Читать книгу Begegnungen mit der Wirklichkeit (E-Book) - Dorothee Wieser - Страница 10
2.2.1Potenziale
ОглавлениеAußerschulisches Lernen als sinnvolle Erweiterung schulischen Lernens
Außerschulisches Lernen soll den Schulunterricht nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen und erweitern. Die Integration außerschulischer Lernorte trägt damit im weitesten Sinne zu einer Öffnung der Institution Schule bei (vgl. Pries & Wiesmüller, 2011). Grundsätzlich erhofft man sich durch diese Öffnung eine Erweiterung des pädagogischen Angebots (Budde & Hummrich, 2016), das auf Schülerinnen und Schüler durch Abwechslung motivierend wirkt. Auch kann die Lernwirksamkeit durch die (mögliche) Durchbrechung von Routinen und das Finden neuer Lernwege an außerschulischen Lernorten positiv beeinflusst werden (Karpa et al., 2015a). Inwiefern zusätzlich noch eine methodische Abwechslung durch den verstärkten Einsatz handlungsorientierter Ansätze und die Ermöglichung eigenverantwortlichen Lernens erfolgt, hängt stark von der spezifischen methodischen Ausgestaltung des außerschulischen Lernvorhabens ab. Eine klassische Museumsführung bietet beispielsweise sehr wenige Möglichkeiten, wenn sie solitär für sich steht. Es ist die Planungsaufgabe der Lehrerpersonen, eine entsprechende Einbettung mittels konkreter Lernangebote zu schaffen.
Außerschulisches Lernen stärkt den Lebenswelt- und/oder Wissenschaftsbezug
Durch die Ausweitung des Schulunterrichts auf außerschulische Lernorte soll eine Annäherung an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler erfolgen. Die Nähe außerschulischer Lernorte zur tatsächlichen Lebenswelt der Lernenden variiert von Lernort zu Lernort und hängt zudem stark von der individuellen Erfahrungswelt der einzelnen Schülerinnen und Schüler ab. So liegt es auf der Hand, dass für die meisten Lernenden ein sozialer Ort wie die Disco lebensnäher ist als ein Teilchenbeschleuniger oder eine mittelalterliche Urkunde in einer Museumsbibliothek. Das Lernen außerhalb der Schule bietet zwar auf der einen Seite die Chance, alltagsnahes Wissen zu generieren, das gemäß der Theorie des situierten Lernens leichter in vergleichbaren Alltagssituationen angewendet werden kann, gleichzeitig muss aber (außerschulisch erworbenes) episodisches Wissen dekontextualisiert und damit verallgemeinert und systematisiert werden, um seine Anwendbarkeit in anderen fachlichen Kontexten zu gewährleisten.
Außerschulische Lernorte, die eine geringe Nähe zur Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler haben, aber dafür einen stärkeren Wissenschaftsbezug aufweisen, sind beispielsweise Forschungsinstitute oder Produktionsbetriebe. Auch bei Kunstausstellungen ist der Lebensweltbezug nicht unbedingt vorauszusetzen. Diese Lernorte verfügen jedoch meist über ein besonderes Potenzial für wissenschaftspropädeutische Ansätze (siehe Kap. 4).
Für naturwissenschaftliche Fächer sind in den letzten Jahren Schülerlabore immer wichtiger geworden. Diese inszenieren häufig Ausschnitte der naturwissenschaftlichen Forschung, um ein lebendiges Bild von «Nature of Science» beziehungsweise der Arbeit von Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern zu schaffen. Der Dachverband der deutschen Schülerlabore (LeLa) formuliert dies explizit als das allen Schülerlaboren gemeinsame Ziel (vgl. Euler, 2005). Ziele im Sinne der Wissenschafts- oder Berufsorientierung verfolgen auch geisteswissenschaftliche Schülerlabore oder Archive.
