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In der Schwebelage

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Was eigentlich ist ein Intellektueller? Im deskriptiven wie im normativen Sinne herrscht an Antworten auf diese Frage kein Mangel. Gleichwohl sind Schwierigkeiten bei der Präzisierung des möglichen Erscheinungsbildes unbestreitbar. Ein problemgeschichtlicher Abriss von Karl Mannheim bis in die jüngsten Traktate und Untersuchungen hinein würde leicht den Nachweis erbringen, dass Versuche der Begriffsbestimmung sich von der Vorliebe, oft sogar dem impliziten Plädoyer für einen gewissen Phänotyp nie ganz freizuhalten vermögen. So auch nachfolgende Bemerkungen.

Im Intellektuellen kreuzen sich die Vollzüge von Neugierde, Beobachtung, Analyse und Kritik. Er bevorzugt die Reflexion, ist also zunächst Denker, kein (oder nur in selteneren Fällen) Täter. Seine Interventionen stützen sich allein auf die ihm zur Verfügung stehende Macht des Geistes und des Wortes. Im darin offensichtlichen Dilemma liegt zugleich jedoch auch eine Stärke begründet. Mannigfaltige geschichtliche Wandlungen hat der Intellektuelle als Erkenntnis fördernder und klärender Typus durchlaufen. Deswegen sind all die periodischen Versuche, ihm ein „Grabmal“ zu errichten,1 ihrerseits verblichen.

Auch geht es, wenn wir die Intellektuellen betrachten, keineswegs nur um inhaltliche Kompetenzen, über die sie selbstredend verfügen, nicht nur um „einen Habitus des Wahrnehmens und Urteilens“,2 sondern mindestens ebenso sehr um charakterliche Eigenschaften, um „Tugenden“, die zu ihrer Rolle entscheidend beitragen.3 Mit ihnen gehören sie zu einer Kultur der Anregung und des Widerspruchs, welche die öffentlichen Institutionen ergänzt.4 In Frankreich zumal auf diese Weise beispielhaft anerkannt und trotz mancher Fälle von Kollaboration bei autoritären Regimes weltweit gefürchtet, war die Bezeichnung hierzulande oft durch einen anrüchigen Beiklang getrübt.5

Nicht nur in historisch-genetischer Perspektive, sondern auch bei synchron-struktureller Betrachtung treten, den Intellektuellen betreffend, einander widerstreitende Konzeptionen und Zielvorstellungen zutage. Vom Kritiker und Propheten bis zum Verteidiger des Bestehenden sind verschiedene Alternativen auszumachen. „Häretiker“ gibt es ebenso wie „Vertreter der Orthodoxie“. Die reale Erscheinungsvielfalt zugunsten einer umfassenden begrifflichen Objektivierung aller Typen entwirren zu wollen, wäre illusorisch. Einen aktuellen Gegensatz auf den groben Nenner gebracht, ließe sich die aufklärerische, universalistisch-vernünftige, von einer postmodernen Geisteshaltung unterscheiden, die vernunftkritisch ist sowie auf die Unhintergehbarkeit pluraler, partieller und provisorischer Wahrheitsformen verweist, welche nebeneinander bestehen können.

Intellektuelle sind artikulationsmächtige kulturelle Deuter, deren Wortmeldungen Aufmerksamkeit finden und manchmal sogar dem Zeitgeist ihren Stempel aufzudrücken vermögen. Es sind – mag sein: über Umwege – meinungsführende Eliten, stilprägende Kommunikatoren, auch Schrittmacher bisweilen: kurz, Menschen, die Interpretationen vornehmen und Trends setzen oder diesen den Konsens aufkündigen. Zuweilen gelingt ihnen Seismographisches: hinter einzelnen Ereignissen die verborgene Anatomie ihrer Gegenwart freizulegen.

Nicht bloß verschiedenartige Temperamente gibt es unter den Intellektuellen. Ihrer Ausstattung nach muten sie wie Zwitterwesen an: Kälte und Leidenschaft vereinen sie, sind konfliktfreudig und verletzlich, zu Besonnenheit ebenso imstande wie zu Entrüstung. Wenn es sein muss, werden sie zu Störenfrieden, die sich auch durch altbekannte Vorwürfe, wie die der bloßen Aufgeregtheit, der Besserwisserei oder der Praxisferne, nicht einschüchtern lassen. Gegen unbefragte Arrangements, schlichtes Desinteresse oder eingeschliffene Zynismen beziehen sie Stellung. Wo Diskursfeindlichkeit salonfähig zu werden beginnt, bestehen sie auf dem Frevel des kritischen, Übereinkünfte, Verordnungen oder Denkfaulheiten in Frage stellenden Blicks. Bei alledem zeichnet sie nicht nur die Bereitschaft aus, sich zu exponieren, sondern dabei auch gängige Fronten zu unterlaufen und gegen festgefahrene oder „korrekte“ Argumentationsmuster zu verstoßen. Jedenfalls äußern sie sich nicht immer so, wie man es von ihnen erwartet. Gern bevorzugen sie die Orientierung am sokratischen Modell des geistigen „Geburtshelfers“.6

