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1«Lernlandschaft Sachsen» – Potenziale außerschulischer Lernorte (er)kennen

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In jüngster Zeit hat sich die Debatte um die vielfältigen Potenziale von außerschulischen Lernorten und deren Nutzung für den schulischen Unterricht deutlich intensiviert. Vor dem Hintergrund der Diskussion um Alltagstauglichkeit und Praxisrelevanz von schulisch vermittelten Inhalten kommt außerschulischen Lernorten wachsende Bedeutung zu. In ihrer Praxis stellen sich Lehrerinnen und Lehrer immer häufiger die Frage, wie sie außerschulische Lernorte sinnvoll für ihren Unterricht nutzen und in den Regelunterricht integrieren können, zumal außerschulisches Lernen häufig auch über die Grenzen des jeweiligen Fachs hinausweist. Die Klärung dieser Frage erfordert mehr als nur einfache Rezepte, denn es geht um die jeweils spezifische Erschließung und Nutzung der Potenziale von Lernorten – auch und vor allem in der Umgebung der Schule oder in der Region.

Nur durch die Einbindung außerschulischer Lernorte in die schulischen Bildungsprozesse kann den heutigen Anforderungen einer umfassenden Bildung im Sinne eines ganzheitlichen Lernens im regionalen Kontext entsprochen werden. Denn jeder Bildungsprozess muss von der Erfahrungswelt der Lernenden ausgehen: Die Vielfalt und Komplexität des Alltags, in dem sich Kinder und Jugendliche bewegen, spiegelt sich in der Vielfalt der Orte, Institutionen und Situationen wider, denen sie in ihrer Region begegnen, die jeweils einen Ausschnitt der realen Welt darstellen. Demgegenüber steht eine Welt, wie sie in der Schule – häufig einseitig und beschränkt – präsentiert wird und die den Jugendlichen wenig Raum bietet, im Prozess der Aneignung von Wissen und Erkenntnissen eigene Fragen zu stellen und selbstständig nach Antworten auf diese Fragen zu suchen. Es ist eine echte didaktische Herausforderung, Lernende durch konkrete Lerngegenstände, durch authentische Probleme und komplexe Situationen an entsprechende Auseinandersetzungen heranzuführen und sie die Notwendigkeit des Sich-Zurechtfindens in vielfältigen Wissensbeständen erleben zu lassen.

Außerschulische Lernorte können eine Brücke zwischen der komplexen, «ungefilterten» Welt, der Region, der lebendigen Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler und der Vermittlung in der Schule sein, weil sie es ermöglichen, sich die Welt in einer strukturierten und geschützten Umgebung exemplarisch anzueignen. Dabei sind Lernorte sehr vielgestaltig: Das Spektrum reicht vom Bachlauf in der Natur und vom Naturpark über den Dorfkern, das historische Gebäude in der Altstadt, die Gedenkstätte bis hin zu Schülerlaboren, Heimatmuseen, Kunstmuseen oder technischen Ausstellungen. Auch Unternehmen, Vereine und viele andere Einrichtungen verfügen über entsprechende Potenziale. Passend gewählte Lernorte können Schülerinnen und Schülern originale Begegnungen mit kulturellen, historischen, geografischen und naturwissenschaftlich-technischen Inhalten beziehungsweise Phänomenen in einem authentischen Kontext ermöglichen, die es erlauben, verschiedene Sichtweisen einzunehmen, um Wirklichkeitsausschnitte komplex zu erfassen.

