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Für eine besonnene Moderne
ОглавлениеDies alles ist natürlich nach innen gesprochen, mit Blick auf die Kirche, jenen der beiden Pole katholischer Intellektualität, der sich bei der Verteidigung des Eigensinns in der Bindung immer wieder als der konfliktträchtigere herausstellt. Der andere, eigentlich gewichtigere, befindet sich jenseits der Binnenperspektive (die im Übrigen oft Gefahr läuft, zur Nabelschau zu geraten) und wird durch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten der Gegenwart bezeichnet. Dort herrscht das Paradigma der vorangeschrittenen Moderne. Wenn es gilt, ihr Verhältnis zu diesem zu bestimmen, werden von katholischen Intellektuellen durchaus unterschiedliche Signale ausgesendet. Die extremsten Ausschläge bewegen sich zwischen der Fortschreibung entschiedener Gegnerschaft zur Moderne und einer Selbstsäkularisierung zugunsten von Fortschrittsdenken oder der Ethik einer Zivilreligion. Dazwischen gibt es zahllose Anschlussfähigkeiten und Problematisierungen im Detail, mag manches sich auch als transitär erweisen.
Bestehende Schwierigkeiten vieler Intellektueller mit dem kircheninternen Klima wiederholen sich auf dem anderen Feld in gewisser Weise. Die säkulare Gesellschaft ist keineswegs frei von Abwehrgesten einem Denken gegenüber, das religiös bezogen ist. Katholische Intellektuelle mögen somit zuweilen Fremdlinge im doppelten Sinne bleiben. Sie argumentieren quer zu den Linien. Daraus sich ergebende Gemengelagen sind niemals auf einen Nenner zu bringen.
Habituelle Schwermut bei manchen Vertretern katholischer Intellektualität verweist auf eine Versehrtheit, die eines der wertvollsten Zeugnisse dieses Typus darstellt. Es sind Tragiker, welche die Versöhnung mit der Realität verweigern und damit an ihre naturwüchsige Erlösungsbedürftigkeit erinnern: ein Befinden, welches die heutige Gesellschaft einigermaßen erfolgreich verdrängt hat. Auseinandersetzung mit ihnen bedeutet die Konfrontation mit möglichen Abgründen. Vielleicht sehen sie ja klarer als alle die Rhetoriker des Aufbruchs, von denen wir umzingelt sind, den Fitmachern für die Zukunft – was für einer eigentlich? – und der verordneten organisatorischen Optimierungen. In dieser Hinsicht sind sie nicht „konstruktiv“ oder „zielführend“. Gegen das, woran sie sich wundscheuern, hilft keine Reform.
Im geschichtlichen Prozess sieht der katholische Intellektuelle jedenfalls nicht selten Aporien, aus denen kein Entkommen ist. Er trägt sie aus, hält Zweifel offen, den Sinn für Verluste. Was seinesgleichen im Speziellen auszeichnen mag, ist eine Gebrochenheit, die mit dem Spätzeitlichen einhergeht, welcher der Versuch, am Glauben festzuhalten, eingebrannt bleibt, und die sich weder in das Konstrukt einer intakten Vergangenheit zurückschwindelt, noch forsch auf zeitgemäß trimmt.
Ein Gespür für Abwägung macht sich hier geltend, in dem die Vorzüge der Moderne zwar anerkannt, aber nicht zum Fetisch erhoben, sowie ihre Kehrseiten und Ver(w)irrungen, ihr Macht- und Kontrollanspruch nicht hingenommen werden. Als Ansatz katholischer Intellektueller bietet sich das Paradox der Modernisierung an, die eben nicht nur Pluralität und individuellen Freiheitszuwachs befördert, sondern auch Mechanismen der anonymen Steuerung, Domestizierung und Uniformierung.24 Mit dem gleichen Recht, mit dem etwa auf fortschreitende Wahlmöglichkeiten des Einzelnen hingewiesen wird, könnte man auch vom Zerfall des Individuums sprechen, von wachsenden Erfahrungen der Ohnmacht und Desorientierung.
