Читать книгу RC2722 - Давид Муате - Страница 14

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13. Juli 2090

Lucas steht sehr gerade, die rechte Hand auf dem Herzen, die linke neben dem Körper, wie es die Tradition will. Wie jeden Monat wohnt er der großen Zeremonie zu Ehren der Wasserkrieger bei, die den Bunker verlassen werden, um Nachschub der kostbaren Ressource zu beschaffen. Alle Bewohner haben sich im Forum versammelt, dem weitläufigen Raum in Form eines Amphitheaters, wo die großen Gemeinschaftsereignisse stattfinden. Männer, Frauen, Kinder, Alte, alle sind zusammengekommen, um den mutigen Soldaten Glück zu wünschen, damit sie mit neuen Vorräten wiederkehren. Die Truppe besteht aus dreißig Männern in schweren Hightech-Kampfanzügen. In dieser Montur sehen die Wasserkrieger beinahe aus wie Cyborgs. Ihre Waffen blitzen im Scheinwerferlicht und erinnern die Bewohner daran, wie gefährlich es ist, sich nach draußen zu wagen. Hinter den dreißig Mutigen steht ein Gefolge aus zehn raupenartigen Robotern. Sie haben vorne eine Fortbewegungseinheit, gefolgt von zehn zylinderförmigen Behältern mit einem Fassungsvermögen von vier Kubiklitern. Sie sind so konstruiert, dass sie sich in den Trümmern der Alten Welt, die das Vorankommen an der Oberfläche erschweren, mühelos fortbewegen können.

Während die Musik, die immer zum Aufbruch der Wasserkrieger gespielt wird, durch das Forum hallt, erklingen Applaus und Anfeuerungsrufe für die Helden, die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Neben Lucas steht Oliver und klatscht halbherzig mit, während Marco, sein großer Bruder, so viel Lärm wie nur möglich macht. Seine Begeisterung für die Krieger grenzt schon an Vergötterung. Bald wird auch er zu ihnen gehören.

Lucas klatscht nicht. Durch eine derartige Provokation müsste er sich eigentlich Probleme einhandeln, aber wer würde es schon wagen, sich mit der einzigen Person anzulegen, die in der Lage ist, das Atomkraftwerk des Bunkers am Laufen zu halten? Bei diesem Gedanken muss Lucas das Lachen unterdrücken. Das Leben ist manchmal wirklich absurd … Verstohlen mustert er seine Söhne. Marco ist so wie er selbst, er kann Berge versetzen, um sein Ziel zu erreichen. Es wird ihm gelingen, bei den Wasserkriegern aufgenommen zu werden, daran zweifelt Lucas nicht eine Sekunde. Und Oliver … der Rebell, der Träumer, der schon seit frühester Kindheit die Grenzen ausreizt … Lucas liebt Marco und bewundert ihn für seinen unerschütterlichen Willen. Doch obwohl Lucas sich schämt, es einzugestehen, war Oliver schon immer sein heimlicher Liebling. Der kleine Oliver, der ihm so oft Sorgen bereitet hat, der ihn gezwungen hat, seine Art, Vater zu sein, zu überdenken, seine vorgefassten Meinungen zu hinterfragen, sich weiterzuentwickeln. Das hat er seinem Sohn nie gesagt. In letzter Zeit sind die Gespräche zwischen ihnen schwierig geworden. Lucas bedauert das, aber er muss seine Rolle spielen. Ob es ihm gefällt oder nicht, er gehört zu den wichtigsten Persönlichkeiten im Bunker. Er muss vorsichtig sein und darf Oliver in seinem Drang, alles umzuwerfen, keinesfalls ermuntern. Obwohl er selbst den Bewohnern des Bunkers nur zu gern zurufen würde, dass diese Zeremonie nichts als ein gigantischer fauler Zauber ist.

Unter dem Jubel der Menge setzt sich die Prozession in Bewegung und verschwindet in der großen Hauptschleuse, die nach draußen führt. Nur die Wasserkrieger haben das Recht, sie zu durchschreiten. Aber in der Menge sind ohnehin nur wenige, die sich nach draußen wagen würden, selbst wenn sie die Erlaubnis hätten.

Lucas aber gehört zu diesen Verrückten. Er hat Stunden damit verbracht, ganze Nächte, während der Bunker im Schlaf lag, durch das Labyrinth zu streifen, das sich in alle Richtungen um die unterirdische Festung ausbreitet. Niemand ahnt, dass er an den langen Tagen, die er in seinem Labor verbringt, nicht eine einzige Einstellung am Regulierungssystem des Atomkraftwerks geändert hat, sondern dass er durch den Lüftungsschacht verschwindet, der sich in einer Ecke des Raums befindet?

Heute ist ein großer Tag. Gestern hat er einen Gang gefunden, der zum Ausgang der Wasserkrieger führt. Jetzt wird er endlich überprüfen können, ob seine Vermutung stimmt … Während die Menge der letzten Roboterraupe nachblickt, die in der Luftschleuse verschwindet, verdrückt sich Lucas diskret. Marco merkt nichts. Oliver dagegen wirft ihm einen erstaunten Blick zu.

»Ich muss zur Arbeit«, lügt Lucas.

In Olivers Augen weicht die Überraschung der Enttäuschung, die Lucas nicht entgeht.

