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Vision eines künftigen Europa
Оглавление1932 erschien der Essay „Betrachtungen über Vergil, Vater des Abendlandes“, im Novemberheft des „Brenner“.57 Zur Vision eines künftigen Europa gehörte für Haecker die lateinische Antike. Dieser Essay war sozusagen die „Antwort“ auf ein Buch von Fritz Büchner mit dem Titel: „Was ist das Reich? Eine Aussprache unter Deutschen“, das auch als Aufsatzreihe in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ veröffentlicht worden war.
Vorangegangen war Haeckers „Satire und Polemik“ hinsichtlich des Diktats von Versailles. Seine Begründung für eine europäische Vision liegt im Christentum und „humanen Ideen der Versöhnung“.58 Auch im sechsten Flugblatt der „Weißen Rose“ geht es um die Verantwortung des Einzelnen in einem neuen Staat: „Es gilt der Kampf jedes einzelnen um unsere Zukunft, unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewussten Staatswesen.
(...) auch der Satiriker erreicht im Verborgenen zuweilen etwas. Wo noch eine natürliche geistige Jugend ist, da stärkt er ihre Angst vor der Leere und dem Geschwätz, ihren Mut zur Höhe und Fülle der Weisheit, ihren Abscheu, ihre Begeisterung, ihren Entschluss, ihr Schweigen und ihr Wort.“59
Doch anders, als der Philosoph Haecker die „Tat“ beurteilte, die er niemals als eine Aktion wie die der Geschwister Scholl sah, verstand die „Weiße Rose“, die in ihren Flugblättern immer wieder an den passiven Widerstand appellierte, für sich selbst eine Tat im vollen Wortsinn auch als physischen Einsatz. Nur so sind letztlich ihre Aktionen zu verstehen. Auch im zweiten Flugblatt entwirft sie eine Zukunftsvision:
„Es ist uns nicht gegeben, ein endgültiges Urteil über den Sinn unserer Geschichte zu fällen. Aber wenn diese Katastrophe uns zum Heile dienen soll, so doch nur so: Durch das Leid gereinigt zu werden, aus der tiefsten Nacht heraus das Licht zu ersehnen, sich aufzuraffen und endlich mitzuhelfen, das Joch abzuschütteln, das die Welt bedrückt.“60
Der Gestapo waren Haeckers Kontakte zur „Weißen Rose“ nicht verborgen geblieben. Unmittelbar nach der Verhaftung der Geschwister Scholl fand in Haeckers Wohnung eine vierstündige Hausdurchsuchung statt. Haecker wurde in das Münchener Gestapo-Gefängnis im Wittelsbacher Palais gebracht, dort vernommen und abends wieder entlassen. Am gleichen Tag entging auch eine Abschrift seines Tagebuch-Manuskripts bei einer Durchsuchung im Hause Karl Muths dem Zugriff der Gestapo.61
Am 1. März 1943, eine Woche nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts, veranlasste die Gestapo in ihrer Nervosität und der Annahme, dass sich eine viel größere Zahl von Studenten, als ihr bekannt geworden war, hinter der Weißen Rose verberge, die Einleitung eines neuen Verfahrens gegen Theodor Haecker wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“. Dieses wurde jedoch wieder eingestellt.
Theodor Haeckers Bücher waren nicht nur Bücher, seine Vorträge und Lesungen nicht nur kulturkritisch-philosophische Präsentationen, sondern vielmehr „Konfessionen“, die für die Zukunft wirksam werden sollten. „,Vergil. Vater des Abendlandes‘: das war nicht nur ein Buch, das war ein kulturpolitisches Programm, übrigens schon 1931 beim ersten Erscheinen.“62 Die „Tag- und Nachtbücher“ waren nicht nur Tagebücher, sondern mit ihren Inhalten von Dichtung, Philosophie, Ästhetik, Theologie und Politik ein Lebensprogramm gegen den totalitären Staat. In ihrem Bezug auf „Themen der neudeutschen Herrgottreligion“, „Hybris der Kriegstechnik“, „Hybris des Menschen“, „Rolle der Kirche“, „Überlegungen zur Stunde des Bösen“, „Auftrag und Gebot der Liebe“ und „Aufruf an den Einzelnen zur Umkehr“ gemahnen sie auch uns Heutige.63 Mit den grundlegenden Fragen nach Wahrheit und Existenz überdauern sie wohl jegliche Zeiten.