Ein entscheidender Aspekt in der Umsetzung außerschulischer Lernvorhaben besteht darin, dass Lehrerinnen und Lehrer Schülerinnen und Schüler motivieren und unterstützen, über die Fachgrenzen hinaus zu denken und mithilfe fächerübergreifender Ansätze die Grenzen stark differenzierter, disziplinär strukturierter Wissenssysteme, mit anderen Worten: das Denken in Schubladen, zu überwinden. Dazu müssen Lehrende in der Lage sein,

•sich des spezifischen Gegenstands ihrer eigenen studierten Fächer bewusst zu werden und die Betrachtungsweisen anderer Fächer als Bereicherung wahrzunehmen,

•sich systematisch unterschiedliche außerschulische Lernorte aus der Perspektive verschiedener Fächer zu erschließen und ihre Potenziale für die unterrichtliche Nutzung zu erkennen,

•diese Lernorte für ihre Unterrichtskonzeption nutzbar zu machen und

•Schülerinnen und Schüler im Sinne der Entwicklung einer forschenden Grundhaltung beim Finden und Präzisieren von Fragestellungen und bei der Bearbeitung von Problemstellungen zu unterstützen.

Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, ist bereits während des Studiums eine entsprechende Vorbereitung der Lehramtsstudierenden in Theorie und Praxis erforderlich. Jedoch liegt noch keine ausgearbeitete Theorie zum fächerübergreifenden Unterricht an außerschulischen Lernorten vor. Diese erfordert die Verbindung separater didaktischer Konzepte – zum fächerübergreifenden Lehren und Lernen, zum außerschulischen Lernen sowie spezifischer fachdidaktischer Positionen –, die im Ergebnis zu einer theoretisch fundierten übergreifenden Didaktik zusammengeführt werden müssen.

Der Bedarf an einer theoretischen Fundierung und an praktischen Erfahrungen stellte den Ausgangspunkt des Projekts «Lernlandschaft Sachsen – Lernen attraktiv gestalten durch außerschulische Lernorte» dar.1 Es setzte sich zum Ziel, einerseits theoretische Ansätze zu formulieren und andererseits neue universitäre Formate für Lehrveranstaltungen zu entwickeln und zu erproben, die den Studierenden eine solide theoretische Grundlage für die multiperspektivische Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten an außerschulischen Lernorten bereitstellen und ihnen zugleich praktische Handlungs- und Erprobungsmöglichkeiten eröffnen. Dieses interdisziplinäre Projekt wurde getragen von den Fachdidaktiken Chemie, Deutsch, Geschichte und Physik an der TU Dresden. Die hierdurch gegebene Spannbreite führte zu einem ebenso herausfordernden wie weiterführenden Diskurs zwischen Geistes-, Kultur- und Naturwissenschaften. Die Komplexität dieses Prozesses zeigte, welche Anforderungen mit der Konzeption solcher Lehrveranstaltungen verbunden sind, die interdisziplinäre beziehungsweise auf Schulebene fächerübergreifende Kompetenzen fördern sollen. Konkret strebte das Projekt folgende Ziele an:

•die gemeinsame Entwicklung von fächerübergreifenden Theorieansätzen zur Integration außerschulischer Lernorte in schulisch verankerte Lehr- und Lernprozesse,

•die Beschreibung und Reflexion von Möglichkeiten der Nutzung außerschulischer Lernorte gemäß ihrer Fach- und Lernortspezifik,

•die Eröffnung fächerübergreifender Perspektiven an außerschulischen Lernorten und deren Reflexion in Zusammenarbeit mit angehenden Lehrerinnen und Lehrern im Hinblick auf schulische Lehr- und Lernprozesse und

•die Befähigung von Studierenden, Lernprozesse in Kooperation mit außerschulischen Lernorten in der Region attraktiver zu gestalten.

Ein weiteres Anliegen war es, ein Netzwerk von Lernorten in der Region Dresden sowie umliegenden Landkreisen aufzubauen und, damit verbunden, die Attraktivität möglicher späterer Einsatzorte in den ländlichen Regionen für Absolventen und Absolventinnen des Lehramtsstudiums zu erhöhen. Die Aktivitäten im Projekt haben dazu geführt, dass auch und insbesondere die Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer – teilweise entgegen ihren Erwartungen – festgestellt haben, wie anregend und vielgestaltig sich die regionale Bildungslandschaft mit ihren zahlreichen Einrichtungen präsentiert.

