Читать книгу Der König und sein Spiel - Dietrich Schulze-Marmeling - Страница 5
Vorwort
Оглавление„‚Tempo-Fußball‘ war noch nicht erfunden, als Cruyff ihn schon längst spielte. Und die Eleganz seines Auftritts ver--mittelte eine erste Ahnung davon, wann und warum Arroganz in künstlerischen Berufen gerechtfertigt ist.“
Fritz Eckenga, Kabarettist und Fußballfan
„Cruyff hat mich sehr beeindruckt. Ich glaube, ich war auch nicht die Einzige in Europa.“
Angela Merkel
Als der FC Barcelona am 28. Mai 2011 durch einen 3:1-Sieg über Manchester United die Champions League gewann, schwärmte Peter Hess anschließend in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Barça steht nicht auf dem Gipfel, weil es neue Dimensionen in Athletik, Wucht, Schusskraft, Aggressivität oder Laufstärke erschlossen hätte. Diese Tugenden würden Emotionen wie Bewunderung, Respekt oder Ehrfurcht auslösen. Das Team sprengt alle bekannten Grenzen an Inspiration, Antizipation, Körperbeherrschung und Ballfertigkeit. Das miterleben zu dürfen, ist nichts anderes als Glück.“
Es gibt Fußballspiele, und das Champions-League-Finale 2011 steht an der Spitze dieser Begegnungen, die lösen auch beim neutralen Betrachter Glücksgefühle aus.
Aber auch Dankbarkeit. Dankbarkeit gegenüber den „Erfindern“ dieses wunderbaren Spiels, das völlig zu Recht zum globalsten und erfolgreichsten aller Spiele avancierte. Dankbarkeit dafür, in einer Zeit zu leben, in der vielleicht der beste Fußball aller Zeiten gespielt wird. Und Dankbarkeit gegenüber denjenigen, die dieses Spiel zu jenem fantastischen Vortrag geformt haben, wie ihn im Mai 2011 87.695 Menschen im Londoner Wembleystadion und Millionen vor den Fernsehschirmen erleben durften.
Hier kommt nun Johan Cruyff ins Spiel, dessen Werk dieses Buch gewidmet ist.
Im Vorfeld des Finales zwischen Barcelona und Manchester wurde das Wembleystadion als „Pilgerstätte des modernen ‚Barcelonismus’“ bezeichnet. Denn im Wembley hatte der FC Barcelona 1992 zum ersten Mal die prestigeträchtigste Trophäe des europäischen Klubfußballs gewonnen. Und dabei bewiesen, dass sich Schönheit und Erfolg im Fußball nicht widersprechen müssen. Der Trainer jener Mannschaft, die als „Dream-Team“ in die Fußballannalen einging, hieß Johan Cruyff, der von 1973 bis 1978 selber für Barça gespielt hatte.
Zu den wichtigsten Spielern in Johan Cruyffs „Dream-Team“ gehörte der „Sechser“ Josep „Pep“ Guardiola, den der Trainer aus Barças B-Team geholt hatte und der Cruyffs Ideen aufsog wie kein anderer. Im Sommer 2008 wurde Guardiola selbst Trainer des FC Barcelona – auf Empfehlung von Johan Cruyff. Das Barça, das 2011 im Wembley triumphierte, war noch besser als das von 1992. Aber ohne Cruyffs „Dream-Team 1.0“ hätte es Guardiolas „Dream-Team 2.0“ nie gegeben.
