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1. Ein alter Bekannter

Japan, Nabari, Juli 1565

Ein eisiger Wind wehte ungestüm über das große Tal und hörte sich wie das Geflüster von Geistern an, die ein schreckliches Ereignis vorhersagten. Grollender Donner und erleuchtende Blitze, die am Horizont einschlugen, erhellten den dunklen Nachthimmel, begleitet vom lauten Peitschen des Regens, der sich über das gesamte Dorf von Nabari ergoss.

Doch Jiraiya schien nichts davon zur Kenntnis zu nehmen. Bis auf die Haut durchnässt eilte er durch die menschenleeren Straßen seines Heimatorts. Nachdem er eine Besorgung in einem benachbarten Dorf gemacht hatte, in dem er länger geblieben war, als geplant, hatte er keinen sehnlicheren Wunsch, als wieder zurück in seinem gemütlichen Zuhause zu sein.

Hastig öffnete er die Tür seines Hauses und flüchtete hinein. Kaum hatte er den Eingangsbereich betreten, wurde er von dessen Stille und Leere wieder daran erinnert, dass er mit Ausnahme eines seiner Söhne, den er nicht allzu oft zu Gesicht bekam und der auch jetzt wahrscheinlich nicht da war, schon seit einiger Zeit alleine lebte. Seitdem sein anderer Sohn und seine Tochter das Elternhaus verlassen hatten, um in ihr eigenes zu ziehen, schien ihm sein Leben viel einsamer geworden zu sein. Obwohl er sie fast jeden Tag in Nabari sah, hatte er nicht mehr so oft die Möglichkeit mit ihnen zu sprechen wie früher, als sie noch bei ihm gewohnt hatten.

Nachdem Jiraiya sich schnell umgezogen hatte, ging er in sein Schlafzimmer und öffnete eine Holzkiste, um dort einen Futon herauszuholen. Langsam breitete er diese Schlafmatratze auf dem Boden aus.

Müde legte er sich hin, zuckte jedoch auf, als er spürte, wie ein spitzer Gegenstand sich in seinen Rücken bohrte. Er setzte sich auf und griff nach dem Objekt, wobei er es sich direkt vor die Nase hielt. Sobald er begriff, was es war, erweichten seine Gesichtszüge.

Es war die Haarnadel seiner Frau.

Er seufzte betrübt, als er an sie dachte. Zehn Jahre waren bereits nach ihrem Tod vergangen. Er erschauerte und korrigierte sich selbst: Nein, nachdem sie ermordet wurde. In seinen Armen hatte sie ihren letzten Atemzug gemacht, während ihr Blut seine Kleidung durchtränkte.

Gekränkt brach er mit diesen Erinnerungen ab. Sie waren viel zu schmerzvoll für ihn und er wollte sie lieber dort lassen, wo sie hingehörten – in der Vergangenheit. Schnell verscheuchte er seine Gedanken und legte sich hin, um zu schlafen.

Kaum waren zehn Minuten vergangen, als er auf einmal aufwachte. Er hatte ein Geräusch wahrgenommen, das für ungeübte Ohren nicht einmal bemerkbar wäre.

Hastig setzte er sich auf. Außer ihm sollte eigentlich niemand im Haus sein. Plötzlich bekam er eine schlechte Vorahnung …

Er schluckte, als die Angst in ihm hochstieg und griff furchtsam, aber entschlossen nach seinem Kurzschwert, welches neben ihm lag und in einer Schwertscheide steckte. Nur einen einzigen Gedanken hatte er im Kopf.

Er ist wieder da.

Jiraiya wusste nicht, wie es möglich sein könnte, doch er spürte seine Anwesenheit. Er wusste, dass es er war und kein anderer. Und er wusste auch, weshalb er gekommen war …

Er wollte Rache …

Jiraiya blieb totenstill und lauschte angestrengt. Draußen wütete immer noch das Gewitter, das jedoch schon etwas abgenommen hatte, sodass er jede Bewegung in seinem Haus viel leichter hören konnte. Die meisten Dorfbewohner schliefen bereits tief und fest, weil es Mitternacht war. Nur er nicht …

Er atmete tief ein und schloss einen Moment lang die Augen, um seine fünf Sinne zusammenzunehmen. Seine drei größten Feinde verbannte er aus seinem Verstand: das Zögern, die Furcht und den Zweifel. Sein Körper spannte sich unwillkürlich an, als er die Anwesenheit eines Menschen schlagartig hinter sich wahrnahm.