Die Erschließung der Potenziale spezifischer außerschulischer Lernorte für schulisch gebundenes fächerübergreifendes Lehren und Lernen stand im Fokus der universitären Lehrveranstaltungen. Daher wurde ein gut handhabbares Modell zur Beschreibung außerschulischer Lernorte entwickelt, das es erlaubt, diese zu charakterisieren, deren Möglichkeiten zu analysieren und die zugehörigen didaktischen Aufgaben von Lehrkräften zu beschreiben. Die Studierenden wurden mit seiner Hilfe befähigt, außerschulische Lernorte in der «Lernlandschaft Sachsen» – auch im ländlichen Raum – zu erkennen, kategorial (im Sinne von didaktischen Kategorien) einzuordnen, Möglichkeiten der Nutzung gemäß ihrer Fach- und Lernortspezifik zu reflektieren und Lernprozesse in direkter Kooperation mit außerschulischen Lernorten zu gestalten. Beispielhaft dafür wurden unter anderem Erkundungen des Albertinums (Staatliche Kunstsammlungen Dresden), des Mathematisch-Physikalischen Salons, des Erlebnislands Mathematik in Dresden und des Staatlichen Museums für Archäologie Chemnitz (smac) durchgeführt. Die Studierenden haben in der Auseinandersetzung mit den Nutzungskonzepten dieser Lernorte erfahren, dass die rein fachgebundene Bearbeitung schnell an die Grenzen der durch ein Fach vorgegebenen Perspektive stößt. Dabei kam es darauf an, sich der Rolle und Bedeutung der eigenen Fächer bewusst zu werden und zu erkennen, dass eine wirklichkeitsnahe und mehrdimensionale Erschließung der Lernorte fächerübergreifende Zugänge, das heißt die Einnahme anderer fachlicher Perspektiven und den bewussten Perspektivenwechsel, erfordern. Auf ihren eigenen Erfahrungen aufbauend, entwickelten die Studierenden Unterrichtskonzeptionen unter Einbeziehung eines außerschulischen Lernorts. Zusätzlich erhielten sie Gelegenheit zu erfahren, wie Schülerinnen und Schüler auf ihre Unterrichtskonzepte reagieren und welche Maßnahmen erforderlich sind, um Lernorte unterschiedlicher Ausprägung adäquat in den schulischen Unterricht einzubinden und dabei auch ganzheitliches Lernen zu fördern.

Dieses Studienbuch soll auf der Basis zentraler Ergebnisse des Projekts sowohl eine theoretische Grundlage als auch konkrete Hinweise für die Realisierung außerschulischer Lehr-Lern-Settings geben. Es richtet sich an Studierende, aber auch an Seminarleiterinnen und -leiter sowie an Lehrende. Demgemäß gehen in den verschiedenen Kapiteln theoretische Grundlagen und konkrete Beispiele Hand in Hand. Die geschilderten Beispiele beziehen sich auf konkrete Lernorte in und um Dresden, lassen sich aber – mutatis mutandis – auch auf andere Lernorte übertragen.

