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Ein beschwiegener Philosoph
ОглавлениеDass Schelers Philosophie im Unterschied zu derjenigen seiner Zeitgenossen Husserl und Heidegger, mit denen zusammen er das Dreigestirn der deutschen Philosophie der Zwischenkriegsjahre gebildet hatte, verblasste, lag nicht zuletzt an den politischen Zeitläuften.
Scheler erlitt gewissermaßen ein Emigrantenschicksal, ohne selbst Emigrant gewesen zu sein. Als er 1928 starb, war ein großer Teil seiner Schriften unveröffentlicht, und die Erwartungen an den Nachlass waren hoch, vor allem, da Scheler selbst immer wieder das baldige Erscheinen umfangreicher Werke angekündigt hatte. Unter der Führung Martin Heideggers fand sich ein Kreis von Kollegen und Freunden zusammen, um die Herausgabe der Nachlassschriften einzuleiten, darunter Paul Landsberg, Walter Otto, Adhemar Gelb, Alexander Koyré und Richard Oehler. Anfang 1933 konnte ein erster Band nachgelassener Aufsätze erscheinen. Nach der Machtübernahme der Nazi-Regierung jedoch gab es einen Einschnitt: Scheler war Halbjude. Seine Werke durften nicht neu aufgelegt werden, Forschungen zu Scheler wurden unterbunden, der Herausgeberkreis zersprengt: Sowohl Gelb als auch Landsberg, der zunächst nach Frankreich flüchtete, kamen in Konzentrationslagern um.2
Scheler konnte in Deutschland nur noch ohne Namensnennung zitiert werden, was zur Folge hatte, dass sein Werk anonymisiert wurde. Seine Ideen wurden in breiten Kreisen zwar weiterhin tradiert und rezipiert, doch geriet er in die Rolle eines verschwiegenen Philosophen, dessen Ideen als Steinbruch dienten, ohne dass ihre Herkunft offengelegt war.
Nach dem Krieg gelangte Schelers Werk im aktuellen philosophischen Diskurs der Nachkriegszeit nie mehr nachhaltig zur Geltung. Zudem gestaltete sich die Neuherausgabe seiner Werke schwierig, und das oft angekündigte Opus magnum,3 auf das seine Verehrer lange gewartet hatten, fand sich im Nachlass nicht.
Es gab schon zu Schelers Lebzeiten die Tendenz, seine philosophische Qualität zu unterschätzen und die für seine Texte typischen Merkmale, wie aphoristischer Schreibstil, plötzlicher Abbruch von Gedankengängen, Unvollständigkeit der Schriften, Abschweifungen, Mangel an exakten Definitionen, seine diversen philosophischen Kehrtwendungen, als Ausweis des Feuilletonismus seines Denkens zu interpretieren. Aus heutiger Sicht könnten diese Schwächen jedoch auch als Zeichen von dessen Aktualität gelesen werden – weniger als Indizien mangelnder Wissenschaftlichkeit, sondern als Spiegelungen der Fragmentierung der modernen Welt, als Dokument des geistigen Aufbruchs der Zwischenkriegszeit, von der man zu behaupten geneigt ist, sie sei überhaupt die einzig moderne Zeit des vergangenen Jahrhunderts gewesen.
Vieles spricht dafür, dass ein neugieriger Blick auf Scheler sich lohnt. Nicht nur, weil seine Werke nun komplett zugänglich sind – die Herausgabe der Gesammelten Werke inklusive der Nachlassschriften ist vollendet –, sondern weil auch seine Themen – Philosophische Anthropologie, Auseinandersetzung mit Wertfragen, Fragen nach dem Stellenwert des Fühlens für das menschliche Denken und Verhalten – an Aktualität gewonnen haben. Hier hat Scheler in vielen Punkten immer noch einen Denkvorsprung, der von der aktuellen Diskussion erst noch eingeholt werden muss.