Er spürte den Angriff, bevor er ihn sah.

Instinktiv seinen Oberkörper nach links neigend, ließ er sich in diese Richtung fallen und fühlte einen kleinen Luftzug an seiner Wange, als eine Klinge knapp seinen Kopf verfehlte. Ihm gelang es, seinen Sturz in eine Seitwärtsrolle umzuwandeln und auf die Beine zu springen. Abwehrbereit drehte er sich um und riss mit einer geschickten Bewegung sein Schwert aus der Scheide, die er sogleich fallen ließ. Seine Augen weiteten sich, bevor er sie wieder wütend zusammenkniff, als sich seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten.

Er schnappte nach Luft. „Takeru.“

Der Mann, der ihn angegriffen hatte, schaute ihn zuerst emotionslos an. Gelassen trat er einen Schritt auf ihn zu, sodass Jiraiya sein vernarbtes Gesicht noch besser erkennen konnte, dessen Bleiche selbst einen erwachsenen, kampferprobten Mann einschüchtern konnte. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem boshaften Lächeln.

„Freust du dich denn nicht, mich wiederzusehen, alter Freund?“

Jiraiya ignorierte die Frage. „Wie kannst du es wagen, wieder zurückzukommen? Du hast geschworen, dich hier nie wieder blicken zu lassen! Ich habe dich vor langer Zeit aus Nabari verbannt!“

Takeru schnaubte verächtlich. „Du bist ein Narr, wenn du geglaubt hast, dass ich diesen Schwur halten würde. Das Verlangen nach Vergeltung hat mich dich aufsuchen lassen, denn ich habe eine unerledigte Angelegenheit, die ich zu Ende bringen muss. Ich glaube, du weißt ganz genau, was ich meine.“

Drohend machte er einen Schritt auf Jiraiya zu und hob leicht sein Kurzschwert. Der Letztere bemerkte, wie Takeru heimlich ein paar Shuriken, Wurfsterne, aus einer verhüllten Tasche herauszog.

Unsicher darüber, wie er darauf reagieren sollte, blieb er bewegungslos stehen und starrte seinen Rivalen an. „Was willst du?“

Takeru grinste grimmig. „Dir ein Ende setzen!“

Plötzlich warf er zwei Shuriken nacheinander auf seinen Gegner. Bedenkenlos wich Jiraiya zur Seite aus und zerspaltete einen der Wurfsterne direkt in der Luft, bevor er sich in seinen Hals bohren konnte. Er musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass Takeru mit einem Schwertstoß aufeinanderfolgen würde. Unverzüglich hob er sein Ninjatō, sein gerades Kurzschwert mit einer viereckigen Parierstange, um den Angriff zu parieren.

Mit einem Klirren prallten zwei Klingen aufeinander. Einen Augenblick lang verharrten die beiden Männer in dieser Stellung und starrten sich gegenseitig in die Augen. Im Blick seines Widersachers konnte Jiraiya nur Hass sehen, blinden Hass, der schon in ihrer Kindheit Wurzeln geschlagen hatte.

Mit einem unterdrückten Schrei versuchte Takeru seinen Gegner gegen die Papierwand zu werfen, indem er sein ganzes Gewicht nutzte, um ihn vorwärts zu stoßen. Der Hauch eines Lächelns erschien auf Jiraiyas Gesicht, als er seine Chance sah. Statt sich zu widersetzen, zog er sein Schwert an sich und duckte sich.

Zu spät bemerkte Takeru seinen Fehler. Erschrocken riss er vor Angst die Augen auf, bevor er über Jiraiyas Rücken taumelte. Mit dem Kopf knallte er heftig gegen die Papierwand vor ihm, die sofort zerriss und deren Balken mit einem lauten Krach zerbrach.