Als ich im Februar 2012 den Spanien- und Barcelona-Experten Ronald Reng eher beiläufig nach dem Einfluss von Johan Cruyff auf den Fußball des FC Barcelona fragte, fiel seine Antwort so kurz wie klar aus: „Eine Abhandlung über den Einfluss von Cruyff bei Barcelona bräuchte (…) mindestens ein Buch. Ohne Cruyff gäbe es dieses Barça nicht.“
*****
Hierzulande wird Johan Cruyff vor allem mit der WM 1974 assoziiert. Auch des Autors Interesse an Cruyff begann mit dem Turnier in Deutschland. Vor einigen Jahren feierte meine Schule, das Städtische Gymnasium Kamen, seinen 150. Geburtstag. Die Schule lud mich ein, einen Beitrag für die Festschrift zu schreiben. Als Titel meiner Erinnerungen wählte ich: „Herr S., Johan Cruyff und ich.“ „Herr S.“ war ein rechtsradikaler Lehrer, mit dem ich mich als Schülersprecher heftig rieb. Johan Cruyff war mein fußballerisches Idol – und noch mehr.
Wir waren eine „ent-nationalisierte“ Generation, und der Finalsieg von München löste bei uns nicht annähernd die Begeisterung aus wie bei der Generation unserer Eltern das „Wunder von Bern“. (Das bei meinen Eltern allerdings auch keine Begeisterung auslöste, weil sie sich nicht für Fußball interessierten. In den Betrachtungen von 1954 bleibt häufig unerwähnt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung das Turnier in der Schweiz überhaupt nicht wahrnahm.)
Johan Cruyff und Co. bestritten fünf ihrer sieben WM-Auftritte in meiner westfälischen Heimat – drei in Dortmund und zwei in Gelsenkirchen. Und ihr Hauptquartier war das Waldhotel Krautkrämer in Hiltrup vor den Toren Münsters. 34 Jahre später schrieb Klaus Brinkbäumer im „Spiegel“ über die damalige Stimmung im Münsterland: „Hiltrup ist nicht so bekannt. Es gibt eine Marktallee dort und das Eiscafé Martini. Hiltrup hat den Dortmund-Ems-Kanal, die Polizeiführungsakademie, das Waldhotel Krautkrämer und den Sportplatz Hiltrup-Ost, der heute erstaunlicherweise Glasurit-Arena heißt. Kein Mensch jenseits des Münsterlandes kennt Hiltrup. Aber Cruyff und die Holländer verbrachten die WM ’74 in Hiltrup. Im Waldhotel Krautkrämer. Cruyff hatte lange Haare und guckte stolz. Siebenjährige Hiltruper Jungs verbrachten jenen verregneten Sommer ’74 vor dem Waldhotel und auf dem Sportplatz Hiltrup-Ost, wo sie die Trainingsbälle aus dem Wäldchen fischten, und auf Wiesen, wo sie Hollands Siege nachspielten. Die Nummer 14 nannten sie ‚König Johan’, und der trug nur zwei Streifen auf dem Trikot und nicht drei, weil er auch ein Rebell war. Johan Cruyff sagte scharfe Sachen: ‚Wenn ich gewollt hätte, dass Sie’s verstehen, hätte ich es besser erklärt’, so redete Johan Cruyff. Er schrieb auf dem Parkplatz Autogramme: raumgreifend, schnell, er schrieb, wie er spielte. Für Hiltruper Jungs war es nicht einfach, im Sommer ’74 für Deutschland zu sein, denn Holland in Hiltrup, das war eine Verheißung. Cruyff, Neeskens, Rep, Rensenbrink waren die Besten der Welt, und leider wussten sie es.“
Im Finale drückte ich den Niederländern die Daumen – mein schlechtes Gewissen hielt sich dabei in Grenzen. Als ich vier Jahre später nach einigen Umwegen und Verlängerungen schließlich mein Abitur baute, stand erneut eine WM auf dem Programm.