Im ersten Teil, Perspektiven für die Lernlandschaft, beschreiben wir zunächst den Stand der Entwicklung einer Didaktik des fächerübergreifenden Lehrens und Lernens an außerschulischen Lernorten, untergliedert in die Kapitel 2 Außerschulische Lernorte (Wiebke Kuske-Janßen et al.), 3 Fächerübergreifender Unterricht (Dorothee Wieser) und 4 Wissenschaftspropädeutik im Spannungsfeld von Fach und Fächerverbindung (Wiebke Kuske-Janßen). Der zweite Teil, Fächerübergreifendes und außerschulisches Lernen, stellt unter 5 Der Lernprozess als Bezugspunkt didaktischen Handelns (Manuela Niethammer) die zugrunde liegende Lerntheorie sowie die bei aller Verständigung zwischen den beteiligten Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern doch eher unterschiedlichen Sichtweisen und jeweils eigenen Schwerpunkte der einzelnen Fachdidaktiken dar: Zunächst 6 Potenziale der chemischen Fachperspektive für das fächerübergreifende Lernen an außerschulischen Lernorten (Manuela Niethammer, Josef-Tobias Wils). Es folgen: 7 Das Fach Deutsch im Kontext fächerübergreifenden Lernens an außerschulischen Lernorten (Dorothee Wieser); 8 Fächerübergreifendes historisches Lehren und Lernen an außerschulischen Lernorten (Robert Wilsdorf et al.) sowie 9 Fächerübergreifendes Unterrichten und außerschulische Lernorte aus Perspektive der Physikdidaktik (Gesche Pospiech, Wiebke Kuske-Janßen). Der besonderen Bedeutung der Sprache für die Vermittlung wird in einem eigenen Kapitel 10 Exkurs: Sprache im fächerübergreifenden Unterricht an außerschulischen Lernorten (Claudia Blei-Hoch) Rechnung getragen. Die so gelegten Grundlagen werden im dritten Teil, Gestaltung fächerübergreifenden Lernens an außerschulischen Lernorten, in Kapitel 11 Fächerübergreifendes Lernen an außerschulischen Lernorten – Herausforderungen für das didaktisch-methodische Handeln (Manuela Niethammer et al.) miteinander verbunden und mit konkreten Beispielen in unterschiedlichem Detailgrad untersetzt. Im abschließenden Teil, Projekterfahrungen und Praxisbeispiele, werden unter 12 Hochschuldidaktische Konzepte (Claudia Blei-Hoch et al.) universitäre Lehrveranstaltungskonzepte anhand konkreter Beispiele in verschiedenen Fächerkombinationen beschrieben, die in unterschiedlichen Konstellationen einsetzbar sind. In Kapitel 13 Beispiele studentischer Konzepte werden schließlich studentische Ergebnisse aus diesen Lehrveranstaltungen mit praktischen Beispielen und Umsetzungsplänen beschrieben. Zum Abschluss wird in Kapitel 14 Impulse zum Voranschreiten – der Weg ist das Ziel der Blick über die schulische Relevanz hinaus auf die regionale Einbettung außerschulischer Lernorte gerichtet. Wir hoffen, dass durch diese Anlage des Studienbuchs den Leserinnen und Lesern die systematische Erschließung von außerschulischen Lernorten, die Entdeckung ihrer Potenziale für das schulische Lernen sowie die Planung von konkreten Unterrichtssettings erleichtert wird.

Bedanken möchten wir uns bei unseren Kooperationspartnerinnen und -partnern, durch die wir viele Anregungen erhalten haben und die den Studierenden und uns in jeder Hinsicht neue Zugänge zu den außerschulischen Lernorten in Dresden und Umgebung eröffneten. Hier sind insbesondere zu nennen: Dr. Sabine Wolfram und Peter Degenkolb (Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz, smac), Claudia Schmidt, Dr. Michael Korey, Ramona Nietzold, Katrin Lauterbach, Linda Dietrich (Staatliche Kunstsammlungen Dresden) und Roland Schwarz, Holger Seifert sowie Silke Gabriel (Technische Sammlungen Dresden).

Das Studienbuch wäre aber auch nicht entstanden, wenn uns nicht Hanna Janßen, Tino Kühne und Oda Schlünz bei der Fertigstellung durch ihre aufmerksamen Lektüren der einzelnen Kapitel und die formale Finalisierung unterstützt hätten. Ein ganz besonderer Dank gilt schließlich Wiebke Kuske-Janßen, die den bei so vielen Autorinnen und Autoren nicht immer einfachen Entstehungsprozess stets umsichtig gelenkt hat.

Begegnungen mit der Wirklichkeit (E-Book)

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