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4 Quarantäne. Tag 2.
ОглавлениеOliver starrt das Kabel an, das sein Datenimplantat im Nacken mit dem Bildschirm vor ihm verbindet. Lesen, Filmschauen, Lesen, Filmschauen, Lesen … Die Tage sind lang, wenn man nichts zu tun hat. Mittlerweile ist er schon seit 48 Stunden in einem winzigen sterilen Raum, mit einem Haufen Sensoren am Körper, die die Ärzte fortwährend über seinen Gesundheitszustand informieren: Herzschlag, Atemfrequenz, Körpertemperatur, Blutzuckerspiegel, nichts entgeht ihnen. Oliver fragt sich, ob sie auch seine Gedanken lesen können. Mehrmals ertappt er sich dabei, wie er in Gedanken die Ärzte beschimpft und auf ihre Reaktion wartet. Doch trotz des Aufgebots an schrecklichen Beleidigungen bleiben die Mediziner neutral wie ein Teller Schwarzknollensuppe, eine der wenigen Gemüsesorten, die ohne künstliches Licht gedeiht. Sein Gedankengestöber scheint also nicht bei ihnen anzukommen. Umso besser. Schön wäre es sicher nicht anzusehen. Wie Sam sagt, er macht sich zu viele Sorgen.
Normalerweise vertreibt er sie, indem er den ganzen Tag aktiv ist, aber die Quarantäne öffnet vielen Grübeleien die Tür, die er seit Wochen wegzuschieben versucht. Da kann er – dank der Inhalte in seinem Datenimplantat – noch so viele seiner Lieblingsfilme schauen oder sich in Ellana vertiefen, den Roman von Pierre Bottero, der ihn in den letzten Jahren begleitet hat: Seine Gedanken schleichen sich doch unweigerlich in die Geschichte und nehmen den ganzen Raum ein. Was zur Hölle stimmt nicht mit ihm? Warum kann er sich nicht damit begnügen, die Regeln zu befolgen und die Vorteile zu genießen, die der Dienstgrad seines Vaters mit sich bringt? Einfach erwachsen werden und die Hierarchiestufen des Bunkers erklimmen, um selbst irgendwann einen verantwortungsvollen Posten zu übernehmen? Die Worte seines Vaters am Tag, als Oliver, verkündete, dass er sich der Instandhaltungsabteilung anschließen wolle, hallen immer noch in seinem Kopf nach. »Willst du mich in den Wahnsinn treiben, ja?«, hatte sein Vater gebrüllt. »Was erwartest du von mir, Oliver? Ich verstehe deine Sehnsucht nach Freiheit, aber es gibt hier nun einmal gewisse Konstanten, denen sich niemand entziehen kann!«
Konstanten, denen sich niemand entziehen kann. Das war so ein typischer Ausdruck seines Vaters. Ein Experte der Kernphysik kann natürlich nicht reden wie alle anderen Sterblichen. Oliver hatte nicht gewusst, was er darauf erwidern sollte. Manchmal lässt sich eine Entscheidung, die einen fast zerreißt, nicht so leicht in Worte fassen. Es ist schwer, seinem Vater zu sagen, dass man seine Zukunft nicht in einem sterilen Raum sieht, wo jedes Gerät immer an seinem Platz bleiben muss, bis eine neue Regel festlegt, dass es zwanzig Zentimeter nach links gerückt werden darf, nur um einige Monate später wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückzukehren. Wenn Oliver die Augen schließt, sieht er wilde Weiten vor sich, über die der Wind weht. Er hört das Rauschen von Gras. Beinahe riecht er den Duft der Frühlingsblumen.
Im Bunker muss er sich mit der schalen Luft begnügen, die der riesige Ventilator hereintreibt. Der Ventilator, von dem in jeder Sekunde ihr Leben abhängt und der, natürlich, nur dank des bunkereigenen Kernreaktors funktioniert. Anders gesagt, dank der Arbeit seines Vaters, der dafür verantwortlich ist, dass die kostbare Maschine niemals ausfällt.
Drei kurze Schläge reißen Oliver aus seinen Gedanken. Es ist Sam. Er schneidet hinter der Fensterscheibe Grimassen.
»Na, lebst du noch?«
»Ha, ha, sehr witzig«, knurrt Oliver.
»Man muss im Leben über alles lachen können …«
»Sagt wer? Konfuzius?«
»Was? Nee, lass mich ausreden: Man muss im Leben über alles lachen können, sonst wird man zum Arschloch.«
»Klingt wirklich nicht nach Konfuzius.« Oliver grinst.
»Das sagt mein Vater immer. Okay, ein Poet ist er nicht gerade …« Sam lacht kurz auf. »Wie geht’s dir?«
»Wie einer Maus im Käfig.«
»Kein Fieber?«
»Nö.«
»Dann erkläre ich dich nach der Statistik offiziell als gerettet!«
»Vielen Dank.« Oliver seufzt. »Schade, dass du kein Arzt bist, sonst könntest du mich hier rauslassen. Ist Wildschwein sauer, dass ich den Detektor kaputt gemacht habe?«
»Quatsch. Wir hatten einfach Pech, und unsere Arbeit haben wir trotzdem erledigt«
»Gibt’s was Neues wegen der Spuren? Ich bin dreimal von den Wasserkriegern verhört worden.«
»Ich auch. Diese Idioten stellen jedes Mal dieselben Fragen.«
»Trotzdem sind sie ganz schön furchteinflößend …«
Sam nickt finster. »Was hast du gesagt?«
»Was wohl?«, brummt Oliver. »Die Wahrheit. Dass ich keine Ahnung habe, wer da rausgegangen ist. Aber eins weiß ich sicher, sie selbst haben auch keinen Schimmer, und das gefällt ihnen gar nicht.«
»Ja, gelinde gesagt. Aber ich wüsste wirklich auch gerne, wer so verrückt ist, den Bunker zu verlassen.«
Oliver überlegt, bevor er antwortet. Ich könnte so verrückt sein …, denkt er. Kurz fragt er sich, ob er laut gedacht hat. Er sieht Sam an, doch der zuckt nicht mit der Wimper.
»Und dein Bruderherz, hat der dich besucht?«, will Sam wissen.
Oliver schüttelt den Kopf.
»Dein Vater?«
»Auch nicht.«
»Ihr seid echt eine komische Familie.«
Diese Feststellung trifft Oliver wie ein Faustschlag. Kann man überhaupt von Familie sprechen, wenn man nicht mal in der Lage ist, richtig miteinander zu reden?
»Ich muss wieder los«, sagt Sam. »Die Arbeit ruft.«
»Alles klar. Cool, dass du da warst.«
»Ist doch selbstverständlich. Wir Überlebende aus dem Sektor Y halten zusammen.«
»Schon. Trotzdem danke.«
Oliver schweigt, während er Sam nachblickt.
»Meine Familie …«, murmelt er dann, »… bist du.«
Aber da ist Sam schon weg.