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Max Scheler (1874 – 1928) Max Scheler: der katholische Nietzsche? Angelika Sander
ОглавлениеWer war Max Scheler? Sicherlich ein großer deutscher Philosoph des 20. Jahrhunderts. Doch kennt man ihn wirklich? Heute selbst in philosophisch interessierten Kreisen wenig.
Unglaublich für Menschen, die Scheler noch persönlich erlebt hatten, wie z. B. Hans-Georg Gadamer. Denn in der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts besaß Schelers Name Glamour und einen Nimbus, der weit über die akademische Welt, weit über Deutschland hinaus reichte. Für Heidegger, so in einem Nachruf, den dieser spontan nach der Nachricht von Schelers Tod 1928 in einer Vorlesung hielt, stellte er die stärkste Kraft der zeitgenössischen europäischen Philosophie dar.
Bewunderer wie Kritiker Schelers waren gleichermaßen von ihm beeindruckt, nicht nur durch sein Werk, sondern auch durch die Begegnung mit seiner intensiven und leidenschaftlichen Persönlichkeit. Sein vulkanisches Denken hat kaum einen Zeitgenossen kalt gelassen, wobei die Bandbreite von höchstem Enthusiasmus bis zu tiefstem Hass reichte. Nie wieder, so Edith Stein, sei ihr an einem Menschen so rein das Phänomen der Genialität entgegengetreten. Kurt Hiller schreibt hingegen, er verdiene „totgeschlagen zu werden, wie die Ratten“.1
Schelers Einfluss auf die intellektuelle Öffentlichkeit seiner Zeit war nachhaltig. Schnell erreichten seine Bücher, ungewöhnlich für philosophische Schriften, mehrere Auflagen. Auch von seinen Philosophenkollegen wurde er geschätzt, selbst von denen, die ihm skeptisch gegenüberstanden. Er besaß einen Blick für neue, lohnenswerte Ideen und Autoren, für die perspektivische Zusammenschau unterschiedlichster Wissensgebiete, für die Grenzüberschreitung der Philosophie in andere Wissenswelten. Dabei nahm er mit seinen Untersuchungen nicht selten eine Vorreiterrolle ein.
Max Scheler ist heute in erster Linie durch sein Hauptwerk „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ (1913/16) bekannt, in dem er als Kritiker einer formalistischen Ethik nach dem Modell Kants und als Vertreter eines ethischen Personalismus auftritt, sowie durch den kurz vor seinem Lebensende verfassten programmatischen Aufsatz „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (1928), heute ein klassischer Text der Philosophischen Anthropologie. Diese beiden Werke allein reichten aus, ihm einen unbestrittenen Platz im Kanon philosophischer Autoren zu sichern. Doch Scheler hatte prägenden Einfluss weit darüber hinaus: Er war eine Leitfigur der aufkeimenden phänomenologischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und hat diese entscheidend mitgeprägt. Auch auf dem Feld der damals jungen Wissenschaft der Soziologie hat Scheler mit seinen Schriften zur Wissenssoziologie wichtige Beiträge geleistet. Er befasste sich ausführlich mit Metaphysik, Erkenntnistheorie und Logik. Sozialkritisch setzte sich Scheler mit dem kapitalistischen Geist und der bürgerlichen Kultur seiner Zeit auseinander und trat für einen christlichen Sozialismus ein. Seine Untersuchungen zur philosophischen Bedeutung des Fühlens, die heute besonders an Aktualität wiedergewonnen haben, sind vor allem hervorzuheben. Dazu gehören seine Studie „Wesen und Formen der Sympathie“ (1923) und kleinere, zum Teil erst im Nachlass veröffentlichte Schriften wie „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ (1912), „Reue und Wiedergeburt“ (1917), „Über Scham und Schamgefühl“ (1913) und „Ordo Amoris“ (1914 – 16).
Schließlich erschloss er mit seinen Schriften zur Religion den durch den Kulturkampf nach der Reichsgründung geprägten Katholizismus, der seit Jahrzehnten einem engen Neuthomismus und Lagerdenken verhaftet war und den Anschluss an die aktuellen geistigen Diskussionen verloren hatte, der philosophischen Avantgarde. Diese Zeit seines Wirkens, die mit turbulenten Entwicklungen in seinem Privatleben zusammenfällt, wird als Schelers „katholische Phase“ betrachtet und soll im Zentrum dieses Aufsatzes stehen.
Zuvor jedoch noch ein Blick auf die Frage, warum man Scheler heutzutage trotz seines unbestrittenen Einflusses auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts wenig und oft nur oberflächlich kennt.