Bald, denkt er. Bald werde ich dir alles sagen, mein Sohn, dann wirst du mich nie wieder so ansehen …

Lucas wendet sich ab und geht zügig in sein Labor. Er schließt die Panzertür hinter sich ab, schlüpft in einen Schutzanzug, wie ihn die Wartungskräfte tragen, und kriecht in das Belüftungssystem. Mit der Karte, die er im Laufe der Jahre angefertigt hat, arbeitet er sich langsam durch das Labyrinth nach oben. Sein Weg ist lange nicht so geradlinig wie der der Wasserkrieger. Wenn er sie einholen will, muss er sich beeilen. Die Tunnel sind nicht alle als Durchgänge angelegt, und mehrmals muss Lucas krabbeln oder sogar kriechen, um voranzukommen. Schon bald läuft ihm der Schweiß übers Gesicht. Endlich hat er sein Ziel erreicht: die Luftschleuse zur Außenwelt, eine gigantische Höhle mit zwei dicht schließenden Toren. Er schiebt sich in ein großes Belüftungsrohr, das direkt über dem Tor nach draußen verläuft und sich etwa 15 Meter über dem Boden befindet. Er ist so leise, wie es nur geht. Wenn er sich nicht irrt, werden die Wasserkrieger jeden Augenblick das innere Tor zur Luftschleuse öffnen und in die Höhle kommen.

Vor zwei Tagen hat Lucas ein kleines Loch in das Rohr gebohrt. Er ist nervös. Neugierig auf das, was er entdecken wird, aber er hat auch ein bisschen Angst, denn durch das kleine Loch könnte er beim Öffnen des Tors zur Außenwelt mit dem Virus in Kontakt kommen. Doch das Risiko geht er bereitwillig ein. Er drückt das Auge an das Loch. Das Tor öffnet sich zischend, die Wasserkrieger sind da. Im Gleichschritt betreten sie die Luftschleuse.

Das Tor schließt sich wieder, und die Prozession bleibt stehen. Zu Lucas’ grenzenlosem Staunen ziehen die Krieger die luftdichten Kampfanzüge aus und befreien sich von ihrer Ausrüstung.

»Nette Zeremonie! Und wir waren wieder mal super!«, ruft der Oberbefehlshaber.

»Wie immer«, wirft einer der Soldaten ein.

»Meine Herren, wir errichten das Lager«, verkündet der Kapitän.

»Zu Befehl!«

Nach und nach beginnt eine eingespielte Choreografie. Feldbetten werden aufgestellt, Schlafsäcke ausgerollt. Dann wird ein großer Tisch aufgebaut, auf dem nahezu unanständige Mengen an Lebensmitteln ausgebreitet werden. Lucas begreift nicht, was da vor sich geht.

»Sollen wir die Behälter gleich auffüllen, Boss?«, fragt ein Soldat.

»Ja, dann ist es erledigt. Und wir haben drei schöne Tage zum Sportmachen und Kartenspielen«, erwidert der Oberbefehlshaber.

Die Soldaten gehen auf eine große Tür in der Höhlenwand zu, die sie mit einem Magnetchip entriegeln. Die Tür schiebt sich zur Seite und gibt den Blick auf mehrere dahinterliegende Wasserschläuche frei. Die Männer entrollen die Schläuche, befestigen sie an den Behältern der Roboterraupen und öffnen die Hähne. Nach etwa zwanzig Minuten sind die Behälter voll. Die Wasserkrieger rollen die Schläuche wieder auf, schließen die Tür, setzen sich an den Tisch und stürzen sich in eine ausgelassene Party, die bis zum Morgen gehen wird.

Oben im Rohr kann Lucas es nicht fassen. Er findet bei Weitem nicht das erste Mal heraus, dass die Anführer im Bunker etwas verheimlichen. Aber so eine Täuschung hätte er nicht erwartet. Die Wasserkrieger riskieren nicht nur nicht ihr Leben, um Wasser zu besorgen, sie haben vermutlich noch nie eine Zehe in die Außenwelt gesetzt! Jetzt versteht Lucas, warum sie immer Stillschweigen über ihre Missionen bewahren und warum der Einzige, der sich nicht an diese Regel gehalten hat, verschwunden ist … Wenn die Bewohner des Bunkers davon Wind bekämen, würden die Privilegien der Krieger zweifellos schnell infrage gestellt werden.

Lucas hat genug gesehen. Langsam kriecht er durch das Rohr zurück und macht sich auf den Rückweg, den Kopf voller Fragen.

Oliver kappt die Verbindung. Wie schon beim ersten Mal haut ihn das Erlebte total um. Er weiß nicht, was ihn mehr verwirrt – die unglaubliche Lüge der Wasserkrieger oder die Gedanken seines Vaters über ihn. Er ist wie benommen. Wie konnte er sich so in seinem Vater täuschen? Warum haben sie es nie gewagt, offen miteinander zu sprechen? Jetzt ist es zu spät. Oliver spürt, dass ihm die Tränen kommen. Verloren in dieser Höhle, ganz auf sich gestellt, fragt Oliver sich, warum er seine Gefühle so lange unterdrückt hat. Die erste Träne läuft über seine Wange. Er lässt sie und schluchzt lautlos. Nach einer Weile versiegen die Tränen. Irgendwann fühlt er sich besser. Ein bisschen. Immerhin. Das muss reichen.

Er betrachtet das Implantat seines Vaters und schüttelt den Kopf. Nein, er ist noch nicht bereit für die nächste Runde. Zu aufwühlend. Wer weiß, was er noch erfahren wird?

Sein Magen knurrt, eine barsche Erinnerung an seine prekäre Lage. Jetzt muss er erst mal hier raus.

RC2722

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