Titelverteidiger Deutschland spielte nach einer peinlichen 2:3-Niederlage gegen Österreich nicht einmal im „kleinen Finale“. In der Festschrift meines Gymnasiums schrieb ich nun 30 Jahre später: „Mich berührte das nicht sonderlich, da ich mit ‚unserer’ Nationalmannschaft bereits während der WM 1974 abgeschlossen hatte. Seit der Begegnung Niederlande gegen Brasilien im Dortmunder Westfalenstadion galt meine Liebe der niederländischen Elftal, die mit ihrem totaal voetbal meine damalige Lebensphilosophie ausgiebig bediente. Totaal voetbal basierte auf einer Theorie vom ‚flexiblen Raum’ und hätte auch in unseren Physik- und Kunstunterricht eingehen müssen. Mein Idol war ‚König’ Johan Cruyff, der zum Ende des 20. Jahrhunderts zu Recht zum ‚europäischen Jahrhundertfußballer’ gekürt wurde (vor dem deutschen ‚Kaiser Franz’). Cruyff, den der ‚Times’-Journalist David Miller ‚Pythagoras in Fußballschuhen’ taufte, und seinen Mitspielern war es gelungen, eine Verbindung zwischen Kollektivismus und kreativem Individualismus zu realisieren, womit er unser Programm repräsentierte. Für viele Niederländer (aber auch einige Deutsche) war die schmächtige, kettenrauchende Gestalt aus einem Kleineleute-Viertel des Amsterdamer Ostens mehr als ‚nur’ ein Fußballer, nämlich Repräsentant einer kulturellen, politischen und sozialen Revolution, die unser Nachbarland in den 1960ern von einem eher rückständigen Gebilde zu einer der progressivsten Adressen in Europa transformierte.
Kein Wunder, dass wir als Schüler die Jugendmetropole Amsterdam gerne am Wochenende aufsuchten. Fußball à la Oranje bedeutete auch lange Haare und das Trikot über der Hose, und Johan Cruyff hätte unsere Lehranstalt sicherlich nicht nur fußballerisch bereichert.
Seinen politisch bedeutendsten Auftritt zelebrierte Cruyff am 17. Februar 1974 im Estadio Bernabéu zu Madrid, als er den FC Barcelona zu einem furiosen 5:0-Sieg über Real, das ‚Regime-Team’, führte. Für Millionen Spanier und Katalanen war dieser Tag der Anfang vom Ende der Franco-Diktatur. In Barcelona erlangte Cruyff durch dieses Spiel den Status eines Heiligen – bei mir ebenfalls. Cruyff schlug auch Marx, Lenin und Che Guevara um Längen. Libuda mag Gott umdribbelt haben (,Keiner kommt an Gott vorbei – außer Libuda‘), aber Cruyff ließ sogar Marx stehen.“
De facto war natürlich alles anders. Politisch war Cruyff eher konservativ. Ein Revolutionär war er nur auf dem Fußballfeld und wenn es um eine angemessene Bezahlung der zunächst von den Verbänden und Vereinen ausgenutzten Fußballprofis ging.
*****
Als ich Freunden und Kollegen über mein Vorhaben eines Buches über Johan Cruyff erzählte, waren die Reaktionen geteilt. Die einen waren begeistert, erinnerten sich an die WM 1974 und an das „Dream-Team“ des FC Barcelona von 1992. Die anderen, und das waren nicht wenige, sahen Cruyff vor allem als ein „arrogantes, selbstgerechtes und geldgieriges Arschloch“ und „permanenten Nörgler“. Mein wesentliches Motiv für dieses Buch war das Gefühl, dass Johan Cruyff anders ist als die anderen ehemaligen Weltklassefußballer, die mit ihm in einem Atemzug erwähnt werden. Anders als Alfredo Di Stéfano, Franz Beckenbauer, Pelé oder Diego Maradona.
Denn Johan Cruyff hat mehr als nur großartige und erinnerungswürdige Auftritte hinterlassen. Cruyff hat die Entwicklung des Weltfußballs beeinflusst wie kein anderer der ehemaligen Großen. Er steht für eine bestimmte Idee vom Fußballspiel, eine höchst attraktive noch dazu. Diese hat ihren Ursprung im „Fußball total“ des Trainers Rinus Michels, der vielleicht letzten großen taktischen Revolution im Weltfußball. Viele Dinge, die heute im Fußball selbstverständlich sind, wie angreifende Verteidiger, Positionsspiel, Pressing und ein mitspielender Torwart, wurden in den Jahren 1965 bis 1974 eingeführt.
