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Verteidigung der Messe

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In ihren späten Jahren unterhielt Annette Kolb engen Kontakt mit einigen profilierten Geistlichen wie dem Dominikaner Pierre Jean de Menasce, einem gelehrten Orientalisten, für den das Verhältnis des Christentums zu den Weltreligionen im Zentrum seines Interesses stand, oder dem „Sozialapostel Münchens“, Willibrod Braunmiller OSB, der für ein konfessionsübergreifendes „Tatchristentum“ eintrat und in der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ tätig war.27 Der namhafteste, mit dem sie sich trifft und korrespondiert, ist (seit 1953) Hans Urs von Balthasar, der sie in seinem Lebensrückblick von 1965 „meine verehrte Freundin“ nennt. Als „großartig und prachtvoll“ rühmt er ihre deutsche Version von Valéry Larbauds „Sankt Hieronymus. Schutzpatron der Übersetzer“.28 Umgekehrt schenkt sie ihm ein Buch von Duchesne und interessiert sich für Balthasars Aufsatz über die amtskirchlicherseits keineswegs wohlgelittene Spiritualität Pierre Teilhard de Chardins mit ihrem Ineinander von Evolution und christlichem Glauben.

Nicht erst im Alter ist ihr die Form des Gottesdienstes wichtig. Am deutlichsten erhellt dies aus den Schilderungen liturgischer Eindrücke, von denen der Roman „Daphne Herbst“ durchsetzt ist. In einem Aufsatz von 1954 („Letztes Albumblatt. Gefährdung der Messe“) erinnert Annette Kolb, gegen das, was sie als deren Verunstaltung empfindet, vehement an den kulturellen und geistlichen Wert des überkommenen Messritus. Hässliche Kirchen und eine unschön verrichtete Liturgie erscheinen schon Daphne Herbst „wie eitel Ketzerei“ (D 146). Daran hat sich für Annette Kolb auch ein Vierteljahrhundert später nichts geändert: Jetzt benutzt sie das Wort „Häresie“ (SB 152).

In ihrem Mozart-Buch spricht sie einmal von der „abgründigen Handlung der Messe“ (M 305 f. ). Diese Feier gilt es mit dem höchsten Anspruch zu gestalten. Ein „zweitausendjähriger Kult“ (SB 163) schmilzt für sie „Dekorum“, „Ästhetik“ und „Protokoll“ ineinander (SB 158). Zwischen äußerer Gestalt und innerer Wahrheit besteht eine Wechselbeziehung. Mit kunstseligem Schwelgen hat dies nicht unbedingt zu tun. Annette Kolb ist eine Freundin der Stillen Messe (mit ihren zurückgenommenen Zeremonien) ebenso wie der orchestralen. Was sie beanstandet, ist mangelndes Stilbewusstsein, Zerreden des Mysteriums oder Distanzlosigkeit der Gläubigen ihm gegenüber.

„Sammlung“ und „Ergriffenheit“ ist der Habitus, in dem der Priester in der Münchner Nepomukskirche das „Messopfer“ feiert, an dem Daphne Herbst heimlich regelmäßig teilnimmt. (D 108). Bei der Feier der Kartage in Beuron schlägt eine nachgerade Entleerung des Zelebranten von jeglicher Subjektivität sie in ihren Bann, seine „Ent-Persönlichung“ (D 165) und „Weltabgewandtheit“ (D 151), von der auch die Liturgie selbst geprägt ist. Die „ewig selben Worte“ werden dort wiederholt: „Reichten sie vielleicht am weitesten, stürmten sie am ehesten die Himmel?“ (D 148 f.) Jedenfalls darf selbst „der Beschauer glauben, auch er fasse die Wahrheit bei einer ihrer Enden“ (D 146).

Entsprechend hält Annette Kolb nur eine „unwandelbar“ gewordene und „dem Alltag entzogene Sprache“ (SB 159) dem sakralen Geschehen für gemäß. Das zeremonielle Latein, das „sich auf kein ich einläßt“, ist ein Medium der „Distanz“, ohne individuelle Variante, „ohne Inbrunst“: eine Diktion, die sich „im selben Tonfall durch alle Zeiten hin mit dem Ungeheuerlichen deckt, was sie besagt“ – und deswegen „so nah der inneren Versenkung, ja der Verzückung gebaut“ (M 305). Gerade die „Objektivität“ des Ritus ist es, welche ihr Gegenteil ermöglicht: die für Annete Kolb so bedeutsame Weite der emphatischen Erfahrung eines Nicht-Wörtlichen, die Schwelle zur Unendlichkeit „geistiger Wonnen“ (D 108). Ein Weiteres kommt hinzu.

„Alle Künste“, heißt es schon im „Duchesne“-Essay, „strebten seit vielen Tausenden von Jahren an den Schleiern unseres Kultes zu weben“ (F 202). Angesichts des „Niveaus“ der Beuroner Liturgie „nach den ältesten Gebräuchen“ kommt sich Daphne Herbst „ein wenig (...) vor wie in Bayreuth.“ (D 145 f.) Sie spricht von einer „wundervollen Regie (...) sublimster Ordnung“ (D 147). Mehrfach, teilweise sogar wörtlich, wird bei Annette Kolb (für die Richard Wagner ein zentrales Bildungserlebnis war) eine Analogie zwischen dem Messritus und der Formel vom „Kunstwerk der Zukunft“ hergestellt (D 33), wo durch „das Aufgebot aller Künste“ (SB 168, D 146) die Totalität menschlichen Apperzeptionsvermögens angesprochen, ja transzendiert werden soll. Damit ist er reales Zeichen einer anderen Wirklichkeit: „Denn ohne Mystik, ohne sie ist dies nur eine abgeblühte winterliche Welt.“ (SB 169)

