Читать книгу RC2722 - Давид Муате - Страница 13
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ОглавлениеSektor G. Ein Labyrinth aus Lüftungsschächten und Rohren, überall brummt und vibriert es. Oliver verkriecht sich in einen natürlichen Hohlraum in der Seitenwand, leicht erleuchtet von einem Fluchtwegeschild, das sein fahles Licht auf die feuchten Steine wirft. Schön ist es nicht, aber auch nicht schlechter als anderswo. Er ist schließlich nicht hier, um die Landschaft zu bewundern. Oliver nimmt an, dass er so weit vom Herzen des Bunkers entfernt ist, dass man ihn erst in einer ganzen Weile finden wird. Es ist Zeit, das Datenimplantat seines Vaters anzuschließen. Seine Hand zittert leicht, als er den kleinen Metallstecker an sein eigenes Implantat anschließt. Wird es funktionieren? Was wird er erfahren? Er macht die Augen zu und ruft gedanklich die Verbindung mit seinem Interface auf. Die Wirkung erfolgt unverzüglich. Eine erste Erinnerung taucht auf. Das hat nichts mit den üblichen Downloads zu tun, über die man Nachrichten sieht oder einen Film schaut. Ethan hatte recht. Über das Implantat seines Vaters erlebt Oliver die Ereignisse mit einer Intensität, als wären es seine eigenen. Er sieht genau das, was sein Vater gesehen hat, er fühlt, was sein Vater gefühlt hat. Über der gespeicherten Erinnerung blinkt ein Datum:
20. August 2075
Olivers Vater sitzt auf einem abgewetzten Sofa, in einer Wohnung, ein Bier in der Hand. Er dreht den Kopf und schaut aus dem Fenster. Wie immer empfindet er den Anblick des alten Hafens von Marseille als tröstlich. In den Straßen herrscht Gedränge, die Sonne brennt, und die warmen Farben der Steine sind beruhigend. Er löst sich mit Bedauern aus seiner besinnlichen Pause. Jemand umklammert seine Wade. Seine beiden Jungs, zwei und vier Jahre alt, streiten sich um ein Spielzeug. Der Kleine zieht am Bein seines Vaters, um sich aufzurichten.
»Papa! Auto!«, sagt er.
Er will das Spielzeugauto wiederhaben, das sein Bruder ihm weggenommen hat.
»Marco, bitte leih deinem kleinen Bruder das Auto.«
Der ältere Junge mustert den Vater aufmerksam. Befehl oder Vorschlag?, scheint er sich zu fragen. Der wohlwollende Tonfall seines Vaters lässt Raum für Zweifel.
»Marco.«
Diesmal verzieht der Junge das Gesicht. Sein Vater gibt nicht nach.
Marco schnappt sich vier Autos und überlässt seinem kleinen Bruder eins davon. Natürlich das, das er am wenigsten mag. Aber der Kleine ist zufrieden und lässt das Auto über das Sofa fahren, bis ans Bein seines Vaters, wobei er mehr oder weniger überzeugende Motorengeräusche nachahmt.
»Wie war dein Tag, Lucas?«
Lucas wendet sich seiner Frau zu.
»Gut. Die Schüler haben konzentriert mitgearbeitet. Wir sind gut vorangekommen. Heute Mittag gab es allerdings ein Problem. Das Wasser wurde abgestellt, und die Köchin konnte nicht kochen. Die Kollegen aus der Küche haben ein Picknick organisiert.«
»Himmel! Das passiert ja immer öfter!« Die Mutter seufzt. »Ich habe die Planung für die nächste Woche bekommen, sie haben noch eine zusätzliche Stunde Wasserstopp angekündigt. Dann gibt es nur noch von acht bis 18 Uhr Wasser.«
»Es wird schlimmer«, bestätigt Lucas. »Heute Morgen kam in den Nachrichten, dass die Deutschen den Rhein umlenken, um ihr Land zu versorgen. Nur ein winziger Teil davon wird noch zwischen den Landesgrenzen fließen. Der Ton zwischen dem Präsidenten und der Kanzlerin verschärft sich. Das verheißt nichts Gutes …«
»Ich mache mir Sorgen, Lucas.« Die Mutter berührt die Schulter des Vaters. »Bei uns ist es ja auch nicht besser. Anscheinend wollen die Savoie und die Haute-Savoie ihre Abkommen mit den angrenzenden Départements neu aushandeln. Sie behaupten, dass ihre Wasserressourcen zu schnell zur Neige gehen.«
Lucas steht auf und tritt ans Fenster. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er in die Sonne. Nicht eine Wolke am Horizont. 44 Grad. Die typische Temperatur für August. Seit drei Monaten ist kein Tropfen Regen mehr auf Marseille gefallen.
»Verdammte Erderwärmung«, murmelt er.
»Wie bitte?«, fragt seine Frau.
»Ach, nichts.«
Zwei Arme legen sich von hinten um ihn. Er liebt Naya wie am ersten Tag. Genussvoll schließt er die Augen. Als er sie nach einigen Sekunden wieder öffnet, fällt sein Blick auf die riesigen Flüchtlingslager, die die Stadt umgeben. Regelrechte Festungen, in denen die armen Menschen zusammengepfercht werden, die aus Afrika geflohen sind und ihr Leben riskiert haben, um in Frankreich eine bessere Zukunft zu finden. Sie wussten ja nicht, dass sie hier die Hölle erwartet.
»Letzte Woche gab es in den Lagern 108 Tote«, flüstert Naya.
»Wie kann man das zulassen?«, erwidert Lucas.
»Die Behörden sind überlastet. Sie kommen kaum den Anfragen der Einwohner nach. Die Lager haben das Nachsehen.«
»Das ist keine Umgebung, in der ich meine Kinder aufwachsen sehen will«, schnaubt Lucas.
