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1 Zielsetzungen des Sozialleistungsrechts

Sozialleistungen verfolgen unterschiedliche Strategien, um soziale Gerechtigkeit und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu verwirklichen und zu erhalten. Je nachdem, welcher Zweck hierbei angestrebt wird, lassen sich insoweit unterschiedliche Leistungsträger als verantwortliche Adressaten ausmachen. Sie unterliegen dabei einem aus den einzelnen Sozialgesetzen abzuleitenden Handlungsauftrag, der Betroffenen je nach Lebenssituation unterschiedliche Hilfen vermittelt.

Um den daraus resultierenden Herausforderungen gewachsen zu sein, bedarf es einer umfangreichen Absicherung durch die Sozialleistungssyteme. Nur auf diesem Weg ließen sich, so hat die Erfahrung gezeigt, in den vergangenen Jahrzehnten für eine Vielzahl von Menschen prekäre Lebensumstände praktisch bewältigen. In besonderer Weise trifft dies auf den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu, die für mittlerweile fast vier Millionen Menschen und deren Angehörigen zur alltäglichen Belastung geworden ist. Hier gilt es, einen täglich abzurufenden Bedarf an angemessen und zeitnah zu erbringenden pflegerischen und betreuerischen Versorgungsleistungen sicherzustellen.

Der Gesetzgeber ist insoweit aufgerufen, dieser permanenten Verpflichtung zu einer flächendeckenden, dabei jedoch stets wirtschaftlich anzubietenden pflegerischen und medizinischen Versorgung der Bevölkerung nachzukommen. Diese ergibt sich unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip der innerstaatlichen Verfassung, dem Grundgesetz.

Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

Dieser obersten Wertentscheidung der Verfassung sind auch die maßgeblichen Akteure des Gesundheitswesens unterworfen. In einfachgesetzlichen Bestimmungen, die dem Range nach unter der Verfassung stehen, wird dieser Sicherstellungsauftrag, wie er etwa von den Pflegekassen zu verantworten ist, konkretisiert:

§ 69 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch

Die Pflegekassen haben im Rahmen ihrer Leistungsverpflichtung eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten.

In Erfüllung dieses Sicherstellungsauftrages bieten insoweit die Pflegekassen gegenüber den von Pflegebedürftigkeit betroffenen Menschen die Gewähr, dass ambulante oder stationäre Pflegeleistungen nur durch fachlich kompetente und wirtschaftlich arbeitende Leistungsanbieter erbracht werden dürfen.

Unter dieser Bedingung wird die Berechtigung, für den Kreis der anspruchsberechtigten Versicherten pflegerische Leistungen auszuführen, durch den entsprechenden Abschluss von Versorgungsverträgen vermittelt. Diese kann allerdings im Falle von Leistungsstörungen, insbesondere bei Mängeln in der Pflege, eingeschränkt oder gar widerrufen werden.

§ 72 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch

Die Pflegekassen dürfen ambulante und stationäre Pflege nur durch Pflegeeinrichtungen gewähren, mit denen ein Versorgungsvertrag besteht (zugelassene Pflegeeinrichtungen).

Mit dem als Folge des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes neu aufgenommenem § 72 Abs. 3 a SGB XI werden Pflegeeinrichtungen ab 1. September 2022 einen Versorgungsvertrag nur gegen den Nachweis tarifgerechter Bezahlung ihrer Pflegekräfte vermittelt bekommen. Mit dieser Legitimation zur Aufgabenerfüllung geht daher zugleich auch die Verpflichtung der Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste einher, die pflegerischen Leistungen aus eigenem Vermögen beanstandungsfrei zu erbringen.

§ 112 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch

Die Träger der Pflegeeinrichtungen bleiben unbeschadet des Sicherstellungsauftrages der Pflegekassen (§ 69) für die Qualität der Leistungen ihrer Einrichtungen einschließlich der Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität verantwortlich.

Diese sogenannte Qualitätsverantwortung des einzelnen Leistungsanbieters bzw. -erbringers stellt somit spiegelbildlich das Gegenstück zum Sicherstellungsauftrag der Kosten- bzw. Versicherungsträger dar. Letztere überwachen die Einhaltung der Qualität der erbrachten Leistungen durch dazu eigens entwickelte Maßstäbe und Grundsätze, die zum Schutz der Pflegebedürftigen entwickelt worden sind (vgl. a. § 113 Abs. 1 SGB XI).

Jüngste Beispiele für eine Neuausrichtung dieser Qualitätsstandards lassen sich etwa in den Regelungen zur Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen (vgl. a. § 113 c Abs. 1 SGB XI) sowie zur Erhebung und Übermittlung von indikatorengestützten Daten zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität in vollstationären Pflegeeinrichtungen finden (vgl. a. § 114 b SGB XI). Näheres hierzu wird unten in Kapitel 10 erläutert ( Kap. 10).

