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Dichtung als Antwort
ОглавлениеDer dichterische Weg Gertrud von le Forts in die „religiös-metaphysische“ Existenz mit stark ausgeprägtem Geschichtsbewusstsein muss vor allem vor dem Hintergrund der christlichen Tradition gesehen werden. Die Katholische Bewegung des 19. Jahrhunderts zeigte ihr die Möglichkeit einer allegorisch-politischen Deutung und eine enge Verbindung zwischen tiefster Innerlichkeit und engagiertem Handeln in der Welt. Die christliche Autorin betrachtete die dichterische Tätigkeit als eine Art der Neubegründung der Humanität und die Dichtung selbst als eine „vermittelnde Aufgabe“. Sie betonte immer wieder die mannigfache Wechselbeziehung zwischen der deutschen Dichtung und der christlichen Religion in Form eines gegenseitigen Einflusses, der kontinuierlich vom Mittelalter bis zu der der Romantik gereicht habe. Auf diese Weise knüpfte sie auch an die Geschichtsauffassung Ernst Troeltschs an, der in seinen Schriften das Christentum mit allen Errungenschaften der Philosophie und Kultur zu vereinigen suchte, um dadurch unter anderem das neue Antlitz des Christentums mitzuformen. Bei der Dichterin war jedoch weder eine heimliche „Rückkehr zum Mittelalter“ beabsichtigt, noch eine geschichtsphilosophische Romantik, die darauf abzielte, die religiöse und kulturelle Entwicklung des Abendlandes einer bestimmten Epoche als absoluten Höhepunkt künstlich festzulegen. Im Geleitwort zum Essay „Vom Paradox des Christentums“ (1952) von Graham Greene legte Gertrud von le Fort ihr Verständnis von der wahren christlichen Dichtung dar. Diese ist von den Schablonen bürgerlicher Moral ebenso wie denen einer engherzigen Moraltheologie befreit, ist dem Staat und der Gesellschaft gegenüber nicht folgsam und sympathisiert mit menschlicher Schwäche, ja Fragwürdigkeit.16 In der Erfüllung dieser Aufgabe veröffentlichte Gertrud von le Fort u. a. auch ihre „Aufzeichnungen und Erinnerungen“ (1951) oder Essays wie „Die Frau und die Technik“ (1959) und „Woran ich glaube“ (1968). Darüber hinaus schuf sie in dieser Zeit eine Reihe von Werken, in denen sie tradierte religiöse Inhalte im Sinne einer schöpferischen Restauration bearbeitete. Zu ihnen gehören unter anderem die Novellen „Die Consolata“ (1947), „Der Turm der Beständigkeit“ (1957) und „Das fremde Kind“ (1961).
Gertrud von le Fort trat in ihrer Dichtung den säkularisierenden Tendenzen in der Lebenswelt und Kultur der Nachkriegszeit mit Bedenken entgegen. Die Säkularisierungswelle führte ihrer Meinung nach zum Verlust wesentlicher Inhalte, unter anderem zur Verweltlichung der christlich-kirchlichen Tradition, welche das europäische Selbstverständnis seit Jahrhunderten tief geprägt habe. Das Verständnis der Säkularisierung als problematische Transformation steht bei Gertrud von le Fort mit der Beobachtung von Verlusten im engen Zusammenhang. Vor dem Hintergrund einer kritische Einstellung gegenüber der eigenen Zeit drückte sie das Bemühen um christliche Selbstbesinnung und um eine christliche Durchdringung des Lebens aus, wobei sie sich eben hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Kirche eigensinniger als in der Zwischenkriegszeit zeigte. Ihre Loyalität jedoch war ungebrochen. Mit der Legende „Das Schweigen“ verteidigte die bereits 91-jährige Autorin 1967 Papst Pius XII. gegen den Vorwurf des Versagens angesichts der Judenverfolgungen im Dritten Reich (wo sie übrigens selbst als Verfasserin unerwünschter Texte galt). Unmittelbarer Anlass für dieses Werk war das Drama „Der Stellvertreter“ (1963) von Rolf Hochhuth.
Gertrud von le Forts Anliegen blieb es nicht zuletzt, das biblische Zeugnis in die Sprache und Vorstellungswelt der Gegenwart zu übertragen, wobei sich in ihrem Werk zwei Hauptaspekte, der prophetische und der eschatologisch-verheißende, abzeichnen. Die literarische Rezeption der Bibeltexte bei ihr umfasst paraphrasierende Texte, aktualisierende Inhalte und transfigurierende Neuschöpfungen, wie etwa in der Novelle „Die Tochter Jephtas“ (1964), wo die biblischen Gestalten ihrer historischen Kostüme entkleidet werden.17 Ihre dichterische Aufgabe insgesamt begriff sie im Sinne dessen, was ihr protestantischer Kollege Jochen Klepper einmal stellvertretend für zahlreiche christliche Autoren formulierte: als „menschlichen Lobgesang in Antwort auf das göttliche Wort“.18