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Ermangelung

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Mit seinem zeitörtlichen Ansatz einer Geschichte im Symbol wählt Konrad Weiß einen ähnlichen Weg wie der große mittelalterliche Philosoph Johannes Duns Scotus. Dieser versteht unter „haecceitas“ die mit der Vernunft nicht greifbare Erschaffenheit des konkreten Dinges. In jedem Ding gibt es einen kreatürlichen Rest, der nicht zu verrechnen und zu begreifen ist. Ludo Verbeeck führt hierzu aus: „Die Aufklärung konnte den von der Vernunft nicht greifbaren kreatürlichen ,Rest‘ am Ding nur als Unordnung und Chaos empfinden, weswegen dieser Rest von Kant als ,Ding an sich‘ in die Wüste der Verständnislosigkeit geschickt wurde. Gerade aber bei den bedeutenden Dichtern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist jener Gedanke des Duns Scotus wieder erstanden. Man sollte hier an den unerhörten Satz denken, den Hölderlin in den handschriftlichen Entwurf zu der Hymne ,Mnemosyne‘ (ganz spät entstanden 1805/6) eingetragen hat, und der lautet: ,Die Apriorität des Individuellen über das Ganze‘. Man darf behaupten, daß der erstaunliche Eintrag beim späten Hölderlin wohl die Überwindung des Idealismus markiert.“25 Die Dichtung hat aber nicht nur neu den Weg zum Individuum zu finden, sondern auch und vor allem zum Existenziellen, wie Konrad Weiß es formuliert: „Unter den Möglichkeiten der Dichtung ist diejenige, die den Menschen selber angeht, doch die schwerste und seltenste.“26

Als weitere Namen für jenen Weg, den Konrad Weiß mit seinem Ansatz einschlägt, wären zu nennen Annette von Droste-Hülshoff und vor allem der englische Dichter Gerald Manley Hopkins. Der Vorrang, den Konrad Weiß dem „Wort in seinem Teil“ zuspricht, ist ein Plädoyer für das Einzelwort, nicht jedoch für die Grammatik und die logische Struktur.

Gegenüber Aufklärung und Idealismus zeigt sich für Konrad Weiß eine andere Weltlichkeit der Erde und des Geistes. Alles beginnt damit, dass der Mensch sich in seinem Dasein als hin- und hergerissen erfährt. Unentwegt steht er in ausgesetzten und spannungsgeladenen Positionen. Er gerät in eine leidvolle Zerreißprobe, die durch die human-autonome Selbstverwirklichungsthese wohl überspielt, aber nie beseitigt werden kann. Die Erfahrung von Schuld und Sünde ist das Signum aller Kreatürlichkeit in den Spannungen von Welt und Heil, Geschichte und Reinheit.

Was Konrad Weiß auf seinem Lebensweg zunächst als Krise des Übergangs von der „Jugendempfindung“ zur „Mannesaufgabe“ erfahren und in der Studienzeit als das Ungenügen der Idee und des Begriffs erkannt hat, wird ihm später in seinem dichterischen Werk immer deutlicher zum Ausdruck geistiger Wirklichkeit:„Wie lange man braucht, um vom Theologischen, Begrifflichen loszukommen!!“27

Die geistige Wirklichkeit wird nicht dargestellt in einer Theorie und Spekulation, sondern abgelesen und entdeckt im Erleben der Natur. Schon in der Begegnung mit einer Krähe oder einem Spatzen zeigt sich dem Dichter ein tieferer Hintergrund und eine verborgene Weisheit: Die Welt ist Gleichnis eines umfassenden Sinnes – „das Ganze lebt aus den Teilen“, und die Teile tragen den Sinn des Ganzen zusammen.28 Das Ganze lebt sich stets erobernd aus den Teilen, nicht sind die Teile umgekehrt aus einer „idealen“ Ganzheit herzuleiten. Dieses „dividuale“ Grundgesetz des Christentums steht jedem integralen Denken des Klassischen und Idealistischen entgegen. Die Geschichte „bricht“ alles Irdische, und in den „Frakturen“ und „Fragmenten“ wird das Lebendige sichtbar, das mehr ist als eine „Idee“. Der Mensch „kann nur mit dem arbeiten, was ihm mangelt“.29 Das „Frakturhafte des unvergleichlichen Einzelschöpfungssinnes“30 gilt es zu stärken gegenüber harmonisierenden Tendenzen der Idee und Selbstvollendung.

