Читать книгу RC2722 - Давид Муате - Страница 5

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Schreie. Wieder und wieder. Eine Menschenmenge strömt durch die Straßen und versucht, den nahenden Soldaten zu entkommen. Wer nicht schnell genug ist, kriegt ihre Gummiknüppel oder elektrischen Schlagstöcke zu spüren und wird kurzerhand in einen Laster geworfen. Die anderen rennen umso schneller und werfen ängstliche, manchmal auch wütende Blicke zurück auf die olivgrüne Welle, die unaufhaltsam näher rollt. Wer ihr nicht ausweicht, steht nicht wieder auf.

Tränengas brennt in den Augen und vermischt sich mit dem Nebel. Es ist wie ein Vorgeschmack auf den Weltuntergang.

Inmitten dieses Chaos klammert sich ein kleiner Junge mit aller Kraft an eine starke Hand wie ein Schiffbrüchiger an sein Floß. Um ihn herum ist ein ganzer Wald aus Beinen, die ihn jeden Moment zu zertrampeln drohen. Er stolpert mehrmals, doch er fällt nicht hin. Ermutigende Rufe helfen ihm, seine Angst zu überwinden. Von Zeit zu Zeit teilt sich die Menge. Der Kleine sieht die Soldaten in ihren Schutzanzügen. Er hält sie für Astronauten.

Die Hand zieht ihn vorwärts. Er hastet weiter. Sein Herz klopft heftig. Er hat das Gefühl, schon ewig auf der Flucht zu sein. Sein Atem geht schnell, aber er ist stolz darauf, dass er nicht langsamer wird. Das Echo der Gummiknüppel entfernt sich. Rechts von ihnen liegt eine ruhigere Straße. Vielleicht können sie sich dort etwas ausruhen. Sie verfallen vom Lauf- in den Marschschritt. Er atmet tief ein. Ein stechender Geruch steigt ihm in die Nase. Unförmige Haufen liegen vor ihm auf der Straße und auf dem Bürgersteig. Die meisten sind mit Tüchern bedeckt. Der Kleine betrachtet die Haufen. Erneute Schreie und Explosionen lassen ihn zusammenzucken. Er blickt zu der Straße zurück, aus der sie gekommen sind. Menschen eilen in ihre Richtung. Ein Mann rennt ihn um, verheddert sich mit dem Fuß in einem Laken, flucht, rennt weiter. Das Laken rutscht zur Seite und enthüllt eine Hand, gekrümmt in einem letzten Versuch, sich ans Leben zu klammern. Schließlich ist der ganze leblose Körper entblößt. Der Junge kann den Blick nicht von dem blutleeren, entstellten Gesicht des Leichnams lösen.

Er ist wie erstarrt. Kein Laut dringt aus seiner Kehle. Die Hand legt sich auf seine Schulter. Sie müssen weiter, weiter. Der Schrecken weicht der Verzweiflung, durchzuckt ihn noch einmal, als eine Ratte aus den Kleidern des Toten huscht. Der Junge stolpert und stürzt in den Unrat vor dem Bürgersteig. Er schlägt sich das Knie auf. Der Schmerz lässt ihn das Gesicht verziehen, und er kann einen Schrei nicht unterdrücken.


»Aahhhhhhh! Au!«

»Verdammt! Wer schreit denn da so?«

Oliver fährt in seinem Bett auf. Er stößt sich den Kopf und reibt sich die Stirn, auf der sich schon eine ordentliche Beule bildet.

»Albtraum?«, murmelt jemand dicht neben ihm.

Die Stimme gehört Sam, seinem besten Freund, seinem einzigen Freund, der auf der Pritsche gegenüber liegt.

»Mhm. Der gleiche wie immer«, stöhnt Oliver. »Ich bin mitten in einer Menschenmenge, ganz vorne, mit meinem Vater, und wir kommen in eine Straße voller Leichen.«

»Wie nett.«

»Den Traum bin ich gewohnt. Aber ich bin’s nicht gewohnt, mir den Kopf am Bett über mir anzuschlagen. Bis vor einem Monat hatte ich ein ganzes Zimmer für mich.«

»Ich erinnere dich daran, dass du auf eigenen Wunsch hier bist. Im Gegensatz zu allen anderen, also sag das lieber nicht zu laut.«

»Ich weiß, du hast recht. Andererseits … Kopfschmerzen habe ich so oder so.«

Sam unterdrückt ein Lachen. »Hast du schon mal mit deinem Alten über den Traum geredet?

