Читать книгу RC2722 - Давид Муате - Страница 15

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Oliver läuft ruhelos in der Höhle herum und sucht nach Anhaltspunkten, doch er entdeckt keinen Hinweis, wo genau er sich befindet. Die Höhle ist nicht sehr groß und hat, wie vermutet, keinen Ausgang, abgesehen von einigen winzigen Stollen in der Wand, die für Menschen zu eng sind. An der etwa zehn Meter hohen Decke hängen lange Stalaktiten, die sich über Jahrtausende gebildet haben müssen. Aber für die Schönheit des Ortes hat er keinen Blick. Die Höhle befindet sich nicht auf seiner Karte, er muss also improvisieren. Abgesehen von dem Schacht, durch den er gefallen ist, sieht er nur eine andere Möglichkeit: eine zweite, weniger breite Öffnung in der Wand, die sich etwa drei Meter über ihm befindet. Anders als am Schacht scheint dort ein Metallsims zu sein, an dem er sich vielleicht festhalten könnte. Vorausgesetzt, es gelingt ihm, so hoch zu springen. Er versucht es mehrmals, aber ihm fehlen mindestens vierzig Zentimeter. Er öffnet seinen Rucksack und mustert missmutig dessen kargen Inhalt: eine halb leere Trinkflasche, einige Päckchen trockener Kekse, eine Ersatzbatterie für seine Lampe, sein Laserimpulsmesser und eine Rettungsdecke. Nichts, was er brauchen könnte, um aus dieser Falle wieder herauszukommen.

Er darf jetzt keine Panik kriegen. Er muss sich konzentrieren. Ohne Wasser und Nahrung und ohne Möglichkeit, die Höhle zu verlassen, muss er kein Hellseher sein, um sich seine Zukunft auszumalen. Er wird verdursten, und niemand wird je seine Leiche finden. Ihm fällt ein Ausspruch seines Vaters wieder ein: »Solange ein Unglück noch nicht eingetreten ist, behalte die Hoffnung und denk nicht zu viel nach. Manchmal kommt die Lösung ganz von allein.«

Der letzte Gedanke beruhigt ihn nicht wirklich und bringt ihn auf etwas anderes. Da er selbst genügend von ihnen gereinigt hat, könnte Oliver schwören, dass die Öffnung, die er gerade entdeckt hat, ein Entsorgungsschacht für Müll der Sorte 4 ist: nicht wiederverwertbare Reststoffe. Aber es liegt kein Müll am Boden. Das könnte zweierlei bedeuten: Entweder wird der Schacht nicht genutzt, oder die Reststoffe wurden vernichtet. Die Höhle muss bewohnt sein, und Oliver ahnt schon, vom wem. Er springt auf und läuft wieder unter die Öffnung. Mit seiner Lampe leuchtet er die Ränder ab. Nasser grauer Schlick bedeckt die Innenwand.

»Scheiße!«, sagt er laut.

Augenblicklich holt er sein Laserimpulsmesser aus der Tasche. Tatsächlich, die Höhle scheint von Entsorgungsratten besiedelt zu sein. Das erklärt auch die vielen kleinen Stollen, die er entdeckt hat. Vorsichtig tritt er an einen von ihnen heran und findet schwarze Exkremente, die er bei seinem ersten Rundgang übersehen hat. Noch ein Problem. Wenn es stimmt, was seine Kameraden aus der Instandhaltungsmannschaft erzählt haben, dann sind diese Bestien nicht nur aggressiv, sondern auch extrem schlau.

Ursprünglich war die Idee genial, wie so oft bei den schlimmsten wissenschaftlichen Irrtümern. Die Forscher hatten Ratten genetisch so manipuliert, dass sie in der Lage waren, absolut jeden Unrat zu verdauen, sodass selbst nicht wiederverwertbare Abfälle dieser Spezies als Nahrung dienen konnten. Eine Art Bio-Recycling. Heraus kamen Tiere, die größer und gefräßiger waren als ihre Artgenossen, und zwar dermaßen, dass sie übereinander herfielen, wenn die Nahrung knapp wurde. Diese unvorhergesehene Besonderheit hatte die Wissenschaftler besonders begeistert: Die Spezies regulierte sich selbst! Man musste nur dafür sorgen, dass sie an einem geschlossenen Ort blieb, dann war alles in Ordnung.

