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2.1Begriffsbestimmung: außerschulische Lernorte
ОглавлениеAußerschulisches Lernen, das heißt das Aufsuchen von Orten außerhalb der Schule, um neue und andere Lernmöglichkeiten zu eröffnen, ist kein neues Phänomen, sondern steht in einer langen schulpädagogischen Tradition: Bereits in der Aufklärung und Reformpädagogik lassen sich hierfür Ansätze finden, ihre Wurzeln liegen aber durchaus noch früher. Über die Epochen hinweg veränderten sich zwar die Begründungen für außerschulisches Lernen (vgl. Thomas, 2009); die Idee an sich aber hält sich bis heute und erfreut sich in jüngster Zeit erneut eines gesteigerten Interesses (vgl. Karpa et al., 2015a, 1 f.).
Der Begriff des außerschulischen Lernorts ist nach Erhorn und Schwier ein «schwer einzugrenzender Begriff mit eher verschwommenen Rändern» (2016, 7). Auch Sauerborn und Brühne (2014, 11) betonen diese Definitionsschwierigkeiten. Zu terminologischer Unklarheit führt darüber hinaus auch die Verwendung einer Anzahl unterschiedlicher Begriffe. «Außenlernort» (Kestler, 2015, 188), «externer Lernort» (Marquard et al., 2008, 72), «Lernen vor Ort» (Ackermann, 1988) und «Lernen außerhalb des Klassenzimmers» (Burk & Claussen, 1980, 5) sind in diesem Zusammenhang weitestgehend synonym gebrauchte Begriffskonstruktionen.
Wir verwenden im Folgenden die Formulierung «Außerschulischer Lernort» (ASLO) und definieren diesen in Anlehnung an Karpa et al. (2015b, 7 f.) als topografisch bestimmbare Lokalität jenseits des Schulhauses oder Schulgeländes, die über ein Potenzial für schulisch intendiertes und unterrichtlich geplantes Lernen verfügt. Die Identifikation und Erschließung des Potenzials eines außerschulischen Lernorts für das unterrichtliche Lernen hängt dabei entscheidend sowohl von der Lehrkraft, die den jeweiligen Ort nutzt, als auch den (organisatorischen) Rahmungen ab. Dieses Potenzial wird bestimmt durch
•(schul-)politische und organisatorische Rahmenbedingungen (z. B. geltende (rechtliche) Richtlinien, personelle Ressourcen, Schultraditionen, Erreichbarkeit, Öffnungszeiten sowie kostenseitige und zeitliche Möglichkeiten),
•am Lernort nutzbare (Lern-)Inhalte und Lerngelegenheiten beziehungsweise Erfahrungsräume,
•didaktische Überlegungen (siehe Kap. 11) und
•individuelle Faktoren (z. B. persönliche Kontakte und Affinitäten der Lehrenden, Interessen und Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler).
Gerade Lernorte mit einem pädagogisch-didaktisch aufbereiteten Bildungsangebot (primäre Lernorte, vgl. Münch, 1985) besitzen offensichtlich ein Potenzial für das unterrichtliche Lernen und bieten somit zahlreiche Möglichkeiten für eine Einbindung in den schulischen Unterricht. Ein Hauptanliegen ist dabei nach Thomas (2009, 284), Schülerinnen und Schülern «vor Ort Erfahrungen zu vermitteln, die in der Schule selbst nicht möglich sind». Damit wird auf das Sammeln von Primärerfahrungen abgezielt. Aber auch an Orten, die über kein didaktisches Bildungsangebot verfügen, wie beispielsweise Betriebe, Orte gesellschaftlichen Lebens, Naturschutzgebiete et cetera, können durch geeignete Strategien Potenziale zum Lernen erschlossen werden.
Pech (2008) betont, dass beim außerschulischen Lernen ein Ort nicht deswegen aufgesucht wird, weil er außerschulisch ist, sondern weil er als schulisch relevant bestimmt wurde. Er spricht deshalb auch von «schulischen Lernorten außerhalb der Schule» (ebd., 68; 71). Plessow (2015, 18) bezeichnet demgegenüber Orte, an denen Lernen ohne schulischen Bezug stattfindet, als schulkomplementär zu den in dieser Betrachtung gemeinten ausschließlich schulbezogenen Lernorten. Schulbezogene Lernorte sind alle Lernorte, die gezielt in die unterrichtliche Planung einbezogen und damit für den Schulunterricht nutzbar gemacht werden. Dazu sind auch solche Lernsettings zu zählen, bei denen die Lehrkraft aus einem Katalog von Angeboten ein fertiges, bereits an den Lehrplan angepasstes Angebot auswählt, das von der Museumspädagogik geplant und durchgeführt wird, da auch in diesem Fall Lernen den Rahmenbedingungen von Schule (z. B. den curricularen Vorgaben) untergeordnet wird. Schulkomplementäre Lernorte hingegen werden außerhalb eines schulischen Kontexts genutzt. Im US-amerikanischen Raum ist dies auch mit dem Begriff der free-choice experiences (z. B. bei Falk & Dierking, 2012) verknüpft, der zwar auch intrinsisch motiviertes und selbst reguliertes Lernen im schulischen Kontext meinen kann, sich aber vor allem auf Lernen in der Freizeit bezieht. Aufgrund des fehlenden schulischen Kontexts können diese Lernorte in unserem Sinne aber nicht als außerschulische Lernorte angesehen werden.
Theoretisch abzugrenzen von einem solchen Verständnis außerschulischen Lernens sind die folgenden Fälle:
•das häusliche Lernen, dem auch Hausaufgaben ohne expliziten Lernortbezug zuzurechnen sind,
•freiwillige Lernaktivitäten, die an außerschulischen Institutionen stattfinden, zum Beispiel Jugendarbeit oder Nachhilfe, und
•digitales Lernen, da das Internet (Cyberspace) zwar als virtueller Raum verstanden werden kann, jedoch nicht topografisch bestimmbar ist. Einen Sonderfall könnte in der Geschichtsdidaktik beispielsweise eine Erarbeitung mit Mitteln der Virtual Reality darstellen, bei der geschichtliche Räume virtuell erlebbar werden.
Kurz gefasst: Grundsätzlich kann jeder beliebige reale Ort zum außerschulischen Lernort werden, wenn er ein vor Ort verfügbares und erschließbares Potenzial für Lernprozesse besitzt und in unterrichtliche Lernprozesse eingebunden wird. Um mit Keck (1993, 148) zu sprechen: «Die Skala der Lernorte erstreckt sich auf die gesamte erreichbare Wirklichkeit.»
Bevor die Charakteristik außerschulischer Lernorte näher bestimmt wird, um Konsequenzen für die Planung und Durchführung schulischer Lehr-Lern-Settings unter Einbindung außerschulischer Lernorte differenzieren und ordnen zu können, wird zunächst der Stand der Forschung skizziert. In Reflexion der wissenschaftlichen Diskussion werden die Potenziale und Herausforderungen2 des außerschulischen Lernens systematisiert. Diese theoriegeleiteten Ausführungen werden anschließend durch die Auseinandersetzung mit Ergebnissen empirischer Studien ergänzt.