»Ja. Vor langer Zeit. Er hat total abgeblockt. Weißt du, was er gesagt hat? ›Wie sollte jemand von meinem Rang in so eine Meute geraten?‹ Ich bin stinkwütend geworden. Wir haben nie wieder darüber gesprochen.«

»Scheint ja nicht gerade Friede, Freude, Eierkuchen bei euch zu sein. Hast du dich deshalb unserem Wartungstrupp angeschlossen?«

»Mein Vater ist echt autoritär«, murmelt Oliver. »Er gibt nie nach. Ich hab dir doch schon erzählt, dass ich meine ganze Kindheit über lernen musste. Wenn wir aus dem Unterricht kamen, fing noch mal ein ganzer Schultag an. Ich habe unglaublich viel Zeit damit verschwendet, Dinge zu lernen, die ich niemals brauchen werde. In den letzten Wochen haben wir es nicht mal mehr geschafft, normal miteinander zu reden. Wir haben uns nur noch angebrüllt.«

»Und dein Bruder?«

»Du meinst Mister Perfect? Wir waren noch nie auf einer Wellenlänge. Marco ist der krasseste Typ der Welt. Er ist gut in Mathe, Sport und Quantenphysik. Er ist so ziemlich in allem gut. Sogar in Fremdsprachen! Als würden wir irgendwann noch mal Beziehungen zu anderen Ländern aufnehmen … Guter Witz. Und jetzt wurde er auch noch bei den Wasserkriegern aufgenommen.«

»Also, wenn ich einen Bruder hätte, der Wasserkrieger ist, dann würde ich …«

»Schon gut, Sam, genug von meiner Familie.« Oliver seufzt. »Ich glaube, ich brauchte einfach mal ein bisschen Luft, ein bisschen Abstand, das ist alles.«

»Und da hast du dir gedacht, wäre doch eine super Idee, in den Belüftungsschächten und Kanalrohren rumzukriechen und die Lunge mit gutem, frischen Sauerstoff zu füllen.«

»Ha, ha, sehr witzig. Und was die Luft angeht, glaube ich, dass wir alle hier den gleichen Muff atmen.«

»Könnt ihr zwei mal endlich still sein? Manche hier würden gerne schlafen!«, donnert Wildschweins laute Stimme.

Oliver und Sam wechseln einen Blick über den schmalen Gang, der ihre Pritschen voneinander trennt, und rollen sich auf die andere Seite. Wildschwein ist nicht durch Zurückhaltung und Sanftmut zu seinem Spitznamen gekommen. Mit ihm legt man sich lieber nicht an.

Oliver schließt die Augen und versucht erfolglos, seine Nacht um ein paar Minuten zu verlängern, aber der Albtraum will nicht verschwinden. Das alles kommt ihm so real vor … Natürlich hat er schon als Kind wie alle im Bunker Videos von der Welt vorher gesehen und sich in Endlosschleife ihren brutalen Niedergang infolge der Wasserkriege und der Transcholera-Epidemie angeschaut. Der Große Kollaps … Auch Bilder von Aufständen gibt es mehr als genug im Datenarchiv. Ob ihn die Millionen Toten doch stärker beeindruckt haben, als er zugeben will? Vielleicht sollte er wirklich mal zum Therapeuten gehen, wie sein Bruderherz ihm nahegelegt hat. Es träumt wohl niemand bei gesundem Verstand jede Nacht von Leichenbergen, Nahtoderfahrungen und einer völlig verrückt gewordenen Welt.

Oliver seufzt und wälzt sich in seinem winzigen Bett herum, wobei er sich Mühe gibt, seine Zimmergenossen nicht noch einmal zu stören. Zehn Schlafpritschen auf fünf Etagen in einem Zimmer, das etwa zwei mal zwei Meter zwanzig groß ist. Der Inbegriff der Beengtheit. Er hatte gehofft, in der Wartungsabteilung eine zweite Familie zu finden. »Ein Privilegierter, der auf seine Privilegien verzichtet, verdient Bewunderung«, hatte er gedacht. Aber die Realität sieht anders aus. Niemand hier kann begreifen, warum ein junger Mann mit einer aussichtsreichen Zukunft in der Führungsebene des Bunkers alles aufgibt. Einige argwöhnen, dass er als Spion im Auftrag der Machthaber da ist, um jegliche Rebellion der Arbeiter im Keim zu ersticken. Die anderen können schlicht nicht verstehen, wie man Komfort und großzügige Lebensmittelrationen gegen ein hartes Leben voller Zwang und Verzicht tauschen kann.

Zum Glück gibt es Sam. Vom ersten Tag an hat er ihn unter seine Fittiche genommen und den Spott und die Sticheleien der anderen ausgebremst. Alle mögen Sam, und die Tatsache, dass er sich mit Oliver angefreundet hat, genügt, damit die Truppe ihn akzeptiert. Zum Glück.

RC2722

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