Fluchend und hustend, erhob er sich, als ihm Staub in die Luftröhre gelangte. Eilig schaute er sich um, bis er seinen Feind erneut finden konnte. Jiraiya bückte sich und betrat das dunkle Zimmer, ohne der gebrochenen Wand seines Hauses die mindeste Aufmerksamkeit zu schenken. Dann stand er genauso still wie zuvor. Sein Rivale kannte ihn nur allzu gut und wusste, dass dieser einen Trick im Ärmel hatte und ihn im günstigsten Moment einsetzen würde.

„Worauf wartest du? Auf eine Einladung?“

Takeru lachte leise vor sich hin, als er diese Stichelei hörte. Der Ton seiner Stimme deutete unverkennbaren Spott an.

„Wenn ich auf eine Einladung gewartet hätte, wäre ich nicht hier. Ergib dich hier und jetzt! Wenn du’s tust, schwöre ich deinen Tod schmerzlos zu machen.“

Jiraiyas Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich habe dich schon einmal besiegt und ich schaffe es nochmal.“

„In meinem ganzen Leben habe ich nur eine einzige Niederlage erlitten – eine einzige!“, zischte Takeru und warf sich auf seinen Gegner.

Gewandt wich Jiraiya dem Angriff aus und konterte mit einem stechenden Schwerthieb. Sobald er abgewehrt wurde, konnte er ohne Schwierigkeiten den konsekutiven Stoß seines Widersachers vorhersagen und bereitete sich darauf vor, ihn zu blockieren.

Zornig umklammerten Takerus beide Hände den Griff seines Ninjatō, während er es mit unglaublicher Geschwindigkeit über seinen Kopf hob. Im nächsten Augenblick schlug er mit einer flinken, vertikalen Bewegung nach unten. Jiraiya parierte blitzschnell, indem er sein Kurzschwert innerhalb einer Sekunde von links nach rechts in der Form eines Bogens schwang und gegen die Waffe seines Gegners prallen ließ.

Das gegnerische Ninjatō wurde beim Aufprall ein wenig umgelenkt und ließ die rechte Seite seines Besitzers einen Augenblick lang ungeschützt. Dies war der Moment, auf den Jiraiya gewartet hatte.

Zu Takerus Entsetzen sah er, wie eine Klinge aus dem Ärmel seines Widersachers hervorblitzte. Pfeilgeschwind stieß sie ihm dieser in die Seite. Mit einer Verwünschung wich Takeru zurück, als er den brennenden Schmerz in seiner Seite spürte. Gleich darauf sprang Jiraiya hoch und trat ihm kraftvoll ins Gesicht, bevor er sich verteidigen konnte. Mit einem Stöhnen fiel er zu Boden, ein paar Meter von seinem Rivalen entfernt, dem er jetzt den Rücken zuwandte.

Zitternd vor Zorn wischte Takeru das Blut von seiner gebrochenen Nase ab. Er konnte die Verwundung an seiner Seite deutlich spüren, die bei der geringsten Bewegung äußerst wehtat. Sein Gesicht lief rot an, als er von schäumender Wut über sein bisheriges Versagen gepackt wurde. Hinter sich hörte er leichte Schritte, die nicht weit von ihm wieder verstummten.

„Wie konntest du bloß zurückkehren, Takeru?“, fragte ihn Jiraiya. „Du hast deinen Schwur nicht gehalten, obwohl ich dein Leben verschont hatte … deshalb bleibt mir keine andere Wahl, als dich dafür bezahlen zu lassen …“

Das kaum hörbare Geräusch einer Klinge, die durch die Luft sauste, ertönte. Statt zu blockieren oder auszuweichen, griff Takeru nach einem Metsubushi, eine Eierschale, in die er vor einigen Tagen mithilfe einer Nadel ein Loch gebohrt und anschließend vorsichtig mit verschiedenen Bestandteilen gefüllt hatte, zu denen Salz, pulverisierte Paprika, Mehl, Asche, Eisenspänen sowie Staub gehörten. Unvermittelt schleuderte er diese eigenartige Mischung ins Gesicht seines Angreifers.

Jiraiya hob instinktiv seinen Arm, sobald er begriff, dass er überlistet worden war, und drehte aus Reflex den Kopf zur Seite. Er sprang zurück, um diesem Ablenkungsmanöver nicht zum Opfer zu fallen. Schnell wischte er sich mit dem Handrücken übers linke Auge, das eine gehörige Portion des blendenden Pulvers abbekommen hatte.