Michels „Fußball total“ konnte aber nur funktionieren, faszinieren und zur Nachahmung animieren, weil ihm mit Johan Cruyff ein Spieler zur Verfügung stand, der ein „totaler Fußballer“ und spielender Trainer war.
Als Spieler, Trainer und Berater war Johan Cruyff an einigen der faszinierendsten Teams der Fußball-Weltgeschichte beteiligt. Cruyff war die zentrale Figur des großen Teams von Ajax Amsterdam, das 1971 bis 1973 dreimal in Folge den Europapokal der Landesmeister gewann – im Übrigen das erste Mal im Wembley… Bei der WM 1974 in Deutschland war Cruyff Anführer der niederländischen Nationalmannschaft, die die Herzen der Fußballfans im wahrsten Sinne des Wortes im Sturm eroberte, auch wenn sie im Finale an Deutschland scheiterte. Als Trainer formte Johan Cruyff Barcelonas „Dream-Team“, als Berater war er nicht unbeteiligt an Barças Champions-League-Triumphen 2006, 2009 und 2011. Und dass Spanien nach über 40 titellosen Jahren 2008 Europameister und 2010 Weltmeister wurde, auch daran war Cruyff beteiligt. Denn Cruyff hatte über den FC Barcelona den spanischen Fußball verändert.
Wo immer sich die Gelegenheit bietet, fordert Johan Cruyff einen auf exzellenter Technik basierenden Offensivfußball, der sich nicht nach dem Gegner richtet. Und wo immer ein solcher gespielt wird, ist der Name Cruyff nicht weit. Kaum eine Diskussion über offensiven und attraktiven Fußball ohne die Erwähnung von Cruyff.
Cruyff ist der glaubwürdigste und entschiedenste Verfechter eines angriffslustigen und attraktiven Fußballs – und dies nun bereits seit über 40 Jahren.
Aber Johan Cruyff ist kein Gott und hat mitnichten immer Recht. Und schon gar nicht ist er in seinen Urteilen immer gerecht. Cruyff ist schroff und geht einem mit seinem Dogmatismus und seiner Nörgelei manchmal gehörig auf die Nerven.
Aber Cruyff ist wichtig für den Fußball: als Gralshüter und Prophet einer offensiven und unterhaltsamen Spielweise und als Kritiker jeder Form von Negativtaktik. Im Cruyff’schen Fußball will der Spieler immer den Ball haben und ist ein Fußballspieler. Für Cruyff ist guter Fußball ein Fußball, der den Spielern und den Zuschauern Spaß macht.
*****
Das vorliegende Buch erhebt nicht den Anspruch einer klassischen Biografie. Ein solches Vorhaben wäre anmaßend gewesen. Es ist ein Buch über einen Fußballfanatiker und eine Idee vom Fußball, in der sich der Autor wiederfindet. Weshalb mir der Leser verzeihen mag, wenn sich Cruyffs und meine Gedanken zuweilen etwas miteinander vermengen – bis hart an die Grenze des Erlaubten.
Dietrich Schulze-Marmeling, Mai 2012
Anmerkung zur Schreibweise:
Johan Cruyff wird eigentlich Johan Cruijff geschrieben. Unter diesem Namen wurde er nach seiner Geburt im Amsterdamer Personenstandsregister registriert. Zu „Cruyff“ wurde Cruijff erst im Zuge seiner internationalen Karriere. In den Niederlanden wird unverändert die ursprüngliche Schreibweise benutzt – also „Cruijff“. Im Ausland hingegen firmiert er, wie auch in diesem Buch, in der Regel als „Cruyff“.