Außerschulische Lernorte stärken eine regionale Identität der Lernenden und fördern gesellschaftliche Teilhabe
Im Sinne des regionalen Lernens gibt das Aufsuchen außerschulischer Lernorte Schülerinnen und Schülern Gelegenheit, eine bestimmte Region (die bei Fernzielen unvertraut sein kann) oder auch ihre Heimatregion zu entdecken und intensiver kennenzulernen. In beiden Fällen bietet außerschulisches Lernen die Chance zur Selbstverortung, wie es Salzmann (2007, 433 ff.) bezeichnet. Insbesondere durch den Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden verschiedener Regionen wird das Erlangen regionaler Identitäten gefördert (vgl. Sauerborn & Brühne, 2014, 47), wobei in diesem Zusammenhang auch eine kritische Diskussion des Heimatbegriffs angeregt werden könnte.
Durch die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Region und ihren nicht immer präsenten und zugänglichen historischen wie gegenwärtigen kulturellen Traditionen, Orten, Objekten, Veranstaltungen et cetera lässt sich auch das «kulturelle Umweltbewusstsein» (Fried, zit. nach Rohlfes, 2005, 307) fördern. Danker (2016, 187) verweist hinsichtlich des Geschichtsunterrichts auf die Potenziale eines lokal- beziehungsweise regionalgeschichtlichen Zugangs zu den außerschulischen Lernorten, wodurch das Verhältnis von Regional- und allgemeiner Geschichte erschließbar werde (vgl. auch Emer, 2010, 209 ff.).
Insbesondere in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern zielt ein Besuch von außerschulischen Lernorten häufig auf ein Kennenlernen gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten. Der Besuch von (kommunal-) politischen Institutionen oder von Instituten für politische Bildung kann Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten einer aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Geschehen aufzeigen (vgl. Sauerborn & Brühne, 2014, 45).
Außerschulische Lernorte ermöglichen Primärerfahrungen
Ein großer Vorteil, den viele Autorinnen und Autoren im Besuch außerschulischer Lernorte erkennen, ist die Ermöglichung von Primärerfahrungen und originalen Begegnungen im Sinne von Roth (1970). Schülerinnen und Schüler können in direkter Interaktion mit der Lernumgebung und den Lerngegenständen persönliche Erfahrungen sammeln (vgl. z. B. Schockemöhle, 2009; Sauerborn & Brühne, 2017). Das spezifische Potenzial außerschulischer Lernorte resultiert somit maßgeblich aus der Möglichkeit der unmittelbaren Begegnung mit einem originalen (authentischen) Objekt, Lerninhalt oder allgemeiner: Lerngegenstand. Hellberg-Rode bezeichnet außerschulische Lernorte aus diesem Grund als «authentische Erfahrungsräume» (2004, 145).
Außerschulische Lernorte bieten Zugänge zu (fächerübergreifenden) Lerninhalten in authentischen Kontexten
Außerschulische Lernorte halten Lerninhalte bereit, die in Kontexte eingebettet sind. Die Kontextualität variiert bei unterschiedlichen Lernorten und Lerninhalten stark (siehe Abschn. 2.4.2). Wird ein Kontext vom Lernenden als glaubwürdig empfunden, so kann er nach Muckenfuß (1995), der diesen Aspekt für den Physikunterricht untersucht, als motivationsfördernd beziehungsweise sogar als für das Lernen notwendig angenommen werden, denn:
«Der Sinngehalt physikalischer Begriffe und Gesetze erwächst erst aus der Anwendung auf einen konkreten, bedeutungsvollen Sachverhalt.» (Muckenfuß, 1995, 144)
und:
«Für die große Mehrheit der Schülerschaft gilt es, sie erfahren zu lassen, dass viele lebensbedeutsame Inhalte physikalische Aspekte enthalten, aus deren Verfügbarkeit auch ein persönlicher Gewinn hinsichtlich der Möglichkeit konkreter Welterfahrung und geistiger Welterschließung erwächst. Damit rücken aber diese lebenspraktischen Inhalte in den Mittelpunkt des Physikunterrichtes und nicht die aus ihnen zu gewinnenden formal-abstrakten Begriffe und Gesetze der Physik.» (Ebd., 148)
Diese Prämisse gilt sicherlich in besonderem Maße für den naturwissenschaftlichen Unterricht, der die Schülerinnen und Schüler an die formal-abstrakte Modellwelt der Naturwissenschaften heranführt, sie kann aber im Grundsatz auch für alle Fächer gelten, deren Fachinhalte in für die Schülerinnen und Schüler möglichst lebensnahe (authentische) und nachvollziehbare Kontexte eingebettet und so motiviert werden können.