1.1 Sozialgesetzgebung als dynamischer Prozess

Die Berücksichtigung neuer Lebenssachverhalte, die regelmäßig auf gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, etwa der demoskopischen Entwicklung der Bevölkerung, beruhen, geben der gesetzgebenden Gewalt mannigfaltig Veranlassung, auf die daraus erwachsenden Anspruchserwartungen der Menschen zu reagieren.

Die Normen des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch – SGB I – geben insoweit als allgemeine Bestimmungen den den Staat verpflichtenden Rahmen bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen vor.

§ 1 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch

Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten.

Im Sozialleistungsrecht hat sich dieser Gestaltungsauftrag vor allem auf die Absicherung eines weiteren sozial typischen Risikos erstreckt: der deutlich höheren finanziellen Belastung als unmittelbare Folge des erstmaligen Auftretens von Pflegebedürftigkeit.

Dieses Risiko ist für Betroffene und deren Angehörige seit zweieinhalb Jahrzehnten mit Etablierung der sogenannten sozialen Pflegeversicherung ein Stück weit versicherbar geworden.

Diese wurde seinerzeit stufenweise eingeführt, zunächst im ambulanten Bereich ab Anfang 1995 und wenig später im stationären Bereich zur Mitte des Jahres 1996.

Mit ihr hat der Gesetzgeber dem hierzulande sich bereits damals abzeichnenden, gehäuften Auftreten von Pflegebedürftigkeit quer durch alle Altersstufen Rechnung getragen. Im Laufe der Zeit erfuhr dieser neue, fünfte Zweig der deutschen Sozialversicherung mehrfach Korrekturen. Hierfür stehen vor allem die jüngsten Reformgesetze Pate, die die soziale Pflegeversicherung grundlegend verändert haben. In diesem Zusammenhang haben die insgesamt drei Pflegestärkungsgesetze der Jahre 2015 bis 2017 zusammen mit dem Pflegepersonalstärkungsgesetz des Jahres 2019 einen Paradigmenwechsel eingeleitet:

Zeitgleich mit der Abkehr vom alten System der Pflegestufen und der Hinwendung zu so genannten Pflegegraden wurde die Etablierung eines neuen, ressourcenorientierten Pflegebedürftigkeitsbegriffs verfestigt. Dieser soll seither unter Anwendung eines Neuen Begutachtungsassessments dazu beitragen, ein höheres Maß an Begutachtungsgerechtigkeit zu erzielen.

Vorgesehen ist zudem auch die Hinwendung zu einer angemesseneren Vergütung von Pflegekräften an bundesdeutschen Krankenhäusern und Kliniken sowie in den vollstationären Pflegeinrichtungen.

Darüber hinaus tragen aber auch die Rechtsprechung der Sozialgerichte, insbesondere die des Bundessozialgerichts und nicht zuletzt auch Anregungen und Widerstände aus der Mitte der Gesellschaft dazu bei, sozialrechtliche Problemstellungen neu zu bewerten. Dies geschieht nicht selten aus einem gehäuften persönlichen Betroffensein heraus. So wurde etwa die Finanzierung der Heimkosten durch Angehörige zu einem Thema von nach geradezu öffentlichem Interesse, das den Gesetzgeber nach Jahren des Zuwartens zur konkfliktbezogenen Problemlösung förmlich nötigte:

Mit Inkrafttreten des sogenannten Pflegeangehörigenentlastungsgesetzes seit Anfang 2020 regelt eine angehobene Belastungsgrenze die Frage der Zumutbarkeit der Belastung von grundsätzlich unterhaltsverpflichteten Angehörigen für die Kosten eines Aufenthalts in vollstationären Pflegeeinrichtungen weitgehend neu.

Schließlich hat die sich seit dem Frühjahr 2020 auch in Deutschland ausbreitende Coronapandemie den Gesetzgeber zu gesetzgeberischen Korrekturen gezwungen. Mit den §§ 147 bis 152 SGB XI hat er die Tür offen gehalten für Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der pflegerischen Versorgung während der durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Pandemie. Diese betreffen vor allem Verfahrensfragen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit als solcher, die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung sowie die vorbehaltene Option einer Verlängerung dieser Maßnahmen durch den Erlass einschlägiger Verordnungen.

1.2 Gegliedertes System des Sozialleistungsrechts

Im Bereich der Pflege kommen von insgesamt vier unterschiedlichen Sachbereichen vor allem der sozialen Vorsorge in Gestalt der deutschen Sozialversicherung und der Grundsicherung eine überragende Rolle zu. Diese sollen daher kurz vorab näher erläutert werden.

Sozialrecht für die Pflege

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