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Die Abwendung

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Nach dem Krieg war Scheler eine bekannte Figur geworden, so dass die Auswirkungen des alten Münchener Skandals verblassten. Mit seiner Berufung nach Köln 1919 war Scheler akademisch praktisch rehabilitiert. Man mochte meinen, als stünde der von ihm ersehnten wohlsituierten, ruhigen Existenz als Universitätsprofessor nichts mehr im Weg. Es scheint jedoch ein fatales Muster in Schelers Leben zu geben, dass in dem Moment, in dem sein Leben endlich in ruhigeren Bahnen zu verlaufen sich anschickt, eine Krise eintritt, die sowohl sein persönliches Leben als auch seine philosophischen Einstellungen umwälzt.

Kurz nach dem Umzug der Familie nach Köln lernte Scheler bei einer Abendveranstaltung die 27-jährige Maria Scheu kennen, eine reizvolle junge Frau, und verliebte sich hoffnungslos in sie. Dennoch wollte er zunächst an seiner Ehe mit Märit festhalten. Er schlug ihr eine Ehe zu dritt vor, wobei Märit als Ehegenossin fungieren sollte und Maria als die Geliebte. Seine Zerrissenheit zwischen den beiden Frauen führte schließlich 1920 zu einem ersten Herzanfall. 1923 konnte Märit Schelers Entscheidungsunfähigkeit nicht mehr ertragen und verließ ihn. Die Ehe wurde noch im gleichen Jahr geschieden, und im Jahr darauf heiratete Max Scheler Maria Scheu. Zeitlebens blieb er jedoch mit Märit in engem brieflichen und persönlichen Kontakt.

Mit dieser nunmehr dritten Ehe war Scheler als Repräsentant des Katholizismus untragbar geworden. Der Erzbischof von Köln hatte Bedenken gegen diesen Moralisten, den er nicht mehr für geeignet hielt, seine Seminaristen an der Universität zu unterrichten. Scheler, zur Unterredung mit dem Bischof gebeten, wies diese Kritik mit den berühmten Worten ab: „Der Wegweiser geht selbst nicht an den Ort, zu dem er führt.“15

Es gärte in Scheler. Im Aufsatzband „Vom Ewigen im Menschen“ 1921 wurden zwar nochmals wesentliche Züge seiner Philosophie, die originär katholischem Gedankengut entsprachen, veröffentlicht: Die Philosophie steht in einem religiösen Rahmen, der personale Gott gilt als oberster Grund des Seins. Doch bald darauf entfernte sich Schelers Denken zunehmend von der katholischen Kirche. 1923, im Vorwort zur Neuherausgabe des Aufsatzes „Christentum und Gesellschaft in Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre“ sagte er sich quasi öffentlich von ihr los. Dieser Akt machte Scheler im katholischen Milieu viele Feinde. Nicht wenige, die erst unter dem Eindruck seiner Schriften katholisch geworden waren, wie zum Beispiel sein treuer Freund Dietrich von Hildebrand, distanzierten sich von ihm und fühlten sich verraten. Aus dieser Enttäuschung ist die teils polemische Kritik verstehbar, die Scheler von nun an häufig von katholischer Seite entgegengebracht wurde.

Doch Schelers Themen hatten sich verändert. In den Kölner Jahren gehörte sein Interesse zunehmend sozial- und naturwissenschaftlichen Studien, die er selbst letztlich als Vorarbeiten für eine groß angelegte Metaphysik und Anthropologie auffasste. Der Rahmen der katholischen Lehre wurde ihm dabei zwangsläufig zu eng. Bei aller Sympathie für katholisches Denken lag es nie in Schelers Natur, sich einer von ihm erwarteten Geisteshaltung zu unterwerfen, philosophisch ebenso wenig wie privat.

