr Konrad Adenauer, den sie geradezu hymnisch rühmt, als Bürge für eine europäische Friedensordnung. Gegenläufig dazu erscheint der alten Dame die Welt der 60er-Jahre im Zeichen funktionalistischer Modernisierungsprozesse zunehmend als „verhäßlicht“ und „seelisch verarmt“ (Z 204): „Wie nie zuvor sehen wir die Anbetung des Goldenen Kalbes so im vollen Schwung“ (Z 202). Verlust des Sinns für Schönheit aber ist ein Zeichen für den Verlust an Sinn überhaupt.