Nun eignet der Moderne eine unangenehme Neigung, sich absolut zu setzen. Aufmerksam zu machen wäre demgegenüber auf die ihr inne wohnenden destruktiven Tendenzen. Der als alternativlos ausgegebene Kult der Geschwindigkeit und rastlosen Innovation etwa hat sich längst selbstzweckhaft verselbstständigt. Er führt zur permanenten Entwertung des Überlieferten oder Vorhandenen zugunsten der Attraktivität zukünftiger Optionen.
Eine der vornehmsten Aufgaben katholischer Intellektualität bestünde somit darin, Mangelerfahrungen im säkularen Kontext anzusprechen, den Stachel für dessen Inszenierungen, Torheiten und Gefahren wach zu halten, mögen diese sich auch als Systemzwänge tarnen. Hier eröffnet sich ein weites Feld. In einer Zeit vorgegebener Sprachregelungen erinnert der katholische Intellektuelle gern auch an vom Aussterben bedrohte Wörter, an Denkformen, die keinen Platz mehr haben in dem, was man „Diskurs“ nennt und oft nichts anderes meint als das, wonach man sich gefälligst zu richten hat, wenn man mitreden möchte. Gerade weil er gläubig zu sein versucht, bleibt er den innerweltlichen Verheißungen gegenüber skeptisch. Er widerspricht der Hegemonie eines naiven Bio-, Psycho- oder Soziozentrismus, einer Reduktion des Menschen, die parallel läuft zu dem Anspruch auf Verfügbarkeit über dessen Natur. Hingegen hält er fest an einer Vorstellung der menschlichen Person, die offen ist für die Transzendenz. Aufzuklären wäre das Selbstmissverständnis der Moderne, sie sei die Religion losgeworden. Noch in der Verweigerung hält sie, in Form von Surrogaten, vielmehr an ihr fest.
Eher kritisch verhält sich katholische Intellektualität angesichts einer alles zulassenden und nichts (oder wenig) mehr ernst nehmenden Gesellschaft. Andererseits speist sich aus dem Widerwillen dagegen manchmal auch eine über den Distinktionsgewinn verweigerter Zeitgenossenschaft weit hinausgehende Verlockung durch scheinbar geordnete Verhältnisse mit klaren Regeln, in denen die verantwortete menschliche Freiheit wenig gilt. Hier wird dann als Markenzeichen des Katholizismus vor allem das betont, was ihn von der säkularen Welt unterscheiden soll – Autorität und Gehorsam nicht zuletzt –, aufgrund dessen man ihn in klarer Gegnerschaft zu dieser aufstellen möchte, die angeblich durch Relativismus, Indifferentismus und liberalistische Dekadenz restlos verdorben sei. Ohnehin übt die Geschlossenheit von Dogmengebäuden als Garant einer intransingent kämpferischen Bollwerk-Kirche auf manche katholische Intellektuelle seit dem frühen 19. Jahrhundert eine größere Faszination aus als Person und Botschaft Jesu. Doch natürlich kann man keine ungebrochene Kontinuität behaupten (wollen) zwischen Zeiten, in denen allein der „Wahrheit“ Daseinsberechtigung zugestanden wurde, und solchen des Einverständnisses mit einem demokratischen Rechtsstaat, der unterschiedliche Überzeugungen schützt. Allein der Eindruck von Grauzonen in dieser Hinsicht wäre verheerend. Die große Mehrheit katholischer Intellektueller indes weiß, dass die Moderne nicht einfach eine Verfallsgeschichte beschreibt, sondern gerade den Religionen vielfache Möglichkeiten bietet, auch zum Bedenken in eigener Sache.
