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Michel Jansen: Cruyff, van Gaal und das „typisch Niederländische“
ОглавлениеEin trüber Morgen im November. Ich parke vor dem FBK-Stadion im niederländischen Hengelo. Neben mir stehen einige Kleintransporter der Fußballakademie des FC Twente Enschede, auf denen geschrieben steht: „Voetbal, Ambiance, Solidariteit“. Unter der Regie seines visionären Präsidenten Joop Munstermann soll der FC Twente für die Region Twente werden, was der FC Barcelona für Katalonien ist – eben mehr als nur ein Klub. Der FC Twente soll Werte verkörpern.
Die vereinseigene voetbalacademie ist im FBK-Stadion untergebracht; auf einem Nebenplatz trainiert im Nebel seit acht Uhr morgens die U19 des FC Twente. Derweil lässt sich eine Delegation des AIK Stockholm die Anlage zeigen. Seit einiger Zeit geben sich ausländische Klubs hier die Klinke in die Hand. Sie alle wollen mehr über das erfolgreiche Ausbildungskonzept des FC Twente erfahren, das grenzübergreifend wirkt. 20 bis 25 Prozent der Juniorenspieler kommen aus den deutschen Grenzregionen. Die Fortbildungsveranstaltungen des FC Twente werden auch von vielen deutschen Juniorentrainern besucht.
Nach dem ersten Training der Jugendmannschaften herrscht in den engen Gängen, Kabinen und Büroräumen der Akademie großes Gedränge. Es riecht nach Arbeit und Kommunikation. Ich treffe mich mit Michel Jansen, dem Kopf der Nachwuchsausbildung des FC Twente. Den Capuccino gibt es im Pappbecher aus einem Automaten. Als Ort für unser Gespräch wählt Jansen einen benachbarten Pavillon.
In den Tagen vor unserem Treffen gab es in den Niederlanden nur ein Thema: den „kalten Krieg“ zwischen Johann Cruyff und seinen vier Aufsichtsratskollegen bei Ajax, die im Alleingang Cruyffs Erzkonkurrenten Louis van Gaal zum Generaldirektor gekürt hatten. Michel Jansen spricht aus, was nicht wenige denken: dass Cruyff und van Gaal eigentlich ein Traumduo darstellen könnten. Beide seien großartige Trainer. Natürlich gebe es auch Unterschiede. Cruyff würde stärker das Individuum sehen und die individuelle Ausbildung betonen. Van Gaal richte sein Augenmerk vorrangig auf die Mannschaft und deren Funktionstüchtigkeit. Und wo für van Gaal Organisation und Disziplin von großer Bedeutung seien, räume Cruyff vielleicht der Intuition und Kreativität mehr Raum ein. Nach dem Motto: „Lass es mal laufen. Wird schon.“
Eigentlich könnten sich Cruyff und van Gaal hervorragend ergänzen und eine ideale Mischung bilden. Wenn man sich gegenseitig respektieren würde. „Aber man muss gemeinsam durch eine Tür gehen. Das können sie nicht.“ Leider würden Cruyff und van Gaal stets lieber über ihre Differenzen als über ihre Gemeinsamkeiten reden.
Michel Jansen ist ohnehin der Überzeugung, dass die beste Trainerkonstellation folgendermaßen aussehe: Trainer Nr. 1: ein Ex-Profi, der auf höchstem Niveau gespielt hat. Der die Kabine kennt und weiß, wie Profis ticken. Und dessen Arbeit von Erfahrung und Intuition geleitet wird. Trainer Nr. 2: ein mehr wissenschaftlich orientierter und taktisch versierter Arbeiter. Ein solches Duo hätten beim FC Barcelona der ehemalige Weltklassespieler und Europameister Frank Rijkaard und der ehemalige niederländische Amateurnationalspieler Henk ten Cate gebildet. (Zuvor war ten Cate in Deutschland als Cheftrainer von Bayer Uerdingen gescheitert. Und Frank Rijkaard als Cheftrainer von Sparta Rotterdam.)
Die Auseinandersetzung Cruyff versus van Gaal sei typisch für die Niederlande. „Das war schon früher so, wo sich Wiel Coerver und seine Schule und der KNVB mit Rinus Michels gegenseitig bekämpften, anstatt ein gemeinsames Paket zu schnüren. Coerver betonte die individuelle technische Ausbildung, beim KNVB stand das Vier-gegen-Vier im Zentrum.“
In den Niederlanden wird unverändert konsequent nach dem 4-3-3 ausgebildet. Laut „Voetbal International“ spielten am Wochenende vor unserem Gespräch von den 18 Mannschaften der niederländischen Eredivisie 14 im 4-3-3. Wobei zu berücksichtigen ist, dass dieses System unterschiedlich interpretierbar und flexibel zu handhaben ist; beispielsweise könne man mit einer Sturmspitze starten, aus der dann ein Dreier-Angriff werde, indem Mittelfeldspieler als Flügelstürmer agieren. Für die Ausbildung in den Niederlanden bedeutet die 4-3-3-Tradition, dass das Land seit vielen Jahren erstklassige Offensivspieler, vor allem Flügelstürmer produziert.
Natürlich wird auch beim FC Twente nach dem 4-3-3 ausgebildet. Und wie Cruyff, so erläutert Michel Jansen, legt man zunächst die Betonung auf die individuelle Ausbildung. Bis zum 16. Lebensjahr sei das Ergebnis nebensächlich, erst ab der U17 gehe es auch darum, wie man als Mannschaft den Sieg organisiere.
Ich frage Michel Jansen, ob die Niederlande vielleicht – auch wegen der Cruyff’schen Philosophie – allzu lange zu wenig Wert auf das Erlernen des Verteidigens gelegt habe? Jansen verneint dies: „Unsere Philosophie hat uns dorthin gebracht, wo wir heute sind. Wir sind ein kleines Land, aber bei fast jeder WM und EM mit dabei.“ Ohnehin meine „Verteidigen“ in den Niederlanden etwas anderes als das, was wir damit in Deutschland traditionell verbinden. Denn eigentlich geht es nicht um Verteidigen, sondern um Balleroberung. Der niederländische Spieler, der den Ball verliert, will nicht in erster Linie ein Gegentor verhindern, sondern das Spielgerät zurückhaben. Verteidigen ist eine aktive, auf die Balleroberung gerichtete Aktion, kein einfaches Stellen des Gegners. Mit anderen Worten: Auch beim Verteidigen wird angegriffen.
Für Michel Jansen können die Niederlande noch besser werden. Aufgrund ihrer Ausbildung wollten sie immer den Ball haben, hörten aber nach Ballverlust häufig auf zu spielen. Wenn sie dieses Manko abstellen würden, dann könnten sie einen weiteren großen Schritt nach vorne machen. Eine Mannschaft, die dies bereits beherrsche, sei der FC Barcelona. Barças Spieler wollten den Ball stets wiederhaben. „Wo der Ball ist, sind sie mit einem Spieler in Überzahl. Das geht natürlich nur, wenn alle mitmachen und man sich gegenseitig hilft. Wenn die Rückeroberung nicht gelingt, haben sie natürlich ein Problem, weil sie an anderer Stelle ein Mann weniger sind. Aber was soll es! Mit diesem Risiko kann man leben.“
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