Aber natürlich ist es nicht so gelaufen wie erhofft. Die Ratten haben schnell die Fähigkeit entwickelt, Tunnel in den Stein zu nagen, bevölkern inzwischen längst einen Großteil des Bunkers und verursachen beträchtliche Schäden, die von den Wartungsmannschaften repariert werden müssen.

Abgesehen von den Hühnern und Insekten, die auf den unterirdischen Farmen gezüchtet werden, um die Bevölkerung zu ernähren, hat Oliver seit Jahren kein Tier mehr gesehen. Die Aussicht, es mit einer Entsorgungsratte zu tun zu kriegen, gefällt ihm gar nicht. Er entfernt sich so weit von den Stollen wie möglich, und da er seinen knurrenden Magen nicht mehr ignorieren kann, gestattet er sich einen Keks und einen Schluck Wasser. Der Keks ist schnell verschwunden, und Oliver ist noch längst nicht satt. Aber wenn er überleben will, muss er das wenige, das ihm bleibt, rationieren. Wer weiß? Wenn Wildschwein merkt, dass niemand das hinterlegte Essen abholt, schickt er vielleicht einen Suchtrupp los? Und wie sollen sie dich hier finden?, flüstert eine Stimme in Olivers Kopf. Aber auch wenn er keinen Ausweg sieht, will er sich nicht der Verzweiflung hingeben. Er stellt seine Lampe auf die schwächste Stufe, um Strom zu sparen, und betet um die rettende Idee, die ihm noch nicht gekommen ist.

Nach einer Weile hört er ein Rumpeln. Von einer Drohne stammt das Geräusch nicht. Schnell begreift er, worum es sich handelt: Eine übel riechende, schlammige Masse fällt klatschend durch die Öffnung in der Wand. Der Entsorgungsschacht ist seiner Bestimmung nachgekommen. Abfall der Sorte 4. Oliver wird schlecht. Er will gar nicht wissen, woraus dieser ekelerregende Haufen besteht. Wenige Augenblicke später hört er ein Quieken. Er stellt seine Lampe stärker. Von allen Seiten kommen Nager in Katzengröße aus den Stollen. Es sind schon mindestens zehn. Sie stürzen sich auf den Abfall und verschlingen den dreckigen Schlamm. Rasch kommen weitere dazu, jetzt sind es mindestens zwanzig. Sie klettern übereinander hinweg, schubsen, beißen einander sogar. Mit ihren glasigen Augen und ihren abgezehrten Körpern erinnern sie ihn an Geschöpfe aus einem Horrorfilm, und ihre Narben, Verletzungen und Missbildungen machen es nicht besser.

Monster wie aus einem Albtraum, denkt Oliver. Und sie scheinen völlig ausgehungert zu sein.

Er hat den Eindruck, einen dieser Filme mit lebenden Toten zu sehen, die in den 2000er-Jahren in Mode waren, nur mit Nagern statt Menschen. Bald ist alles aufgefressen und die Jagd vorbei. Die Tiere werden noch streitsüchtiger, sie fauchen und schnaufen bedrohlich.

Nach und nach legt sich das Einschüchterungsgehabe, und ein paar Ratten ziehen sich in ihre Schlupfwinkel zurück. Eine hält abrupt inne. Sie hebt witternd die Nase. Wenn auch ihre Augen schon viel zu lange ohne Licht auskommen müssen und von einem milchigen Film überzogen sind, so ist ihr Geruchssinn umso besser. Sie dreht sich in Olivers Richtung und kommt schnüffelnd näher.

»Verdammt«, murmelt Oliver. »Zisch ab, du Mistviech!«

Aber die Ratte steuert unbeirrt auf ihn zu. Einige ihrer Artgenossen folgen ihr. Oliver weicht nicht von der Stelle und fährt die Klinge seines Laserimpulsmessers aus. Mit ihren mickrigen zehn Zentimetern ist die Waffe nicht ideal, aber ihr Plasmastrahl, der sogar Eisen schneidet, wird die Ratten zerteilen wie Butter.

Der erste Nager greift mit einer Geschwindigkeit an, die Oliver überrascht. Reflexartig gelingt es ihm, das Messer zu schwingen, um die Ratte im Flug zu stoppen, und trennt ihr den Kopf ab. Die anderen scheinen zu zögern. Oder sich zu organisieren. Während einige sich auf den Körper ihres Kameraden stürzen und Fetzen herausreißen, scharen sich immer mehr von ihnen um Oliver. Oliver erinnert sich an Sams Warnung: Die verflixten Viecher sind ziemlich gerissen.

