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„Eine reformkatholische Heilige“

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Das Verständnis der Heiligen als „eigentlichen Experten des Christentums“ begründet „ein übergreifendes ,modernistisches‘ Interesse an der Hagiographie“.16 Für zwei weitere Arbeiten Annette Kolbs dürfte dieser Kontext nicht außer Acht zu lassen sein. Ein kurzer Essay über das „Leben der Heiligen Walpurga“ (1911) stellt dabei Verbindungen zwischen dem Glauben und der „modernen“ Denkform eines „auf das verstandesmäßige Sehen verzichtleistenden Schauens“ her. Nach Bergson, auf den hier wahrscheinlich Bezug genommen wird, erschließt sich die Wahrheit nicht durch den Intellekt, sondern allein durch „Intuition“.17

Einen aktualisierenden Akzent anderer Art setzt Annette Kolb gleich zu Beginn des ergänzenden Essays zu ihrer Übersetzung der Briefe der „reformkatholischen Heiligen“18 Caterina von Siena 1906:19 „Denn wir sind heute so weit wie zuvor: Der Protestantismus wird seiner nicht mehr froh, und die Norm der Katholiken, durch zuviel gescheiterte Reformversuche eingeschüchtert, hat den Glauben an eine römisch-katholische Reformation verloren, jene Reformation, die Catharina nicht müde wird zu verkünden (...). Und wenn heute unsere katholischen Gesellschaften, Vereine usw. ihre fortschrittlichen Bestrebungen verheißen, so belächeln wir im voraus die kümmerlichen Resultate, die sie uns bringen werden. Da dringt denn zu guter Stunde die kühne Sprache Catharinas wie ein frischer Luftzug in eine verbrauchte Atmosphäre.“ (F 111)

Geheimer Mittelpunkt des Essays ist der Gedanke einer evolutionären Perspektive des Christentums, das sich erst allmählich zu seiner vollen Gestalt entfalte. So erklärt Annette Kolb die „extremen“ Selbstkasteiungen der Heiligen als Solidarität mit dem trauernden, nicht dem verklärten Christus angesichts einer Zeit der allgegenwärtigen „Leiden“ und „Grausamkeiten“ in Gesellschaft und Kirche (F 116 f.), „in welcher die Gemüter vom Geist des Christentums noch so wenig umbildet waren“ (F 118). Die eigene Epoche deutet sie als eine Inkubationsphase, einen Zustand jenseits dieser „Greuel“, aber noch nicht unter den „apollinischen Klängen“ des „rätselvollen Auferstehungstages“: „Es ist (...), als träte nunmehr die Welt in das Zeichen der Grablegung, und als dämmerte unsere Zeit, oder die nächstkommende, oder die kommenden Jahrhunderte dem beruhigten, ahnungsvollen Zauber der Kartage entgegen.“ (F 119)

Für Annette Kolb nimmt Caterinas „Mystik“ von Gott ihren Ausgang, „deren Ziel“ sei jedoch „die Menschheit“ (F 128). In diesem Zusammenhang wird das Jesuswort aus Joh 10, 34 von der Autorin mit einer besonderen anthropologisch-evolutionären Bedeutung aufgeladen: „Ihr seid Götter!“ (F 129) Noch anderswo kehrt es in ihren Arbeiten wieder. Sie sieht darin eine über den Menschen und seine individuellen wie geschichtlichen Entwicklungsmöglichkeiten kraft seines Ursprungs und der „Anrede“20 Gottes ausgesprochene Verheißung.

Einen weiteren Anknüpfungspunkt für die Gegenwart arbeitet Annette Kolb bei Caterina heraus: Sie „wäre uns heute so stumm wie viele ihrer heiligen Genossen, die im Kalender stehen, wäre sie nicht als Frau so unvergänglich – modern bis in die Fingerspitzen –, als ,Frauenrechtlerin‘ vielleicht die einzige, die ganz unserem Geschmack entspricht“, was sich etwa darin zeige, „wie sie (...) mit aller Konvention bricht“ (F 129). In der Theologie werden solche Aspekte bekanntlich erst in ferner Zukunft aufgenommen.

Eigensinn und Bindung

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