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3.2Lernen in Fächergrenzen: Notwendigkeit und Kritik
ОглавлениеSchulunterricht ohne Schulfächer, das ist zumindest für den Unterricht der Sekundarstufen kaum vorstellbar. So sehr der Unterricht in Fächergrenzen immer wieder in die Kritik gerät, so unabweisbar sind doch die Vorteile beziehungsweise sogar die Notwendigkeiten eines nach Fächern strukturierten Lernens in schulischen Kontexten. Tenorth (1999) differenziert verschiedene Funktionen von Schulfächern für den Wissenserwerb und für die Organisation des Lernens, von denen die folgenden drei zentral sind:
•«das Schulfach definiert die Form, in der Phänomene, Gegenstände und Probleme der außerschulischen Welt zu Inhalten schulischen Lernens werden können, und es ermöglicht erst die Engführung, die aus Inhalten Themen für das Lernen macht; […]
•Schulfächer sind daher als eigenständiger kognitiver Zugang zur Welt qualifizierbar; denn über das Schulfach wird nicht nur – sachlich – der Bezug zum Wissen und letztlich auch zu den Wissenschaften ermöglicht, sondern zugleich auch – personal – die Erschließung der Welt für den Lernenden eröffnet; […]
•Schulfächer [repräsentieren] auch die spezifische kulturelle Funktion von Schule: Sie überformen und validieren die Alltagserfahrung, führen in das historisch-gesellschaftlich geforderte und verfügbare Wissen ein – als systematische Einheit und zeitlich-sachliche Sequenz von Initiation und Reflexion.» (Tenorth, 1999, 192 f.)
Die Struktur der Schulfächer ermöglicht den Lernenden also einen kategorialen Zugriff auf die Welt und damit den Anschluss an eine wissenschaftliche Betrachtung der Phänomene, das heißt eine Neuordnung ihrer Alltagserfahrungen, und gibt diesem Zugriff eine geordnete Form. Zugleich ermöglichen Schulfächer die planbare Vermittlung gesellschaftlich notwendigen Wissens.
Neben diesen Ermöglichungsfunktionen der Schulfächer, die auch für die Lehrerbildung prägend sind, ist aber ebenso bedeutsam, dass die Schulfächer in den verschiedenen Schulformen stets Spiegel einer historisch-gesellschaftlichen Struktur sind. Mit der Konzeption und Ausrichtung von Schulfächern werden jeweils bestimmte bildungspolitische Ziele verfolgt. Sehr eindrücklich zeigt dies ein Vergleich von Elementarschulen und höheren Lehranstalten (Gymnasien) im 19. Jahrhundert:
«Während die einen [die Lehrpläne im Gymnasium, Anm. d. Verf.] sich in der letztlich wissenschaftspropädeutischen Funktion relativ früh um Fachgruppen und dann um Fächer konstituieren, die schon im frühen 19. Jahrhundert lehrplanförmig sichtbar werden, bildet sich der andere [der Lehrplan der Elementarschulen, Anm. d. Verf.] eher um Kulturtechniken, wie Schreiben, Lesen, Rechnen und um indoktrinierend-doktrinäre Wissensbestände, wie Religion oder staatsbürgerliche Erziehung. Sowohl in der Erwartung an den Schuleffekt – die Bildung und die Reife zum Studium bzw. die Erziehung, volkstümliche Bildung und soziale Kontrolle – wie in den explizit-impliziten Konstruktionen der Adressaten – ‹bildungsfähig vs. erziehungsbedürftig› – unterscheiden sich Institution und Curriculum eindeutig.» (Tenorth, 1999, 197; vgl. auch Criblez & Manz, 2015)
Schulfächer sind keine verkleinerten Abbilder des wissenschaftlichen Fächersystems (vgl. Duncker, 1997, 125), sondern sie stellen historisch gewachsene und sich stetig verändernde Wissenssammlungen dar, die neben der Orientierung an den Wissenschaften auch utilitaristischen Zwecken folgen: «Schule war und ist aber immer auch eine Institution, über die gesellschaftliche Probleme bearbeitet werden sollen und in der das künftige Personal der Wirtschaft qualifiziert werden soll. Schulisches Wissen wird deshalb zwar nicht nur, aber immer auch funktional bestimmt: vom Nutzen für Gesellschaft und Wirtschaft her» (Criblez & Manz, 2015, 205). Die Ordnung der Fächer ist deshalb auch hierarchisch strukturiert (vgl. Tenorth, 1999, 196; Oelkers, 2004, 202), und Schulbücher spiegeln den jeweiligen Stand der Sammlung und sichern die geregelte Vermittlung (vgl. Oelkers, 2004).
Das Verdienst von Schulfächern für die unterschiedlichen Formen der Welterschließung und des strukturierten Lernens steht außer Frage. Problematisch erscheinen Schulfächer dann, wenn aus dem Blick gerät, dass sie «Raster für die Wahrnehmung der Wirklichkeit» (Duncker, 1997, 123) darstellen, wenn also die historisch-kulturell bedingte Ordnung und die dadurch bedingten Wahrnehmungsgrenzen von Lehrenden und Lernenden nicht reflektiert werden (vgl. Tenorth, 1999, 199). Dies gilt aber nicht nur aus einer wissenschaftspropädeutischen und erkenntnistheoretischen Perspektive heraus und somit nicht nur für die Frage, welche Erkenntnisse durch die Raster der Fächer möglich werden und wo blinde Flecken entstehen. Auch aus bildungstheoretischer Perspektive erweist sich das (gegenwärtige) vorrangig an den Wissenschaften ausgerichtete schulische Fächersystem als begrenzt:
«Als Konsequenz der Spezialisierung und Ausdifferenzierung von Wissenschaften der Moderne sind Erkenntnisanspruch und Bildungsambition, Forschungsinteressen und Handlungsbezug der Wissenschaften unumkehrbar auseinandergetreten. Die Kriterien der Wissenschaftlichkeit sind nicht mehr uno actu als Kriterien der gesellschaftlichen Orientierung, sozialer Verantwortung und individueller Persönlichkeitsbildung zu entfalten und zu begründen. Von Bildungsansprüchen aus führt andererseits auch kein gerader Weg mehr zur Ordnung der Praxis von Wissenschaften.» (Tenorth, 1999, 201)
Die Kritik an den Schulfächern ist folglich zum einen auf verschiedenen Ebenen zu verorten – «lebensweltlich wie wissenschaftstheoretisch, didaktisch wie gesellschaftstheoretisch und geschichtlich» (ebd.) –, zum anderen ist die Diskussion um die Fächerstruktur der Schule trotz ihrer langen Geschichte keineswegs beendet, sondern wird im Gegenteil mit immer neuen Fragen konfrontiert. Einige dieser Entwicklungen im Kontext der gegenwärtigen Wissensgesellschaft, aus denen sich Fragen bezüglich der schulischen Fächerordnung ableiten lassen, sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden.