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8. SWEDENBORGIANISCHE IMPULSE IN DEN 1840ER UND 1850ERN
ОглавлениеIn den 1840ern lies sich ein Anstieg des Interesses der Nordamerikaner an Swedenborg beobachten, wie es ihn zuvor nicht gegeben hatte und seither auch nicht mehr geben sollte. Obgleich die Ideen Swedenborgs seit über 50 Jahren in der Neuen Welt präsent waren, schien es in jener Zeit eine kritische Masse zu geben, die von verschiedenen Auslösern entzündet wurde, letztlich zu flammender Begeisterung führte und sich rasch über Neuengland und den Rest des Landes ausbreitete. Im Nordosten des Landes, insbesondere im westlichen Teil des Bundesstaates New Yorks, hatte es verschiedene Wellen enthusiastischer und Erweckungsbewegungen gegeben, die diesem Bereich des Bundesstaates seinen Spitznamen gaben: ‚Burned-over District’.29* Die swedenborgianische Welle schwappte im Kielwasser der Phrenologie und in Verbindung mit dem Mesmerismus über New York und den Nordosten. Umgekehrt sollte diese swedenborgianische Welle ihrerseits eine weitere Bewegung befeuern: den Spiritismus.216
Der Mesmerismus half dabei, ein populäres Interesse an der Erforschung von Körper, Mentalem und Geist zu wecken. Zu dieser Zeit gab es kein dominierendes Paradigma, welches die neuen psychischen Phänomene des Mesmerismus erklärte. Viele Suchende fanden plötzlich Antworten in den Anschauungen Swedenborgs. Viele Unitarier, Universalisten, Quäker und andere aus den fortschrittlichen Traditionen studierten den animalischen Magnetismus und gingen davon aus, dass er auf höhere Sachverhalte verweise. Sie betrachteten die mesmerischen Phänomene als Zeichen einer neuen Wissenschaft des Geistes. Die Welten der Materie und des Mentalen würden sich verbinden, wobei der Geist als Ursache und die Natur als Wirkung fungierten. Es schien, als sei „[…] der Mesmerismus in dieser Zeit als Ausdruck einer Bestätigung der Botschaft Swedenborgs entwickelt worden.” Das Interesse an Swedenborg stieg innerhalb der universalistischen, unitarischen und der Kirchen der Quäker während der 1840 er stark an.217 Obgleich sich der Mesmerismus also nicht unmittelbar auf den Swedenborgianismus bezog, half er dabei, eine swedenborgianische ‚Mode’ ins Leben zu rufen. So entwickelten sich die Anschauungen Swedenborgs in den 1840ern zu einer enthusiastischen Bewegung, „[…] so greifbar und bedeutungsschwer wie jene der Adventisten oder der frühen Erweckungsbewegung.”218 Der Historiker Whitney Cross beschrieb den swedenborgianischen Impuls folgendermaßen:
„Der Swedenborgianismus drang tiefer in die Herzen der Menschen als jene Reformbewegung, die ihm den Weg bereitete, denn es handelte sich um eine Religion. Die Bibel und die Erwecker hatten die Menschen hungrig nach etwas gemacht, das mehr als soziale Versöhnung bedeutete. Swedenborgs Angebot eines neuen Himmels und einer neuen Erde traf dieses Bedürfnis optimal […] Die wissenschaftlich orientierten Menschen waren entzückt, denn er war primär ein Mann der Wissenschaft und schien das Universum auf eine wissenschaftliche Ordnung zurückzuführen. Die Mystiker waren entzückt, denn er führte sie kühn ein in die Mysterien der Intuition und einer unsichtbaren Welt. Die Unitarier mochten ihn, weil er, während er erklärte, Christus sei ‚Jehovah’ selbst, die orthodoxen Ideen der Gottessohnschaft und der Tripersonalität ablehnte. […] Sogar die Ungläubigen mochten ihn, weil er die halbe Bibel verwarf. […] Seine gewaltigen Imaginationen und großartigen Versprechungen passten haargenau zum Geist der sie begleitenden Reformlehren.”219
Obgleich Swedenborgs Anschauungen rationale Erklärungen zur geistigen und natürlichen Existenzebene sowie zum geistigen Wachsen umfassten, stellten sie zugleich die Grundlage einer Religion dar. Dabei ging es nicht um schlichte Neugier angesichts eines neuen Phänomens wie im Falle des Mesmerismus, denn der Swedenborgianismus appellierte zugleich an den wissenschaftlich orientierten wie auch an den religiösen Menschen. Swedenborg schrieb: „Jetzt ist es erlaubt, die Glaubensmysterien intellektuell zu betreten.” Seine Überlegungen appellierten an die Dissenter der etablierten Denominationen, die nach einer spirituellen, religiösen Weltsicht suchten, welche sich vom orthodoxen Mainstream unterschied. Swedenborg machte das gesamte Universum religiös intelligibel, behandelte nahezu jedes einzelne historische dogmatische Thema und erfreute dennoch auch diejenigen, die sich Freiheit von alten Dogmen wünschten. Er postulierte eine zugrunde liegende Liebe Gottes, welche Freiheit und möglichen menschlichen Fortschritt sowohl in dieser als auch in der nächsten Welt sicherstellte – und er bot eine neue Interpretation der Bibel, die höhere Bedeutungen erschloss.220 Der Historiker Sydney Ahlstrohm schrieb dazu:
„Daher fand damals jedes der Hauptthemen der Sektierer – Vollkommenheit, Millenarismus, Universalismus, Illuminismus – einen Platz in seiner Botschaft. Kurz: Seine Popularität schuf in Nordamerikas großer Periode religiöser Erneuerung viel Neues.” 221
Während der 1840 er hielt Emerson Vorträge über Swedenborg und die Transzendentalisten suchten in seinen Werken nach Inspiration. Emersons erstes Buch Nature (1836) wurde fälschlicherweise sogar als swedenborgianisch eingeschätzt. Die Führer der nicht-separatistischen Neuen Kirche lehrten die swedenborgianische Lehre innerhalb der kirchlichen Traditionen, u. a. bei den Universalisten, Quäkern und Episkopalkirchen. Die Versammlungen der separatistischen Neuen Kirche institutionalisierten sich; sie wurden aufgrund ihrer Kontakte und wohl noch mehr durch energische Publikation und Verbreitung von swedenborgianischem Material sehr einflussreich. Die Freien Geister der swedenborgianischen Bewegungen waren zugleich die am stärksten reformorientierten und prüften Ideen wie den Mesmerismus als Beweisgrundlage zur Unterstützung der Paradigmen Swedenborgs. Einer der bekanntesten unter diesen Freien Geistern war der bereits erwähnte George Bush aus New York City.222
Die Neue Kirche in Nordamerika maß während der 1840 er und 1850 er gemeinsamen Überzeugungen ebenso besondere Bedeutung zu wie Individualität. Damit widersprach sie dem allgemeinen ideologischen Trend der Gesellschaft jener Zeit, ohne sich dabei jedoch von der Außenwelt zurückzuziehen. Mitglieder der Neuen Kirche waren auf allen Ebenen der Gesellschaft aktiv, insbesondere in ihren Berufen und auf intellektueller Ebene. Die Neue Kirche verstand Swedenborgs Schriften als anderen überlegen und erfasste seine Theologie, Kosmologie und Philosophie. Gleichwohl war sie offen für verschiedene Anwendungen dieser Anschauungen und respektierte Individualität. Die Attraktivität der Weltsicht der Neuen Kirche bestand in einer einzigartigen Versöhnung von Religion, Wissenschaft und Spiritualität, die sich besonders an Gebildete wendete.223
Swedenborgianer hatten das Einfließen von mehr Spiritualität in die amerikanische Gesellschaft, Ökonomie und Politik im Blick. Sie erhofften eine allmähliche Reform der irdischen Gesellschaft in Richtung einer himmlischen. Dies sollten ein kontinuierlicher, schrittweiser Prozess sowie mutige Reformen in Bereichen wie Bildung, Ehe und Medizin erreichen. Der Gruppe zufolge sollte sich dies nicht in Gestalt einer revolutionären oder radikalen Veränderung in einem isolierten Bereich vollziehen. Obgleich die Bewegung sich als ganze weniger Aktivitäten, sondern vielmehr dem mündlichen und schriftlichen Diskurs über Reformen verpflichtet sah, „[…] konnte man vor 1860 dennoch einige Swedenborgianer an allen Frontlinien der Reformbewegungen jener Zeit finden.”224
Die damaligen Swedenborgianer standen der Medizin des frühen 19. Jahrhunderts kritisch gegenüber und erkannten deren wichtigste theoretischen und therapeutischen Irrtümer. Die Mainstream-Medizin in jenen Tagen war die sogenannte allopathische Medizin. Sie verfügte über keine einheitliche Theorie der Gesundheit oder einen wirklich vernünftigen Behandlungsansatz. Tatsächlich galten ihre Behandlungsmethoden als nicht hilfreich und sogar gefährlich. Viele Mitglieder der Neuen Kirche waren Ärzte oder Angehörige vergleichbarer Berufe. Doch sie hatten kein schlechtes Gewissen, wenn sie den beklagenswerten Zustand der Medizin in Nordamerika kritisierten. Tatsächlich verließen viele die allopathische Medizin, um Alternativen auszuprobieren, insbesondere die Homöopathie, die bei ihrer Entwicklung in Nordamerika nachhaltig durch Swedenborgianer beeinflusst wurde.225
Eine weniger formelle Form des Swedenborgianismus verbreitete sich auch unter jenen Kirchenfernen, die sich nicht als Teil einer organisierten religiösen Denomination betrachteten, sich aber dennoch nach einer intellektuell ansprechenden Spiritualität sehnten. Swedenborgs Überlegungen, wie die der einander entsprechenden geistigen und natürlichen Wirklichkeitsebenen und die eines liebenden, nicht richtenden Schöpfers, der die Schöpfung nach ihr zugrunde liegenden und verständlichen Gesetzen geschaffen habe, sprach manche an, die auf der Suche nach einer Einheit von Wissenschaft und Geist waren. Swedenborgs Anschauungen durchdrangen die metaphysischen Bewegungen dieser Zeit. Der Historiker Robert C. Fuller schreibt:
„Swedenborgs Einfluss kann in nahezu jeder Philosophie oder Bewegung des 19. Jahrhunderts wahrgenommen worden.” Im selben Abschnitt schließt er: „Der Grund für Swedenborgs Einfluss auf eine derart uneinheitliche Gruppe von Individuen und Sachverhalten ist schlicht, dass seine Schriften eine Vision artikulierten, die unsere wissenschaftlichen und spirituellen Bestrebungen versöhnte.”226
Einige Historiker bemerkten, dass Swedenborg zu einem bedeutenden Symbol der alternativen religiösen Szene wurde. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Swedenborg verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlichen Interessen ansprach. Obgleich alle Gruppen, die in diesem Kapitel erwähnt wurden, swedenborgianisch geprägt waren, variierten sie von institutionell gebundenen bis hin zu freigeistigen und kirchenfernen Menschen. Die 1840 er und 1850 er wurden deshalb auch als ‚swedenborgianische Renaissance in den Vereinigten Staaten’ bezeichnet.227
Es ist allerdings wahrscheinlich, dass die Tiefe im Verständnis für Swedenborgs Gedanken stark variierte. Weil der genuine Swedenborgianismus eine komplexe Theorie darstellt, die viele Anschauungen in sich einschließt, wurde sie nicht immer vollständig rezipiert. Häufig sprachen bestimmte Aspekte einzelne Menschen mehr an als andere. Viele Gruppen gebrauchten Swedenborgs Anschauungen auf verschiedene Weise, obschon sie alle in seinen Werken eine gemeinsame Basis fanden.228
Die 1840 er waren eine Zeit neuer Ideen und philosophischer sowie metaphysischer Bewegungen. Drei der bedeutendsten waren der Mesmerismus, der Transzendentalismus und der Swedenborgianismus. Die swedenborgianischen Ideen wurden sehr populär und innerhalb wie außerhalb der institutionalisierten swedenborgianischen Kirchen verbreitet. Viele von Swedenborgs Gedanken wurden durch den Transzendentalismus einbezogen und popularisiert. Mehr noch aber wurden sie durch eine folgende, noch größere metaphysische Bewegung transportiert, die auf einer Mischung aus Magnetismus und Swedenborgianismus beruhte und die 1850ern dominieren sollte: den Spiritismus. Wie es Whitney Cross bereits formulierte:
„Der Mesmerismus führte zum Swedenborgianismus – und der Swedenborgianismus zum Spiritismus.” 229