Abseitig ist Annette Kolbs Assoziation keineswegs. Ausgehend von der Gralsfeier im „Parsifal“, als dem „Höhepunkt“ von Wagners „Gesamtkunstwerk“, war sie schon vier Jahre, bevor sie erstmals bei der Autorin zutage tritt, in einer theologischen Fachzeitschrift aufgegriffen worden: Wo, wurde dort gefragt, lernte Wagner das Ideal des Zusammenwirkens aller Künste kennen? „In katholischen Kirchen, im katholischen Kult“, wie sich denn auch im Begriff „,Gesamtkunstwerk‘ (...) das Kultusideal der katholischen Kirche“ subsumieren lasse, das „in der feierlichen Messe“ zum Ausdruck komme.29 Deswegen habe, so Annette Kolb, diese immer „große Anziehungskraft auch auf Andersgläubige“ gehabt (SB 163).

Was den Protestantismus betrifft, erinnert Annette Kolb in ihrem Text gleich eingangs daran: „Es ist Zeit, alle Feindseligkeiten abzuwerfen, sind wir doch alle Christen.“ (SB 152) Und zur Verteidigung der „Unantastbarkeit der alten Gebräuche“ (SB 159) beruft sie sich nicht etwa auf das Tridentinum, sondern auf Duchesnes, des „Modernisten“, „Origines du Culte Chrétien“ (1902) und „L’Eglise au Ve Siècle“ (1925 [SB 156]). Überhaupt ist das „Albumblatt“ der 84-Jährigen, stärker als ihre früheren Arbeiten, durch ein „impressionistisches“ Vorgehen gekennzeichnet (SB 139), das in unvermittelten Übergängen Verschiedenartiges miteinander verknüpft.

So erscheint ihr die Lesung der Messe an „einem ganz nah an die Chorschranke gerückten Tisch (...) angesichts der Versammelten“ (SB 156) einmal als „ein schwerer Verstoß“ (SB 157), weil er die „Würde“ des zelebrierenden Priesters, seine „Distanz zur (...) Menge“ (SB 156) und seine „innere Sammlung“ zu beeinträchtigen vermag (SB 157). Als „zweiten Pol“ beschreibt sie jedoch wenige Seiten später eine Messe in der Pariser Saint-Séverin-Kirche, wo „der Menge zugewandt“ zelebriert wird, ohne dass ein „Entgegenkommen“, gar „Herablassung dem Volke“ gegenüber stattfindet, das ja erhoben werden wolle. Diese Menge – „vorwiegend Proletariat“ übrigens – ist ihrerseits „geschult“ und „dem Alltag entzogen“. Als „eine lebendige Saint Chapelle (...) reagiert sie mit der Geschlossenheit eines Orchesters“ (SB 164 f.). Vorbildliche Form besteht hier also in der aktiven Mitfeier. Mit einer tendenziell Hierarchie-zentrierten Ekklesiologie und Gesellschaftslehre hat Annette Kolbs monitum zugunsten des gewachsenen Ritus jedenfalls nichts zu tun. Immer geht es ihr um eine Haltung dem Mysterium gegenüber, das sich in der Messe bekundet.

Tradition und Erneuerung bleiben dabei aufeinander bezogen. Wahrhaft schlimm nämlich ist „die Trennung zwischen Kirche und Kunst“ (SB 165). Kitsch, wie er die Gotteshäuser seit dem 19. Jahrhundert verunstaltet habe, sei der größte Feind des Religiösen. So setzt sie Hoffnungen in Strawinskys 1948 uraufgeführte Messe und empfiehlt Marie-Alain Couturier OP, den (ihr auch persönlich bekannten) Pionier der Einbeziehung moderner Kunst in die Kirche, der die Sakralbauten von Le Corbusier ermöglichte und bei seinen Projekten herausragende Künstler wie Léger, Braque, Rouault, Chagall und andere zur Mitwirkung gewann, als Vorbild für die „Notwendigkeit eines neuen Baustils“ (SB 160) – wobei übrigens just das von Annette Kolb so gerühmte Beispiel der Kapelle in Vence dem Heiligen Offizium nicht unbedingt gefiel.30

Im gleichen Kontext wird plötzlich noch ein anderer Ordensmann gepriesen, der Protagonist eines sozialen Katholizismus ist: Abbé Pierre, Gründer der Organisation „Emmaus“, besonders seiner Hilfsappelle für die Obdachlosen im Kältewinter 1953/54 wegen, als viele Menschen starben. Eine von Annette Kolbs Messfrömmigkeit offensichtlich untrennbare Dimension scheint hier auf.

Anfang August 1960 nimmt die Autorin am Eucharistischen Weltkongress in München teil. Auch hier macht sich ein spätzeitliches Bewusstsein geltend: „Wird vielleicht morgen das Ereignis vertuscht und vergessen werden? Über alle Wirrsal hinaus war es das Präludium einer besseren, schöneren und anderen Welt. War es der Inbegriff jener Abschiedsworte: ,Ich komme bald‘?“ (Z 206) Im Zusammenhang mit diesem Vers aus dem Buch der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament heißt es an anderer Stelle: „Wir glauben, wir halten unseren Glauben aufrecht, er ist nicht leicht, wir geben ihn nicht preis.“31

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