In Anlehnung an Nawrath (2010) kann an außerschulischen Lernorten sowohl fachsystematisch als auch kontextstrukturiert vorgegangen werden (siehe Abb. 2.2):
«Ein Kontext im Physikunterricht bezeichnet einen konkreten physikalischen Anwendungsbezug, der aus dem Alltag der Schülerinnen oder Schüler kommt, gesellschaftliche Relevanz oder Bedeutung für Technik und Wissenschaft hat. […] Ein ‹kontextstrukturiertes Vorgehen› liegt dann vor, wenn Kontexte Ausgangspunkt und Zielpunkt physikalischen Lernens im Unterricht sind […]. Vorrangiges Ziel ist das Lernen über den Kontext. Die Vermittlung physikalischer Begriffe, Gesetze und Theorien ist eine Notwendigkeit dazu.» (Nawrath, 2010, 21)
Beim kontextstrukturierten Vorgehen werden über die Auseinandersetzung mit einer anwendungsbezogenen Problemstellung, die sich aus dem Kontext ergibt, Fachinhalte erarbeitet. Im Falle des fachsystematischen Vorgehens wird demgegenüber der außerschulische Lernort genutzt, um die erarbeiten Fachinhalte in einen Kontext einzubetten und hierüber potenzielle Anwendungsbezüge aufzuzeigen. Das fachsystematische Vorgehen entspricht dem direkten Lernen, während das kontextstrukturierte Vorgehen einem indirekten Lernen entspricht (siehe dazu Kap. 5).
Abbildung 2.2:
Varianten kontextorientierten Unterrichtens (adaptiert nach Nawrath, 2010, 21)
Da Lerninhalte, die sich aus dem Kontext des außerschulischen Lernorts ergeben, nicht an einzelne Schulfächer gebunden sind, erfordern sie in einigen Fällen ein fächerübergreifendes Vorgehen. Außerschulisches Lernen bietet demnach häufig die Notwendigkeit und Gelegenheit, fächerübergreifend zu lernen (vgl. auch Sauerborn & Brühne, 2014), es stellt somit Potenzial und Herausforderung zugleich dar. Die Gelegenheit, fächerübergreifend Inhalte zu erschließen, ist als Chance zu sehen, da fächerübergreifendes Lernen, wie in Kapitel 3 näher beschrieben, eine notwendige Ergänzung zu fachlich strukturiertem Unterricht ist.
Die Identifizierung geeigneter fächerübergreifender Themen ist jedoch herausfordernd. Sie kann durch außerschulische Lernorte einerseits unterstützt und angeregt werden, andererseits können fächerübergreifende Ansätze an außerschulischen Lernorten von Lehrkräften als sehr
anspruchsvoll wahrgenommen werden. Zum einen müssen die fachspezifischen Potenziale erkannt und für die Lernenden herausgestellt werden, zum anderen erfolgt eine Konfrontation mit den Grenzen der eigenen Fachperspektive, die auch verkraftet werden muss. Zudem stellen Planung und Durchführung fächerübergreifender Lehr-Lern-Settings hohe organisatorische Anforderungen, die durch die Einbindung eines außerschulischen Lernorts noch erhöht werden können.
