Читать книгу RC2722 - Давид Муате - Страница 17

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10. Oktober 2075

Lucas sitzt mit Naya auf dem Balkon. Im Wohnzimmer spielen die Kinder mit den Großeltern. Man hört ihr Lachen durch die Glastür. Die Sonne geht unter und zaubert ein Schattenballett auf die alten Steinmauern. Alles wirkt perfekt.

Aber das ist es nicht. Es ist Herbst. Doch die Außentemperatur beträgt immer noch beinahe dreißig Grad, und es hat immer noch nicht geregnet. Seit über einem Monat kommt aus dem Wasserhahn nur noch ein ungenießbares Getröpfel, eine Mischung aus Sand und abgestandenem Wasser, wenn sie nach dem Zähneputzen nicht ins Trockene spucken wollen. Unaufhörlich sind Tanklaster zwischen der Stadt und den Entsalzungsanlagen unterwegs. Sie fahren in die Wohnviertel, um den Menschen ihre Wasserrationen zu bringen. Stundenlanges Warten in der prallen Sonne, das jedes zweite Mal mit einer Enttäuschung endet, weil die Tanks wieder leer sind. Heute Morgen, wie schon am Vortag, hat Lucas umsonst angestanden. Ihre Reserven sind beinahe aufgebraucht.

Und außerdem ist da der Wasserkrieg. Er war unvermeidlich. Deutschland und Frankreich kämpfen um die kostbare Ressource. Die Bombardements versetzen die Menschen in Angst und Schrecken. Bei jedem Alarm müssen sie ihre Sachen packen, die Kleinen schnappen und sich im Keller in Sicherheit bringen. Mehrere Krater klaffen im Viertel. Mit jedem Tag wird Marseille weniger lebenswert.

Lucas drückt Nayas Hand. Sie sprechen nicht. Es ist alles gesagt. Sie begnügen sich damit, einander zu trösten, wie sie es immer getan haben. Sie haben eine Entscheidung getroffen. Sie gehen in den Norden, fliehen vor der Trockenheit Südfrankreichs, obwohl die Nachrichtensender den Einwohnern dringend davon abraten, ihre Wohnungen zu verlassen. Sie sind nicht die Ersten. Beinahe die Hälfte aller Bewohner ihres Hauses ist schon weggezogen. Die Hoffnung schwindet mit jedem Tag.

Naya dreht sich um und beobachtet ihre Eltern, die mit Oliver und Marco spielen. Sie schluchzt. Lucas nimmt sie in den Arm.

»Sei stark, Liebes.«

»Entschuldige. Es ist so schwer.«

»Ich weiß. Aber wir haben keine andere Wahl.«

Lange Zeit verharren sie so, den Blick ins Leere gerichtet, zögern den Moment des Abschieds hinaus. Naya wischt sich die Tränen weg und streicht sich die Haare glatt. Sie will nicht, dass ihre Kinder sie weinen sehen. Sie ist es, die schließlich aufsteht und Lucas mit sich in die Wohnung zieht. Sie wechselt einen Blick mit ihren Eltern und umarmt sie lange, dann schultert sie ihren vollgepackten Rucksack. Lucas tut es ihr gleich. Sie haben ihre Campingausrüstung und so viel Wasser und Nahrung, wie sie tragen können. Im Innenfutter seiner Jacke hat Lucas all ihre Ersparnisse versteckt. Jetzt ist der Moment gekommen.

»Machen wir eine Wanderung?«, fragt Marco.

»Eine sehr lange Wanderung«, erwidert sein Vater.

Die Großeltern verabschieden sich von den Jungen.

»Warum bist du traurig, Oma?«, fragt Marco.

»Aber ich bin doch nicht traurig, mein Schatz. Ich freue mich nur so, dass du mir ein Küsschen gibst, das ist alles.«

Oliver mit seinen zwei Jahren versteht überhaupt nichts. Er begnügt sich damit, einen feuchten Kuss auf die Wangen seiner Großeltern zu drücken.

»Und jetzt los mit euch. Lasst es nicht zu spät werden«, sagt Nayas Mutter.

»Können Oma und Opa nicht mitkommen?«, fragt Marco.

»Sie kommen später nach«, sagt Lucas.

Die Antwort scheint den Kleinen zufriedenzustellen. Diese unerwartete Wanderung findet er aufregend. Und wie soll man einem Vierjährigen sagen, dass er seine Großeltern nie wiedersehen wird? Dass seine Großmutter nicht mehr in der Lage ist, mit ihnen zu kommen, und dass ihr Großvater bei ihr bleiben wird, was auch passiert?

Der Weg die Treppe hinunter erscheint ihnen endlos. Dann sind sie auf der Straße. Ein letztes Winken von Nayas Eltern. Lucas reißt sich zusammen, um nicht zu weinen. Sie haben sich fest vorgenommen, die Kinder nicht zu beunruhigen. Er sieht seine Frau an. Ihr Kiefer ist angespannt. Er kann sich vorstellen, wie schlimm es für sie ist. Er hätte nie gedacht, dass er einmal eine solche Wahl treffen müsste.

Im langsamen Tempo der Kinder macht sich die Familie auf den Weg Richtung Norden, weit mehr hinter sich lassend als eine Wohnung. Lucas hat das Gefühl, dass es ihm die Seele zerreißt, dass er einen Teil von sich aufgibt. Und doch geht er weiter, einen Schritt nach dem anderen, ohne einen Blick zurück. Das Leben der Kinder steht auf dem Spiel. Die etwas kühlere Abendluft verschont sie vor der Hitze. Sie werden vor allem nachts reisen müssen, um die brennende Sonne und die heißen Winde zu meiden, die über die Wüstenlandschaft fegen, stets in der Hoffnung auf einen weniger trockenen Ort.

Oliver trennt aufgewühlt die Verbindung. Kein einziges Mal hat sein Vater diesen erzwungenen Aufbruch zur Sprache gebracht. Was ihnen wohl alles auf dem Weg in den Norden zugestoßen ist? Und seine Großeltern? Sind sie noch am Leben? Während er sich fragt, warum sein Vater sie nie erwähnt hat, blättert er in dem Heft, das Marco ihm gegeben hat. Das Tagebuch beinhaltet einige persönliche Notizen, quer über die Seiten gekritzelt oder an die Ränder, vor allem aber sind darin Skizzen und Karten, die zweifellos die Landschaft in der näheren Umgebung des Bunkers abbilden. Eine der Karten zeigt den Weg zu dem Rohr über dem Ausgangstor des Bunkers, das Oliver bereits in der Erinnerung seines Vaters gesehen hat.

Noch ein ganzer Tag, bis Marco wiederkommt.

Da er nichts anderes zu tun hat, kann er sich den Ort ebenso gut mit eigenen Augen ansehen. Über eine Stunde läuft er durch die labyrinthischen Gänge, ehe er sein Ziel erreicht. Wie sein Vater kriecht er in das Belüftungsrohr in der Luftschleuse. E findet sogar das kleine Loch, durch das der Vater die Wasserkrieger beobachtet hat. Jetzt ist der Raum leer.

Bleierne Müdigkeit überkommt Oliver. Es war ein anstrengender Tag. Ohne es zu merken, sinkt er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

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