Auch wenn es in Zeiten der Wertediffusion schwerer geworden sein mag, argumentieren Intellektuelle auf der Grundlage bestimmter Normen und Maßstäbe, wonach die Zustände zu beurteilen wären, stellen sie aktuelle Ereignisse und Entwicklungen in den Horizont übergreifender Prinzipien. Doch obschon sie Überzeugungen haben, sind sie – selbst wenn wir wissen, dass dies keineswegs immer so war – die geborenen Gegenspieler von Ideologen. Unabhängigkeit in Aufrichtigkeit, ganz im Sinne von Friedrich Nietzsches Postulat des „intellectualen Gewissens“:7 Auf dieses Bemühen liefe ihre Existenz hinaus, in ihm besteht deren Würde.

Der Begriff der „Geschlossenheit“ ist im intellektuellen Vokabular eher ein Fremdwort. Mit Recht pflegt man demgegenüber das „Risiko des eigenen Denkens und Urteilens“ hervorzuheben.8 Die Arbeit der Intellektuellen besteht jedenfalls nicht in einer bloßen Verdoppelung des Gängigen oder Gefälligen, sondern zumindest in seiner Anreicherung. Denkverbote, gleich von welcher Seite diese aufgerichtet werden, fordern sie grundsätzlich heraus. Gegen Verdrängungen leisten sie Erinnerungshilfen. Ebenso sind sie Liebhaber von Experimenten. Als Spezialisten für Irritation verstehen sie im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit ihren Ärger über den Gang der Dinge auch einmal pointiert oder schrill zu äußern, wenn die Sache es erfordert – wobei sie gewärtig sein sollten, dass Provokationen sich leicht abnützen. Auf manches, was schon bekannt sein mag, fällt durch ihre Zuspitzung ein neues Licht.

Ohne darüber in Selbstgenuss zu verfallen, haben Intellektuelle keine Angst, notfalls gegen den Strom zu schwimmen. Sie sind mögliche Außenseiter, auch Dissidenten, manchmal Querköpfe, dabei in jedem Falle nie ohne das Bewusstsein auch für ihre persönlichen Fragwürdigkeiten. Pier Paolo Pasolini hat eine der sinnigsten Metaphern dafür gefunden. Ihm zufolge turnen die Intellektuellen als geistige „Freibeuter“9 in der Takelage von Politik, Gesellschaft und Kultur herum: ungebunden, ungesichert, ungezähmt.

Auch wenn sie bisweilen gemeinsam für etwas eintreten, handelt es sich bei ihnen letztlich doch um Einzelne – weniger im Sinne der Individualisierungstheorie der Sozialwissenschaften, als in dem älterer Traditionen. Ihr Eigensinn reagiert auf eine Entwicklung, die John Stuart Mill im embryonalen Zustand der Moderne bereits für starke, selbstbewusste, innerlich freie Persönlichkeiten plädieren ließ, die dem Druck der geistigen Vereinheitlichung standhalten. „In diesem Zeitalter“, schreibt er in „Über Freiheit“ (1859), „tut schon das bloße Beispiel von Nonkonformität, die bloße Weigerung, das Knie vor der Gewohnheit zu beugen, einen Dienst. Gerade weil die Tyrannei der öffentlichen Meinung derart groß ist, dass sie die Exzentrizität zu einem Makel macht, ist es wünschenswert, dass Menschen, um diese Tyrannei zu brechen, exzentrisch sind.“10 Die Koordinaten dessen, wogegen man quer denkt, vermögen natürlich je nach situativem Erfordernis immer neu ausgerichtet zu werden.