Experten-Laien-Kommunikation als Potenzial und Herausforderung außerschulischer Lernvorhaben
Der Austausch mit Expertinnen und Experten am außerschulischen Lernort kann ein besonderes Potenzial außerschulischer Lernvorhaben, aber auch eine besondere Herausforderung sowohl für die Lehrpersonen als auch für die Lernenden darstellen. Das Potenzial liegt zum einen in dem Expertenwissen, durch das das außerschulische Lehr-Lern-Setting inhaltlich und methodisch bereichert werden kann. Ein Experte oder eine Expertin kann zudem eine besondere Authentizität durch seine beziehungsweise ihre Nähe zur Wissenschaft erzeugen.
Herausforderungen bestehen zum Beispiel darin, dass sich Lehrende bei der Planung des außerschulischen Lehr-Lern-Vorhabens mit einer weiteren Person abstimmen müssen. Die unterschiedlichen beruflichen und fachlichen Hintergründe der Lehrenden und des Experten oder der Expertin am außerschulischen Lernort können zudem die Kommunikation erschweren. Auch für die Schülerinnen und Schüler kann die Kommunikation mit einer Expertin oder einem Experten ungewohnt sein und sollte deshalb durch die Lehrkraft begleitet werden. Experten-Laien-Kommunikation ist nach Bromme et al. (2004) durch eine «systematische Wissensasymmetrie der beteiligten Kommunikationspartner definiert» (Bromme et al., 2004, 176). Die Kommunikationssituation ist dabei häufig dadurch belastet, dass die Wissensdivergenz als Machtasymmetrie wahrgenommen wird, was dazu führt, dass Laien aus Angst keine Nachfragen stellen (vgl. Bromme et al., 2004, 184). Die Fähigkeit von Experten und Expertinnen, ihr Wissen adressatengerecht zu kommunizieren, kann zudem sehr unterschiedlich ausgeprägt zu sein:
«Schon die Alltagserfahrung zeigt, dass die laiengerechte Kommunikation für Experten tatsächlich eine erhebliche Anforderung darstellt und diese Anforderung sehr unterschiedlich bewältigt wird. […] Es scheint, umgangssprachlich formuliert, ‹Fachidioten› und ‹Vermittlungskünstler› zu geben.» (Bromme et al., 2004, 182)
Für eine gelingende Kommunikation ist es notwendig, dass die Expertin oder der Experte die fremde Perspektive einschätzt (Antizipation) und das eigene Kommunikationsverhalten an diese anpasst (Adaption). Um die Kommunikation zu verbessern, kann die Antizipationsfähigkeit beispielsweise durch konkrete Informationen über das Wissen des Gegenübers gefördert werden (vgl. Bromme et al., 2004, 183–186). Auf die Kommunikation zwischen Schülerinnen und Schülern und Expertinnen und Experten am außerschulischen Lernort bezogen, resultiert daraus die Notwendigkeit eines vorbereitenden Gesprächs, in dem die Lehrkraft sich mit der Expertin oder dem Experten über das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler und die inhaltlichen Erwartungen austauscht.
Ein weiteres Problem beschreiben Karpa et al. (2015a):
«Problematisch erscheint des Weiteren die Begegnung mit Experten an außerschulischen Lernorten, wenn diese ihre Interessen so formulieren, dass die Schüler in gewisser Weise überwältigt werden. Hier müssen Lehrende darauf – neben der präventiven Vorbereitung hierauf – achten, dass es spätestens hinterher im Klassenraum zu einer Relativierung und Kontrastierung der Expertenposition kommt, indem gleichgewichtige Gegenpositionen einbezogen werden und die sich dahinter verbergenden Interessenlagen transparent gemacht werden.» (Karpa et al., 2015a, 16)
Neben den Herausforderungen der eigenen Kommunikation mit einem Experten oder einer Expertin nehmen Lehrerinnen und Lehrer somit aus unterschiedlichen Gründen auch bei der Kommunikation zwischen Schülerinnen und Schülern auf der einen, Expertinnen und Experten auf der anderen Seite eine wichtige Rolle ein: Sie sollten die Kommunikation beidseitig vorbereiten, indem sie Schülerinnen und Schüler und Expertinnen und Experten über die jeweils andere Gruppe informieren und die Kommunikationssituation gemeinsam mit ihnen reflektieren.