„Stirb!“

Zu spät konnte er den Angriff seines Rivalen mit seinem unversehrten Auge wahrnehmen. Verzweifelt versuchte er den Schwerthieb zu parieren. Mit einem lauten Schmerzensschrei warf er den Kopf zurück und blieb wie gelähmt stehen, als er spürte, wie das gegnerische Kurzschwert ihm den Bauch durchbohrte.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Takeru an. Der Letztere grinste heimtückisch und schadenfroh.

„Ich habe von Anfang an gewusst, dass dieser Tag kommen würde“, höhnte er.

Plötzlich drehte er sich im Kreis und trat seinem Widersacher mit der immensen Schwungkraft gegen die Brust. Mit einem gequälten Stöhnen flog Jiraiya zurück und schlug auf den Tatami, den Strohmatten, auf, die den ganzen Boden bedeckten.

Zuckend atmete er schlagartig ein. Eine gewaltige Menge von Blut sprudelte aus seinem Bauch hinaus und sickerte in die Tatami. Die unerwartete Wärme der roten Flüssigkeit ließ ihn unwillig erschaudern und er öffnete schwach die Augen. Zuerst konnte er nur verschwommen sehen und es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, dass Takeru vor ihm in einer halb knienden, halb hockenden Position verharrte und ihn gefühllos anschaute.

„Ich habe fast mein ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet. Wer hätte gedacht, dass ich nach zehn Jahren des Exils endlich meine Rache bekommen würde?“

„Mein Tod wird von keiner Bedeutung sein!“, zischte Jiraiya. „Das Schicksal selbst wird dich für dein böses Wesen bestrafen!“

Takerus Grinsen verschwand, als eine schmerzliche Erinnerung in seinem Gedächtnis aufblitzte und er wurde ganz ernst. Der Hass loderte in ihm wieder auf.

„Das Schicksal hat dich für deine Missetaten büßen lassen. Du hast mir das weggenommen, was ich am meisten geliebt hatte. Jetzt werde ich dir das Gleiche antun.“

Jiraiyas Kinnlade klappte herunter und die Hoffnungslosigkeit wurde deutlich an seinem Gesicht erkennbar. „Du wirst es nicht wagen!“

Leider kannte er seinen Rivalen viel zu gut und wusste, dass er dazu fähig war. Doch die Schadenfreude sowie der Spott in Takerus Gesicht schienen darauf zu deuten, dass er Jiraiya einfach nur quälen wollte und seine Worte nicht ernst meinte.

Matt bemühte sich der Letztere, sein Bewusstsein nicht zu verlieren, als mehr Blut aus ihm herausfloss. Zugleich versuchte er sein Schwert, das neben ihm lag, zu sich zu ziehen. Takerus fieses Lächeln kam wieder zurück, sobald er Jiraiyas armselige Reaktion sah und er schubste das Ninjatō aus der Reichweite des Sterbenden. Erbarmungslos näherte sich seine Hand der Brust seines Gegners.

Jiraiya spannte entsetzt seinen ganzen Körper an, als er die Absicht seines Widersachers erkannte. Takeru wollte Dim Mak, die Kunst der tödlichen Berührung, anwenden, um ihn zu töten.

„Fünfundzwanzig Jahre lang hast du mich terrorisiert und diese Unterdrückung wird heute ein Ende nehmen. Ich will, dass du leidest, so wie ich all diese Jahre gelitten habe.“

Hasserfüllt drückte er fest auf einen Nervenpunkt auf Jiraiyas Brust. Der Letztere zuckte vor Qual auf und spürte, wie seine Atemwege versperrt wurden. Er begann schmerzvoll zu husten.

In Todesangst versetzt, versuchte er tiefe Atemzüge zu nehmen, doch keine Luft kam in seine Lungen hinein. Brennende Schmerzen durchzuckten seinen ganzen Körper und er konnte wegen der Pein kein einziges Wort mehr über die Lippen bringen. Mit einem sterbenden Husten blickte er schwach zu seinem Rivalen auf.

„Wir werden unseren Kampf im nächsten Leben fortsetzen“, meinte Takeru und hob sein Messer. „Schlaf gut“, flüsterte er spöttisch und stieß die Klinge in Jiraiyas Herz.

Shinobi - Der Weg der Schatten

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