»Ich auch nicht, Liebling. Ich auch nicht.«
»Denkst du, wir sollten wegziehen? Ich habe gehört, dass die Vincents ihre Koffer gepackt haben.«
»Ja, das habe ich auch gehört. Sie sind in die Normandie gezogen, dort haben sie ein Ferienhaus. Da ist es wohl nicht ganz so schlimm mit der Trockenheit.«
Wohin man auch blickt, ist der Befund eindeutig. Die Vegetation stirbt. Der Großteil der Bäume hat die Dürren der letzten Jahrzehnte nicht überlebt, nur einige Palmen halten noch durch, aber wie lange noch? Der Süden des Landes gleicht einer Wüste.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagt er.
»Wegziehen? Wohin denn? Wir haben kein Ferienhaus im Norden. Und meine Eltern, was sollen die ohne uns machen?«
Lucas nickt und nimmt Naya in die Arme. Er küsst seiner Frau zärtlich die Stirn und streicht sanft die Träne weg, die über ihre Wange läuft.
»Ich liebe dich«, sagt er.
»Papa! Auch Küsschen!«
Lucas geht in die Knie, um Oliver auf den Arm zu nehmen. Der Kleine drängelt sich immer wieder dazwischen, wenn seine Eltern sich küssen. Lucas wirbelt ihn durch die Luft.
»Ja! Noch mal! Noch mal Flugzeug!«, ruft er.
Langsam verdrängt das Lachen die Tränen und beendet das Gespräch von Naya und Lucas.
Oliver reißt den Stecker heraus. Sein Herz schlägt heftig. Er hat gerade zum ersten Mal das Gesicht seiner Mutter gesehen. Sein Vater hat auf ihrer Reise zum Bunker alle Fotos verloren, die er von ihr hatte. Wie schön sie war!, denkt er. Und er ist überwältigt von den Gefühlen seines Vaters. So viel Liebe … Das ist so anders als das Bild, das er von diesem kalten, ernsten Mann hat. Der kurze gestohlene Moment weckt viele neue Fragen in ihm: Oliver wusste weder, dass seine Eltern in Marseille gelebt haben, noch, dass sein Vater Lehrer war.
Seltsam. Sehr seltsam.
Und noch seltsamer ist, wie seine Mutter ihn angesprochen hat: Lucas. Was ist mit Nikolaï?
Oliver brennt darauf, mehr über die Vergangenheit seines Vaters zu erfahren, um all diese grauen Flecken zu tilgen. Wenn er sich wieder in den Inhalt des Implantats vertieft, wird er dann die nächste Erinnerung sehen oder eine ganz andere? Fast bereut er es, die Erinnerungsreise unterbrochen zu haben. Er will wieder den Stecker anschließen, als ein vertrautes Geräusch an sein Ohr dringt.
Das Surren einer Wartungsdrohne!
Er hat sie oft genug benutzt, um das Geräusch zu kennen. Innerlich verflucht er das kleine Fluggerät, das entwickelt wurde, um auf der Suche nach schadhaften Stellen ununterbrochen durch die Tunnel zu schwirren, und das von Algorithmen gesteuert wird, denen kein Winkel entgeht. Während das Geräusch näher kommt, überwiegt die alles entscheidende Frage: Wie lässt sich das verdammte Ding täuschen, damit er unentdeckt bleibt?
Das Geräusch wird eindringlicher, doch Oliver zögert, sein Versteck zu verlassen und willkürlich durch die Gänge zu rennen. Die Drohne ist nur noch wenige Meter entfernt. Oliver hält den Atem an.
Wie durch ein Wunder ändert sie die Richtung und surrt in einen abzweigenden Gang.
Das war knapp, denkt er. Er kann, er darf jetzt nicht verhaftet werden. Er ist so nahe dran! Auf dem Implantat sind ungeheuerliche Informationen, davon ist er überzeugt. Er verlässt seine Nische. Das nächste Mal wird er nicht so viel Glück haben, und dann sitzt er wie eine Ratte in der Falle. Er braucht ein besseres Versteck.
Langsam geht er weiter, die Ohren gespitzt, und hofft, dass sich irgendeine Lösung auftut. Mit ausgestreckten Händen tastet er sich durch die schummrigen Gänge, von Lichtinsel zu Lichtinsel. An der nächsten Abzweigung hört er wieder das Surren der Drohne und eilt zurück in die Dunkelheit. Plötzlich gibt der Boden unter ihm nach, und er fällt in einen Schacht. Er versucht, sich mit den Armen an den Wänden abzufangen. Aber der Schacht ist zu steil, und die Metallwände bieten keinen Halt. Lange Sekunden vergehen, bis er unsanft auf einem steinigen Untergrund landet. Ein heftiger Schmerz schießt ihm in den Ellbogen, und sein linker Hüftknochen tut verdammt weh. Er verzieht das Gesicht, trotzdem ist er erleichtert.
Wenigstens nichts gebrochen, stellt er schnell fest.
Er konzentriert sich. Kein Drohnengeräusch mehr. Vielleicht hatte er sogar Glück im Unglück. Ganz kurz knipst er seine Taschen-LED an. Er ist in einer natürlichen Höhle gelandet. Sie scheint keinen Ausgang zu haben, da kein Luftfilter seinen Fall gebremst hat. Fast zwei Meter über ihm gähnt der Schacht, durch den er gefallen ist. Das wird nicht leicht, da wieder hochzukommen … Er wird eine andere Lösung finden müssen.
Aber erst will er das Implantat noch einmal anschließen. Er macht es sich so bequem wie möglich und taucht wieder in die Vergangenheit seines Vaters ein. Die Erinnerungslotterie führt ihn in eine neuere Episode zurück.