Oft haben Intellektuelle eine öffentliche Präsenz. Um sie herum entstehen Diskussionen. Nicht zu verwechseln ist dies mit bloßer Aufmerksamkeit in den Medien. Intellektuelle sind keine allzeit bereiten Bewerter, die in eines der heute immer irgendwo offenen Mikrophone reden und sich zu Instant-Kommentaren hergeben. Angesichts der Beschleunigung öffentlicher Wahrnehmung in jenem großen Medienverbund, zu dem die Gesellschaft mutiert ist, und insofern der Sphäre gerade der elektronischen Kommunikationsmittel ein Hang zur kurzen Haltbarkeit, zum Indifferentismus und zur Banalisierung inne wohnt, haben sich die Bedingungen für den Typus unverkennbar erschwert.

Ein Weiteres kommt hinzu. Allgemein durchgesetzt hat sich ja längst, was man als „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ bezeichnet,11 dass nämlich reflexiv erzeugtes Wissen und akademisch geschulte Expertenkulturen maßgeblichen Einfluss auf die Steuerung komplexer sozialer Organisationen gewinnen. Zwischen Intellektuellen und dieser mehr oder weniger unabhängigen Elite eines funktional eingebundenen Sachverstands – den „techniciens du savoir“, wie Jean-Paul Sartre sie nannte12 –, kann durchaus ein Gegensatz auftreten. Intellektuelle beziehen ihre Autorität zwar aus ihrem angestammten Bereich, meist der Literatur – vielleicht das klassische Terrain des freien Geistes überhaupt13 –, der Wissenschaft oder der Philosophie, sind ihrem Selbstverständnis nach aber eher Vermittler und Grenzgänger als Fachgelehrte. Sie beanspruchen keinen besonderen Zugang zur Wahrheit, lassen sich das Recht zur Teilnahme an einem unter Staatsbürgern zu führenden Diskurs jedoch nicht nehmen. Worauf sie bestehen, ist der nicht bloß spezialisierte Gebrauch von Vernunft und Wissen. Warum sollte man auch in allen wichtigen Fragen dem Expertentum das Feld überlassen? Ist der Rückzug in das Reservat der Auskenner, wo man sich gegen die Anfechtungen einer kritisch nachfragenden Perspektive immunisiert, wirklich eine Lösung für alle kulturellen und gesellschaftlichen Probleme? Gibt es dort keine Betriebsblindheiten? Ist man gegen den Einfluss von Interessen gefeit? Warum also dürfte man keine Meinung haben, ohne deswegen gleich bloß gesinnungstüchtig zu sein?

Gewiss darf die institutionell gestützte oder dienstbare Kompetenz nicht von vornherein und pauschal verdächtigt werden. Während aber der sich im Bündnis mit technokratisch ausgerichteter Politik befindliche Experte – an Schaltstellen wie Gremien, Kommissionen und Beiräten, wo er wie auch immer gesicherte „wissenschaftliche“ Zuarbeit leistet –, dafür empfänglich sein mag, irgendwelche „Weiterentwicklungen“ ohne Konsultation und Debatte herbeizuführen, setzt der Intellektuelle auf das Prinzip Mündigkeit. Experten neigen öfter einmal dazu, vermeintlich alternativlose Transformationsprozesse in eigener Regie zu steuern, indem sie andere für unzuständig erklären. Der Intellektuelle hingegen will kritisiert werden. Man soll über seine Einlassungen grundsätzlich geteilter Meinung sein können. Diskussionsfreie Zonen hasst er und liebt dafür den Austausch, nicht das Schlusswort. Wichtiger als das Rechthaben ist für ihn, dass es immer ein Gewinn bleiben soll, mit ihm und über ihn zu streiten. Gerade dadurch wird er nicht nur zum Katalysator aktueller Befindlichkeiten. Indem er so auch auf eine mögliche Verständigung der Bürger über die Grundlagen ihres Zusammenlebens sowie Ziele und Zwecke politischen Handelns dringt, erfüllt er eine unverzichtbare öffentliche Aufgabe. „Für diese“, schrieb der katholische Philosoph Jacques Maritain, „braucht man die Intellektuellen.“14

Einer Technokratie, ließe sich im Anschluss daran zugespitzt formulieren, reichen Wissenschaftler und Experten – der Demokratie hingegen sind darüber hinaus immer noch Intellektuelle nötig, die kritische Distanz zu den Apparaten der Macht halten. Gerade deshalb ist die Autonomie der intellektuellen Felder und ihrer Repräsentanten so wichtig. In dieser ihrer Grundbedingung schlechthin handelt es sich bei Intellektualität um die Option für eine Kultur der geistigen Wachheit und des Arguments, der Anregung und der Kontroverse, der Mühe des Sich-Auseinandersetzen-Lernens und des Verstehen-Wollens.

Eigensinn und Bindung

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