Die Verteidigung der Prinzipien vernünftiger Selbstbestimmung des Individuums und einer unter dem Anspruch der Gerechtigkeit stehenden offenen Gesellschaft aber ist nicht blind den Widersprüchen und „Entgleisungen“25 der westlichen Moderne gegenüber. In allgemeinen Manifestationen des Ungenügens erschöpft sich diese Haltung nicht. Vielmehr mobilisiert sie – um nur diese Aspekte aus einer üppig bestückten Agenda herauszugreifen – Widerstandspotenziale und entfaltet eine dissidente wie auf pragmatisches Handeln abzielende Kraft im Einspruch gegen die Totalkapitalisierung des Lebens mit ihren Verwerfungen. Für Religion grundsätzlich gilt, dass sie von einem „Jenseits des Funktionierens“ nicht zu trennen ist.26
Somit erwiese sich katholische Intellektualität als ein komplexes Differenzierungsprogramm. Ihre Vertreter wären wesentlich Anwälte einer besonnenen Moderne. Sie trügen zur Entmythologisierung wahnhafter Anteile bei, in denen die Idee der Moderne jene zur Eigenkorrektur begabte Grundierung aufgibt, aus der Leszek Kolakowski listig ihren Vorrang abgeleitet hat: Niemals außer Acht lassen dürfe die Moderne folglich „ihre Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen, aus ihrer Ausschließlichkeit herauszutreten“27.
Zum Schluss sei kurz noch ein höchst privater Traum vom Intellektuellen gestattet. Zumal im Falle seiner katholischen Herkunft sollte das eingangs erwähnte Zwitterwesen über Ironie verfügen – weil es demütig ist, und nicht überlegenheitsstolz (was zu religiösen Menschen ohnehin nie passt). Gerade bei dem katholischen Intellektuellen handelt es sich doch weit eher um einen Narren als um einen clerc (nach der klassischen Bezeichnung Julien Bendas).28 Mit der pathetischen Geste hält er sich zurück, und wenn er sie hin und wieder doch gebraucht, trübt dies nicht seinen Sinn für Selbstrelativierungen – keineswegs nur aus dem Bewusstsein eines Lebens im Paradox. Demütig aber ist dieser Intellektuelle, weil er immer mit der eigenen Fehlbarkeit rechnet, damit, dass die eigene Einlassung unvollständig oder irrtumsanfällig sein könnte.
(Selbst-)Ironie als Mittel gegen die Versuchung zur Rechthaberei wie gegen den Leidensdruck. Dafür hätte man freilich den ehrwürdigsten aller Ahnherren auf seiner Seite. Erasmus von Rotterdam, die überragende Leitfigur der neuzeitlichen Intellektuellen, als die Ralf Dahrendorf ihn unlängst gefeiert hat, ist ja zugleich der Prototyp ihrer katholischen Ausprägung – und dies, obwohl er der kirchlichen Tradition nie ganz geheuer war. Warum sollte man ihn nur dem Rekonstruktionsbedürfnis „des modernen liberalen Geistes“ überlassen?29 Ausgerechnet ihn, der für ein an der Vernunft, der Würde und Freiheit des Menschen orientiertes Humanitätsideal ebenso plädierte wie für dessen Unterfütterung durch christozentrische Frömmigkeit? Ihn, der „mehr Kritiker als Prophet“ sein wollte, doch daneben schreiben konnte, „was nur zum Lachen reizt“, und sich nicht allein in den knollennasigen Selbstkarikaturen am Rand seiner Briefe verspottete? Aus diesem augenzwinkernden Ernst müssen wir auch begreifen, was er 1526 in seinem „Hyperaspistes“ schrieb: „Von der katholischen Kirche bin ich nie abgefallen. (...) Man trägt die Übel leichter, die man gewohnt ist. Darum ertrage ich diese Kirche, bis ich eine bessere sehen werde, und sie ist wohl genötigt, auch mich zu ertragen, bis ich selbst besser geworden bin.“30 So sollten der Intellektuelle und die Gemeinschaft seines Glaubens wechselseitig Geduld miteinander haben, auch wenn man sich nicht immer versteht.