In einer geordneten Bewegung gehen die Ratten zum Angriff über. Oliver hat noch nie im Leben gekämpft, aber er weiß, dass er seine Gegner überwältigen muss, wenn er hier lebend rauskommen will. Ohne nachzudenken, drischt er auf alles ein, was ihm unter die Klinge kommt. Zu Olivers Füßen sammeln sich immer mehr Kadaver. Ab und zu befördert er einen Angreifer mit einem heftigen Tritt quer durch die Höhle. Langsam nimmt die Zahl der Entsorgungsratten ab, und schließlich ist der Ansturm vorbei. Schnaufend, die Lampe in der einen Hand, das Messer in der anderen, wirft Oliver den letzten Überlebenden einen wilden Blick zu, als wollte er sie warnen, ihn noch einmal herauszufordern. Doch die Ratten haben verstanden, dass sie nicht gewinnen können. Diesmal nicht. Sie begnügen sich damit, Fleischstücke aus den toten Leibern zu reißen und sich damit in ihre Tunnel zu verziehen.

Oliver wankt einige Schritte zurück. Der Gestank ist unerträglich. Er muss sich übergeben. Mehrmals. Er atmet tief durch und bemüht sich, den schlechten Geschmack in seinem Mund zu ignorieren. Langsam weicht er weiter zurück und lässt sich an der Felswand nach unten rutschen. Vor ihm bilden seine Opfer einen unförmigen Haufen.

Allmählich breitet sich ein beinahe irres Grinsen auf seinem Gesicht aus und verwandelt sich in ein nervöses Lachen. »Solange ein Unglück noch nicht eingetreten ist, behalte die Hoffnung und denk nicht zu viel nach. Manchmal kommt die Lösung ganz von allein.«

So unglaublich es ihm vorkommt, sein Vater hatte recht. Mitten in diesem Chaos, das über ihn hereingebrochen ist, tut sich eine Lösung auf. Eine so widerwärtige Lösung, dass sich ihm fast der Magen umdreht, aber doch eine Lösung …

Methodisch schichtet Oliver die Rattenkadaver unter der Öffnung des Entsorgungsschachts auf, sodass der Stapel möglichst kompakt wird. Als die abscheuliche Tätigkeit vollbracht ist, stellt er einen Fuß oben auf den Berg. Er versucht, nicht auf das Knacken der Knochen zu achten, die unter seinem Gewicht brechen. Der erste Sprung misslingt, er berührt aber immerhin den Metallrand der Öffnung. Rückwärts landet er in einer klebrigen Pfütze. Doch er kann seinen Ekel überwinden. Er wird es schaffen.

Beim vierten Versuch schließt sich seine Hand um den Metallvorsprung, und er umklammert ihn fest. Er kann auch die zweite Hand darum schließen und holt tief Luft, bevor er sich aus der Kraft der Arme nach oben zieht. Innerlich dankt er seinem Bruder, der ihn zu diesem bescheuerten Muskeltraining verdonnert hat, als er sich auf die Aufnahmeprüfung bei den Wasserkriegern vorbereitet hat. Olivers Muskeln sind steif vor Anspannung, aber er lässt nicht nach. Er muss irgendwie in diese Öffnung kommen. Sein Leben hängt davon ab. Seine Beine baumeln ins Leere. Plötzlich findet er einen Halt. Einen Stalaktit, der es ihm erlaubt, eine Hand vom Vorsprung zu lösen und weiter oben zu positionieren. Mit einem Ruck gelingt es ihm, seinen ganzen Körper in den Tunnel zu ziehen. Glücklicherweise sind die Wände nicht glatt. Am Metall sind Überreste von Müll festgekrustet. Ekelhaft, aber wenigstens nicht rutschig, und darauf kommt es an. Mit den Füßen stemmt, mit den Armen zieht er sich langsam aufwärts. Vor Anstrengung läuft ihm der Schweiß über die Stirn. Er hebt den Kopf und stöhnt vor Erleichterung, als er sieht, dass kaum zwei Meter über ihm ein Quergang verläuft. Mit letzter Kraft hievt er sich in den Gang. Sekundenlang bleibt er dort liegen, schnaufend, doch mit einem Lächeln im Gesicht. Er hat es geschafft.

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