Ähnlich wie bei der Droste werden auch bei Konrad Weiß Naturgedicht und geistliches Gedicht eins, denn die Natur ist für ihn transparent für die geistige Wirklichkeit. Beide, Natur und Geist, haben zwar ihr Eigengewicht, aber sie stehen zueinander in einem Gleichgewicht. Ja, die inneren Kämpfe um Dasein und Leben treten in der Natur nach außen und nehmen dort eine fassbare Gestalt an. Dies erkennt, wer seinen Blick auf das Einzelne lenkt. Nicht das Gesamtgefüge, sondern die einzelnen Dinge lassen den Menschen die in ihnen verborgene geistliche Wirklichkeit der Schöpfung erkennen.

In der äußeren Wirklichkeit lernt der Mensch, die geistigen Tiefenschichten seines Lebens zu erfassen. Im Umgang mit den Dingen des Lebens und der Natur erschließt sich ihm zunehmend seine eigene innere Wirklichkeit und Befindlichkeit; so wird er bereit, sich immer mehr in den eigenen inneren Kern führen zu lassen. Dabei brechen in ihm die Erfahrungen seiner Ohnmacht und des Leidens auf, gepeinigt von heftigem Sehnsuchtsverlangen. Konrad Weiß erfährt als christlicher Dichter die Natur aus der Seele, nicht umgekehrt die Seele aus der Natur. Diese kann nicht das Letzte sein, denn sie kann den Menschen nicht erlösen und befreien. Der Mensch ist also nicht wie bei den Romantikern ein Objekt bzw. Opfer der Natur, in Bann genommen von ihrer Macht und Mächtigkeit. Für Konrad Weiß ist die Natur ein Teil des Menschen selbst: „Diese ganze Kreatur ist im Menschen, ja vielmehr ist der Mensch.“31

Die Natur ist durch den Menschen empfangend, nicht aber wirkend, sie ist unser Widerhall. Da die Vollendung des Einzelnen sich nur in der Gemeinschaft mit dem Menschgewordenen ereignet, vollendet sich die Natur als Teil des Menschen durch diese Gemeinschaft und darin wieder durch die Kirche. Nur in Maria ist die Natur eine heile, sie ist das Urbild des „jungfräulichen Inbildes“ der Geschichte, wo die Kirche reine Braut des Wortes ist.

In der Moderne ist die Bild- und Wortform der Kreatur gebrochener, doch im Echo schwingender, wie Konrad Weiß am Werk Vincent van Goghs darzustellen weiß. Es scheint, dass, je mehr der Mensch gegenwärtig bereit ist, sich die geschichtlichen Sinnkräfte anzueignen, er auch erkennen muss, dass sein Leben nicht ohne Tragik gelingen kann.

So muss sich der Mensch von Wort zu Wort und von Bild zu Bild begeben, ohne je einen als ideal erfassten Stand der Vollkommenheit zu erreichen; alles im Dasein auf Erden scheint zwischen Sehen und Hören nicht mehr aufzugehen:

„Tue in allem das Gegenteil und das Gegenteil des Gegenteils. Dies ist das Geheimnis des Schattens und des Lichtes. Denn so groß ist kein Mangel wie Gottes Ankunft und du bist immer noch zu viel.“32

Gebunden an seine Urbeschränkungen, besonders die von Zeit und Raum, und angeschmiedet an die Erde und ihre Gezeiten, wird der Mensch lernen müssen, den Zwang des Geschicks als seine große Möglichkeit zu ergreifen. Den Mangel aushaltend, hat er die Begrenzung zu bejahen, die sein Dasein ist und die er nicht verspielen darf.

Eigensinn und Bindung

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