Читать книгу RC2722 - Давид Муате - Страница 6
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ОглавлениеOliver lässt ein paar Tropfen Wasser auf einen kleinen Lappen laufen und wäscht sich das Gesicht. Er legt eine Zahnputztablette auf seine Zahnbürste und schrubbt energisch. Dann nimmt er sich einige Sekunden Zeit, um sein Spiegelbild zu betrachten. Er streicht sich die strubbeligen braunen Haare zurück und zieht die Augenbrauen zusammen. Wie nach jeder albtraumgeplagten Nacht hat er Ringe unter den blaugrünen Augen.
»Du solltest mehr schlafen, Alter«, sagt er laut zu sich selbst.
Dann verlässt er das Gemeinschaftsbad und gesellt sich zu den anderen Arbeitern. Die ganze Mannschaft hat sich im Aufenthaltsraum versammelt, wo die heutigen Aufgaben verteilt werden. Das übernimmt Wildschwein, obwohl sich offiziell sein Vorgesetzter darum kümmern sollte. Die Instandhaltungsabteilung muss vor allem die Funktion der Maschinen überwachen, die dafür sorgen, dass zweitausend Menschen im Bunker 17, etwa fünfhundert Meter unter der Erde, überleben können. In dieser Tiefe kann schon die kleinste Panne im Belüftungssystem tödlich sein. Das Gleiche gilt für die Wasserversorgung. Jeder Bewohner erhält täglich zwei Liter Wasser, nicht mehr und nicht weniger. Oliver lauscht Wildschweins Anweisungen und schlürft dabei einen Teil seiner Ration, die Hände um die heiße Tasse gelegt. Heute Morgen hat er sogar einen Löffel Honig zugeteilt bekommen, die nahezu einzige Zuckerquelle in ihrer Ernährung. Wenn man den Biologen zu Beginn des Jahrhunderts gesagt hätte, dass Bienen einen halben Kilometer unter der Erde besser gedeihen als an der Oberfläche, hätten sie wohl nur laut gelacht.
»Wasserfilter reinigen in Sektor C, Marc und Aurélien.«
»Geht klar, Chef.«
»Salzversorgungsanlage leeren und reinigen, Lyse und Romain. Der Rest der Mannschaft säubert die Wasserrohre mit Unterwasserdrohnen. Noch Fragen? Dann los!«
»Einen Moment noch …« Wildschweins Vorgesetzter meldet sich zu Wort. Als Ranghöchster im Raum ist es sein gutes Recht, aber es ist erst das zweite Mal, dass Oliver ihn sprechen hört. Wildschwein mustert den Funktionär missmutig, doch dann scheint er sich an die hierarchische Beziehung zu erinnern, die ihn dem kleinen Mann in der weißen Uniform unterstellt.
»Ich habe neulich schon einmal das Problem in Sektor Y erwähnt«, sagt der Funktionär.
Sektor Y.
Bei dem Wort geht ein Raunen durch die Gruppe. Die einzelnen Bereiche des Bunkers sind in alphabetischer Reihenfolge gegliedert. A ist das Innere des Bunkers. Je weiter man Richtung Z kommt, desto tiefer gelangt man in ein Labyrinth aus Gängen und Schächten, deren Instandhaltung immer mühsamer wird. Einige Sektoren haben schon seit Jahren keinen Techniker mehr gesehen, und ihr Zustand verschlechtert sich stetig. Kurz gesagt, niemand hat Lust, sich weiter als bis Sektor H vorzuwagen.
»Soll das ein Witz sein?«, schnaubt Wildschwein. »Kommt nicht infrage. Die Drecksarbeit kannst du einer anderen Mannschaft übertragen. Ich schicke meine Jungs doch nicht ins Verderben!«
»Na ja, es ist so … der Chefingenieur besteht darauf. Und er will unbedingt, dass euer Team das übernimmt. Er vertraut nur euch. Der Sensor einer externen Luftschleuse hat mehrmals eine Öffnung registriert. Es besteht Infektionsgefahr durch das Virus. Wenn es dazu kommt, verlieren wir eine Ebene im Schutzmechanismus.«
»Gibt es ein Leck?«, fragt Wildschwein mit finsterer Miene.
»Bis jetzt konnte das Virus nicht nachgewiesen werden. Aber ein kleineres Leck ist durchaus möglich.«
»Das heißt also volle Schutzmontur. Ich fasse zusammen: Ich muss meine Jungs mehrere Kilometer durch Gänge schicken, durch die man nur auf allen vieren kommt, mit Sauerstoffflaschen und gut fünfzehn Kilo Material auf dem Rücken.«
»Korrekt«, sagt der Funktionär. »Wir würden bei der Gelegenheit auch gleich die Primärfilter austauschen. Sie sind zehn Jahre alt, das ist die maximale Lauf-
zeit.«
Wildschwein lacht verächtlich. »Hattest du schon mal einen an?«
»Äh … wie bitte?«, stammelt der Funktionär.
»Einen Schutzanzug. Warum landen die Knochenjobs eigentlich immer bei uns?«
»Ich habe die Anweisung, jedem Mitglied des Teams eine Prämie von zehn Kreditpunkten zu gewähren. Für die beiden, die sich freiwillig melden, das Doppelte. Und für die Mission so viel Wasser, wie sie wollen.«
»Sehr umsichtig«, spottet Wildschwein. »Bei den Litern, die sie schwitzen werden.«
»Zwanzig Kreditpunkte? Ohne mich«, sagt Javier. »Ich hab sechzig gespart, mehr brauche ich nicht.«
»Der Chefingenieur hat schon mit eurem … Zögern gerechnet«, sagt der Funktionär. »Ich soll euch daran erinnern, dass wir alle ein Team sind … eine große Familie. Wir müssen einander helfen, um zu überleben.«
Wildschwein schenkt ihm sein schönstes Lächeln. »Und warum ist der Herr Chefingenieur nicht zu uns runtergekommen, um uns die Nachricht persönlich zu überbringen? Und warum lässt der Herr Chefingenieur nicht seine tollen Wasserkrieger durch die Rohre kriechen? Die sind doch so gut trainiert, oder etwa nicht? Und wohlgenährt, habe ich gehört.«
Der Funktionär schluckt mühsam. Seine Stimme ist nur noch ein Murmeln. »Der Chefingenieur hat mir aufgetragen, euch im Fall einer Weigerung zu bestrafen. Zwei Wochen lang kein Sold.«
»Potzblitz! Der war gut. Habt ihr gehört, Jungs?«, knurrt Wildschwein. »Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich oben in Sektor A war, aber so ein Erpressungsversuch erfordert eigentlich einen Besuch, meint ihr nicht auch?«
Oliver tritt vor. »Ich melde mich als Freiwilliger.«
»Was?«, fragt Wildschwein.
»Ich habe gesagt: Ich melde mich als Freiwilliger.«
»Ich gehe mit«, ergänzt Sam.
Wildschwein starrt die beiden an, hin- und hergerissen zwischen Wut und Entsetzen.
»Ich habe absolut keine Lust, da runterzugehen«, schaltet sich Javier ein, »und ich zwinge niemanden, es für mich zu tun. Aber wenn es ihnen Spaß macht, werde ich mich über die zehn Kreditpunkte nicht beschweren.«
»Abgemacht«, sagt der Funktionär erleichtert und wischt sich eine Schweißperle von der Stirn. »Ich werde dem Chefingenieur unverzüglich mitteilen, dass euer Team die Mission akzeptiert hat.«