Scheler wandte sich vom Konfessionalismus der Kirche ab und positionierte sich nunmehr eindeutig außerhalb ihrer. 1928 formulierte Scheler, er halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die geistige Elite – und zu dieser zählte er sich zweifellos – „in strenger Übereinstimmung mit den Satzungen irgendeiner positiven Kirche stehen und gleichzeitig den Forderungen der Weltstunde gerecht werden kann“16, ohne diese Satzungen so zu verbiegen, dass der bloße Schein einer Übereinstimmung bestünde. Seine neue Überzeugung war, dass die Elite sich keiner positiven Kirche verschreiben dürfe. Dabei verstand Scheler sein eigenes Verhältnis zur Religion und seine eigene religiöse Position keineswegs als ungläubig, agnostizistisch oder atheistisch. Solche Einstellungen hielt er für pseudoreligiöse Surrogate.

Im Hintergrund steht vielmehr, dass für Scheler nun die Metaphysik an die Stelle der Religion getreten war. „Daß die falschen Glaubenssicherungen fielen, daß ich meine ernste, mutige, realistische und doch gläubige und hoffende Metaphysik gefunden – viel ernster wurde, wirklichkeitsnäher und entschlossener in Allem – des bin ich froh.“17

Nur in der durch sie vermittelten Idee eines göttlichen Weltgrundes, in dem die den Menschen und die Natur prägenden Gegensätze von Geist und Leben und Idee und Macht durch den Lauf der Weltgeschichte geeint werden können, war für Scheler eine Versöhnung der politisch-sozialen Gegensätze vorstellbar. Sein neuer Entwurf eines werdenden, leidenden Gottes, der in Abhängigkeit vom Menschen durch zunehmende gegenseitige Durchdringung von Drang und Geist zu sich selbst kommt, ergab ein eher düsteres Weltbild, dem die Gefahr des Scheiterns inhärent ist.

Dieser ernüchterte Blick entsprach den tiefgehenden Veränderungen im privaten Bereich, die Schelers Scheidung ausgelöst hatten. Er fand in seiner dritten Ehe nicht zur Ruhe und litt an starken Schuldgefühlen gegenüber Märit, was ihn psychisch stark belastete. Er ließ sich nun des Öfteren von seinen Lehrveranstaltungen beurlauben, war trotz seiner angegriffenen Gesundheit viel auf Reisen und versuchte, von Köln, dessen geistiges Klima ihm zu provinziell erschien, wegzukommen. Getrieben von dem Gedanken, sein Werk nicht vollenden zu können, arbeitete er an seiner Anthropologie und Metaphysik und veröffentlichte Schriften zur Wissenssoziologie und Erkenntnistheorie. 1928 erschien die „Stellung des Menschen im Kosmos“, eine dichte Zusammenfassung seiner anthropologischen und metaphysischen Gedanken. Im selben Jahr erhielt er einen Ruf nach Frankfurt als Professor für Soziologie und Philosophie. Scheler freute sich auf die Aufgabe, schöpfte neuen Mut. Er hoffte auf Kontakte mit Cassirer, Mannheim, Adorno und Rudolf Otto.

Doch bevor er seine Lehrveranstaltungen aufnehmen konnte, erlitt Scheler in Frankfurt einen Herzanfall. Zwei Tage vor seinem Tod erfuhr Scheler, dass seine Frau schwanger war. Er, der sich immer sehnlichst Kinder gewünscht hatte, sich seinem ersten Sohn Wolf entfremdet hatte, erlebte die Geburt des Sohnes Max Georg nicht mehr. Er starb am 19. Mai 1928 mit 54 Jahren.

Märit setzte es zusammen mit seinem ehemaligen Beichtvater Robert Grosche durch, dass er in Köln ein katholisches Begräbnis erhielt (an dem Maria Scheler, die gegenüber der katholischen Kirche verbittert war, nicht teilnahm). War dies in Schelers Sinne? Vermutlich schon. Der harte Bruch mit der Kirche als Institution wurde von Seiten katholischer Kreise hauptsächlich auf Schelers Verhältnis mit Maria Scheu und die nachfolgende Scheidung und Wiederverheiratung zurückgeführt. Die Veränderung seiner philosophischen Ansichten wurde von daher als „Rechtfertigungen seiner Fehler“ abgetan.