Schriften von Theodor Haecker: Werke. 5 Bde. München 1958 – 1967 (Bd. 1: Essays; Bd. 2: Tag- und Nachtbücher. 1939 – 1945; Bd. 3: Satire und Polemik. Der Geist des Menschen und die Wahrheit; Bd. 4: Was ist der Mensch? Der Christ und die Geschichte. Schöpfer und Schöpfung; Bd. 5: Vergil. Schönheit. Metaphysik des Fühlens) – Eva Dambacher (Bearb.): Bibliographie Theodor Haecker. In: Hinrich Siefken (Bearb.): Theodor Haecker. 1879 – 1945. Marbach a. N. 1989, 71 – 95.
Sekundärliteratur: Detlef Bald (Hg.): „Wider die Kriegsmaschinerie“. Kriegserfahrungen und Motive des Widerstandes der „Weißen Rose“. Essen 2005, 47 – 54 – Gebhard Fürst/Peter Kastner/Hinrich Siefken (Hg.): Theodor Haecker (1879 – 1945). Verteidigung des Bildes vom Menschen. Stuttgart 2001 – Winfrid Halder: Die Spuren des Widerstandes. Theodor Haecker in der politischen Landschaft des frühen 20. Jahrhunderts – eine Spurensuche. In: Freiburger Diözesan-Archiv 127 (2007), 105 – 134 – Bernhard Hanssler/Hinrich Siefken (Hg.): Theodor Haecker: Leben und Werk. Texte, Briefe, Erinnerungen, Würdigungen. Zum 50. Todestag am 9. April 1995. Esslingen 1995 – Klaus Kunissen: Theodor Haecker als Literaturkritiker. In: „... aus einer chaotischen Gegenwart hinaus ...“ Gedenkschrift für Hermann Kunisch. Hg. v. Lothar Bossle. Paderborn 1996, 53 – 65 – Florian Mayr: Theodor Haecker. Eine Einführung in sein Werk. Paderborn/München/Wien/Zürich 1994 – Barbara Schüler: „Geistige Väter“ der „Weißen Rose“. Carl Muth und Theodor Haecker als Mentoren der Geschwister Scholl. In: Rudolf Lill/Klaus Eisele (Hg.): Hochverrat? Neue Forschungen zur „Weißen Rose“. Konstanz 1999, 101 – 128 – Hinrich Siefken: Der Schriftsteller Theodor Haecker und die Satire. In: Heidrun Colberg/Doris Petersen (Hg.): Spuren. Festschrift für Theo Schumacher. Stuttgart 1986, 435 – 452 – Ders.: Thomas Mann und Theodor Haecker. In: Internationales Thomas-Mann-Kolloquium 1986 in Lübeck. Bern 1987, 246 – 270 – Ders.: Die Weiße Rose und Theodor Haecker. Widerstand im Glauben. In: Ders. (Ed.): Die Weiße Rose. Student Resistance to National Socialism 1942/43. Forschungsergebnisse und Erfahrungsberichte. Nottingham 1991, 117 – 147 – Ders.: Theodor Haecker, Tag- und Nachtbücher 1939 – 1945. Diaries from the „Dark Ages“. In: Janet Wharton (Ed.): German Politics and Society from 1933 to the Wende. Nottingham 1992 – Paulo Astor Soethe: Der Christ – ein Satiriker? Ein Versuch, Heinrich Böll und Theodor Haecker ins Gespräch zu bringen. In: Stimmen der Zeit 217 (1999), H. 5, 341 – 350 – Sönke Zankel: Theodor Haecker und die Juden. In: Niklas Günther/Ders. (Hg.): Abrahams Enkel. Juden, Christen und die Shoah. Stuttgart 2006, 29 – 40