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Ein Jahrhundertleben

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Von den Nachwirkungen des Kulturkampfs bis an die gesellschaftliche Zäsur Ende der 60er-Jahre reicht Annette Kolbs Leben. Geboren am 3. Februar 1870 in München, wächst sie dort in einer Atmosphäre auf, die sie mit den Begriffen „Weltbürgertum“ und „Weite“ des „Horizonts“ beschreibt.6 Sie selbst ist gleichsam Tochter zweier Nationen. Ihre Mutter, eine französische Konzertpianistin, unterhielt während deren Münchner Zeit „rege“ Beziehungen zu Cosima Wagner und wurde von Franz Liszt besucht.7 Der Vater, königlich-bayerischer Gartenbauinspektor, war als landsmannschaftlicher Partikularist ein entschiedener Gegner alles Preußischen, damit auch Protestantischen, dessen Doppel-Hegemonie bei der Gründung des Deutschen Reichs für ihn den Keim späteren „Unheils“ (W 10) in sich trug. Unter Verlängerung der Perspektive bis zum Zweiten Weltkrieg hat seine Tochter diese Haltung übernommen. „Die Schaukel“ (1934), der Roman ihrer Jugend, beschreibt mit Lust an der Differenz konfessionell unterschiedliche Sozialisationsfaktoren und Lebensstile sowie die daraus entstehenden wechselseitigen Reibereien. Das katholische Elternhaus ist fromm und großzügig zugleich. Neben Künstlern und Diplomaten verkehren dort auch höchste geistliche Würdenträger wie der apostolische Nuntius.

Zwischen ihrem sechsten und zwölften Lebensjahr besucht Annette Kolb eine Schule der Salesianerinnen bei Hall in Tirol. Was sie später beschreibt, ist die erste katastrophal verlaufene Internatsgeschichte in der deutschen Literatur. Neben der Erfahrung von erzieherischen „Härten“ und seelischen „Schäden“, die „fürs Leben“ anhafteten (SB 14), wird ihr im „verhaßten“ Institut8 der Glaube gründlich verleidet. Rückblickend beklagt sie den „furchtbaren Klosterjargon (...), in dem das Transzendentale, als wäre es so gegenständlich wie Reis oder Kaffee, ohne Unterlaß hereinbezogen wurde“9. Dass Heranwachsende „einem Glauben, in den sie auf solche Weise eingeweiht wurden, eines Tages den Rücken kehren, ist das Naheliegendste“ (SB 12), zumal wenn hinsichtlich ihrer eigenen religiösen Fragen nur die redselige Antwortlosigkeit herrscht.

Anfänglich schwankt Annette Kolb zwischen einer Laufbahn als Pianistin und als Schriftstellerin. Mit 29 Jahren lässt sie auf eigene Kosten ihr erstes Buch drucken: „Kurze Aufsätze“, die zum Teil bereits vorher erschienen waren. Es bildet den Auftakt eines sechseinhalb Jahrzehnte überspannenden Lebenswerks, dem drei Romane folgen, zahlreiche Erzählungen, Skizzen und Essays sowie drei Musiker-Biographien.

Auch über die politische und gesellschaftliche Situation Europas äußert sie sich von früh an, besonders mit Blick auf die wünschenswerte Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich. Aufgrund ihrer Kritik am Ersten Weltkrieg zieht sie es 1916 vor, in die Schweiz zu emigrieren. Sechs Jahre später lässt sie sich in Badenweiler nieder und baut neben dem Anwesen ihres elsässischen Schriftstellerfreundes René Schickele ihr eigenes Haus. Während der Weimarer Republik gilt sie als eine repräsentative Figur des kulturellen Lebens. Vor den Nazis flüchtet sie im Februar 1933 zunächst wiederum in die Schweiz. Im folgenden Jahr bezieht sie eine eigene Wohnung in Paris. 1936 erhält sie die französische Staatsbürgerschaft. Als vier Jahre später die deutschen Truppen auf Paris vorrücken, flieht sie nach Vichy und Genf. Von dort gelingt ihr über Spanien und Portugal die Emigration nach New York. Im Oktober 1945 kehrt Annette Kolb wieder nach Europa zurück und lebt an wechselnden Aufenthaltsorten – am längsten in Paris – ihr „Exil nach dem Exil“. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen flankieren den Lebensweg. 1961 übersiedelt sie wieder in ihre Geburtsstadt. Bis ins hohe Alter hinein bleibt Annette Kolb vielfältig aktiv. Im März 1967 unternimmt sie noch eine Reise nach Israel. Am 3. Dezember des gleichen Jahres stirbt sie in München.

Eigensinn und Bindung

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