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Die antikapitalistische Mission der Kirche
ОглавлениеDer Beginn des Ersten Weltkriegs läutete eine neue Phase der Beziehung Schelers zur katholischen Kirche ein. Zunächst entfachte dieses Ereignis in ihm, wie in vielen anderen deutschen Intellektuellen, ein unvermutetes patriotisches Feuer. Er veröffentlichte die Schrift „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ (1914), in der er im Krieg einen revolutionär kulturkritischen Wert freizulegen suchte. Die moralische Dekadenz Europas, bewirkt durch den kapitalistischen Geist und die ihm verfallenen Denk- und Gesellschaftsformen, sah er durch die Macht des Krieges entlarvt, den er als schrecklich genialische Möglichkeit verstand, erneuernde Kräfte zu entbinden.
Diese Schrift wurde von vielen seiner Berliner Bekannten wie Max Brod, Franz Werfel, Martin Buber und Arnold Zweig mit Entsetzen und scharfer Kritik aufgenommen. Gleichzeitig begründete sie schlagartig Schelers Ruhm als Publizist. Hatte er zwar vorher in der akademischen Welt mit seinen Arbeiten gewisse Spuren hinterlassen, so existierte Scheler jedoch für die meisten Deutschen vor der Veröffentlichung seiner Eulogie des Krieges nicht. Für viele Menschen der Kriegsgeneration war nunmehr diese Schrift Schelers der treffende Ausdruck des Geistes von 1914, des Taumels eines unverhofften Gemeinschaftsgefühls, dem sich die Deutschen größtenteils willenlos ergaben.
Neue Aufsätze Schelers wurden von der Öffentlichkeit von da an begierig erwartet, und sie wurde nicht enttäuscht. Es entstand eine Reihe national-pädagogischer Schriften wie „Die Ursachen des Deutschenhasses“, „Reue und Wiedergeburt“, „Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt“, „Vom kulturellen Wiederaufbau Europas“ usw. Nicht zuletzt war Scheler auch auf die Einnahmen seiner Kriegsschriften angewiesen, um sich finanziell über Wasser zu halten.
Tatsächlich hielt der Enthusiasmus der ersten Kriegsmonate bei ihm nicht lange vor. Im Vorwort zur zweiten Auflage 1916 distanzierte er sich von seinem Werk, wollte es nur noch als Dokument „der Gesinnung und der Gedanken, die uns zu Beginn des großen Krieges beseelten“,12 gelten lassen. Die eigentliche Aufgabe bestand nun für ihn „in der Gewissenserforschung des deutschen Wesens über sich selbst und über die europäischen Geisteszustände, die zu diesem Kriege als dem moralisch furchtbarsten, blutigsten und schmerzensreichsten Ereignis aller uns bekannten europäischen Geschichte geführt haben“.13
Dieser Aufgabe widmete sich die kurz darauf erschienene Aufsatzsammlung „Krieg und Aufbau“ (1916). Nunmehr ließ das massenmörderische Geschehen für ihn keinen politisch und wirtschaftlich tieferen Sinn mehr erkennen, sondern rief nach einer gesamteuropäischen Revolution und Neuaufbruch. Alle kriegführenden Staaten müssten sich aufgrund des Krieges den Aufgaben der Läuterung, der Reue und Umkehr, der geistigen Erneuerung stellen.
Diese Aufgabe wies Scheler der katholischen Kirche zu. In ihr sah er die kulturellen Kräfte und Möglichkeiten, den Kapitalismus und seine Lebensformen, die letztendlich zum Krieg führten, zu bekämpfen, und er entwickelte die Idee eines christlichen Sozialismus als Antikapitalismus. Damit eröffnete er, als Außenstehender, den deutschen Katholiken Denkweisen und Handlungsoptionen, die sie selbst kaum zu formulieren gewagt hätten, und half damit dem deutschen Katholizismus aus der engen Position, in die ihn der Kulturkampf gebracht hatte, herauszuführen. In der unterdrückten, in die Enge getriebenen Kirche sah Scheler politisch oppositionelle Alternativen zum kapitalistischen Geist, womit er ihr eine wichtige Rolle für die zukünftige Entwicklung Europas zuwies.
Schelers Kernthese war, dass der kapitalistische Geist die Ursache der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sei und nicht umgekehrt das kapitalistische System der ökonomischen Besitzverteilung die Ursache des kapitalistischen Denkens. Kapitalismus verkörperte für ihn an erster Stelle ein Lebens- und Kultursystem und erst an zweiter Stelle eine Form der ökonomischen Besitzverhältnisse. Im christlichen Sozialismus, in dessen Zentrum der Gedanke der wechselseitigen Solidarität aller für alle zu stehen habe, sah Scheler einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Da er den Protestantismus als zu sehr mit dem Geist des Kapitalismus verflochten verstand, war die katholische Kirche dazu berufen, diese Aufgabe zu leisten.
Zu Beginn des Krieges ging Scheler selbstverständlich davon aus, dass die kulturelle Erneuerung und die Verwirklichung seiner Ideen politisch durch einen Sieg der Mittelmächte verwirklicht würden, weswegen er von der Berliner Propagandastrategie im Sinne einer psychologischen Kriegführung eingespannt wurde – und sich dafür auch einspannen ließ.
Im Auftrag der Auswärtigen Amtes hielt er in neutralen Staaten, vor Kriegsgefangenen und vor allem in katholischen Kreisen, Vorträge, die der deutschen Seite Sympathiepunkte verschaffen sollten. Scheler war in diesen Jahren zum Sprecher katholischen Geistes innerhalb und außerhalb Deutschlands geworden.
Die Kriegsjahre führten jedoch auch zu einer Neubelebung seines religiös-praktischen Interesses. Trotz seiner Taufe 1899 war Scheler bis dahin kein praktizierender Katholik gewesen. Seit 1915 hatte er intensiven Kontakt zu den Benediktinerklöstern Beuron und Maria Laach und nahm dort am mönchischen Leben teil. Franz von Assisi war für ihn zu dieser Zeit die Vorbildgestalt des Heiligen, dem gegenüber der Philosoph an die zweite Stelle rücken musste. In Schelers Philosophie, in der das Erkennen durch Liebe fundiert ist, wurden die Grenzen zur christlichen Religion, die das Wesen Gottes als Liebe und die höchste Form religiöser Praxis als Mit-Lieben versteht, fließend. Es war die Phase in Schelers Philosophie, in der er mit seinen Ideen der katholischen Kirche am nächsten stand.
Zu Ostern 1916 legte er in Beuron die Beichte ab und ging zur Kommunion, womit seine Aufnahme in die katholische Gemeinschaft als praktizierender Gläubiger versinnbildlicht werden sollte. Auch seine Frau Märit trat in diesem Jahr zum katholischen Glauben über. Franz Xaver Münch, ein katholischer Geistlicher, mit dem Scheler in Köln befreundet war, schilderte ergriffen die religiöse Hingabe, zu der Scheler fähig war: „Gestern war ich mit ihm in Kevelaer, das heißt, er nahm mich mit. Er hat fast eine volle Stunde in tiefster, ergreifendster, kindlicher Hingabe vor dem Gnadenbild gelegen (...). Ich war ganz ergriffen und gedemütigt von einer so starken religiösen Leidenschaft.“14