Scheler selbst sah dies so: „Meine ideelle Entwicklung vom Katholizismus weg – die ich so sehr bejahe – wäre auch ohne diese Verwirrungen möglich gewesen. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß diese neue Entwicklung mit dem Mariaereignis verbunden sei. Glaube mir, es ist ein Irrtum. Der Grundvorgang war rein religiös und sehr tief – und ich gehe immer weiter in dieser Wandlung.“18

Schelers Leben war geprägt von Konflikten und Krisen. Dabei sehnte er sich lebenslang nach Harmonie und Ausgleich. Er selbst beklagte seine Triebhaftigkeit, „meine innere Gebrochenheit, die dunkle und häßliche Wildheit meiner Natur, (...) meine erotische Verquertheit“,19 gegen die er sich nicht wehren konnte. Er erlebte sie als schuldhafte und demütigende Exzesse seines Charakters. Diese bezogen sich jedoch nicht allein auf den sexuellen Bereich. Scheler rauchte weit über 40 Zigaretten täglich und trank gut drei Liter Bier am Tag. Obwohl er wusste, dass er damit seine Gesundheit ruinierte, schaffte er es trotz intensiver Bemühungen nicht, sich einzuschränken. Mit der gleichen Unmäßigkeit warf Scheler sich auf Menschen und Ideen und ließ sie hinter sich, wenn Neues ihn fesselte.

Die katholische Kirche bot ihm für eine gewisse Zeit Halt und die Hoffnung auf Versöhnung seiner innerlichen Zerrissenheit. Er hat sie im Gegenzug reich beschenkt, auch wenn sie ihm auf Dauer nicht zur Heimat werden konnte. Das Ringen um einen Ausgleich aber gab er nie auf, nicht nur in seinem persönlichen Leben, sondern auch in seinem Werk, das die Umbruchstimmung und Zerrissenheit einer Gesellschaft in der Krise der Moderne in einer ungewöhnlichen Offenheit dokumentiert. Seine private Tragik besteht darin, dass er stets kurz vor dem Ziel scheiterte.

Schriften von Max Scheler: Gesammelte Werke. Hg. v. Maria Scheler (†) u. Manfred S. Frings. 15 Bde. Bern/München/Bonn 1954 – 1997.

Sekundärliteratur: Ralf Becker/Christian Bermes/Heinz Leonardy (Hg.): Die Bildung der Gesellschaft. Schelers Sozialphilosophie im Kontext. Würzburg 2007 – Christian Bermes/Wolfhart Henckmann/Heinz Leonardy (Hg.): Denken des Ursprungs. Ursprung des Denkens. Schelers Philosophie und ihre Anfänge in Jena. Würzburg 1998 – Dies. (Hg.): Person und Wert. Schelers „Formalismus“ – Perspektiven und Wirkungen. Freiburg i. Br. 2000 – Dies. (Hg.): Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens. Würzburg 2003 – Dies. (Hg.): Solidarität. Person und Soziale Welt. Würzburg 2006 – Manfred S. Frings: The Mind of Max Scheler. Milwaukee 1997 – Paul Good (Hg.): Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie. Bern 1975 – Hans-Hermann Groothoff: Max Scheler. Philosophische Anthropologie und Pädagogik zwischen den Weltkriegen. Hamburg 2003 – Wolfhart Henckmann: Max Scheler. München 1998 – Wilhelm Mader: Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1980 – Jan H. Nota: Max Scheler. Der Mensch und seine Philosophie. Fridingen a. D. 1995 – Ernst Wolfgang Orth/Gerhard Pfafferott (Hg.): Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs. Freiburg i. Br./München 1994 – Gerhard Pfafferott (Hg.): Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft. Bonn 1997 – Angelika Sander: Mensch – Subjekt – Person. Die Dezentrierung des Subjekts in der Philosophie Max Schelers. Bonn 1996 – Dies.: Max Scheler zur Einführung. Hamburg 2001 – John R Staude: Max Scheler. An intellectual Portrait. New York/London 1967.

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