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3.4.1Ziele und Begründungen fächerübergreifenden Unterrichts
ОглавлениеFächerübergreifender Unterricht wurde und wird immer wieder gefordert, in den Erziehungswissenschaften und den Fachdidaktiken intensiv diskutiert und natürlich vor allem in unterschiedlichen Schulformen von Lehrenden erprobt. Von einer breit geteilten theoretischen und konzeptionellen Fundierung kann hingegen nur bedingt gesprochen werden (vgl. Labudde, 2009, 335; Henkel, 2013, 70). Es lassen sich aber zentrale Begründungen festhalten, die im Zusammenhang mit dem fächerübergreifenden Lernen immer wieder angeführt werden (vgl. Labudde, 2009, 333).
Als ein erstes Ziel sind das Aufbrechen und Reflektieren der durch die Schulfächer gesetzten Grenzen des methodischen wie thematischen Zugriffs auf Phänomene zu nennen:
«Es sind die Grenzlinien der Schulfächer selbst, die im fächerübergreifenden Lernen mitthematisiert werden können und die als Zusatzthema zu den Inhalten, die in oder zwischen den Fächern liegen, aufgreifbar sind. Insofern enthält fächerübergreifendes Lernen den Anspruch, die Ordnungen der Themen und deren Rückwirkung auf die Lerninhalte zu reflektieren und daraus Einsichten in die Gliederungen der Welt im Spiegel von Schulfächern zu gewinnen.» (Duncker, 1997, 119, Hervorh. im Orig.)
Mit dem fächerübergreifenden Unterricht wird angestrebt, «gewohnte Sichtweisen aufzubrechen und zu erweitern» (ebd., 126). Dabei soll (zumindest in einem ersten Schritt) auch wieder stärker an die Alltagserfahrung der Lernenden angeknüpft werden, die in der Regel nicht schon fachlich vorstrukturiert ist (vgl. ebd.).
Die fächerübergreifende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Schlüsselproblemen ist ein zweites Ziel, das an das didaktische Konzept von Wolfgang Klafki anschließt:
«Angesichts der Tatsache, dass gesellschaftliche Problemlösungen nicht allein in fachspezifischen Expertisen begründet sein können, da gesellschaftliche Schlüsselprobleme, wie z. B. die Umweltfrage, die Frage nach kulturellen Differenzen, das Friedensproblem oder die Bekämpfung von Krankheiten, zu komplex, zu variabel und zu vielschichtig für rein fachliche Lösungen sind, müssen diese aus verschiedenen, miteinander zu vernetzenden Blickwinkeln betrachtet werden […]. Kritische Urteilsfähigkeit gegenüber einem komplexen Phänomen kann nur entstehen, wenn sich die Lernenden in Distanz zum Fachlichen setzen und das ins Auge gefasste Phänomen aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln betrachten und dessen Ergebnisse miteinander vernetzen und abwägend beurteilen.» (Moegling, 2012, 87, Hervorh. im Orig.)
Auch wenn durchaus kritisch diskutiert werden muss, was als Schlüsselproblem bestimmt werden kann beziehungsweise soll (vgl. Golecki, 1999, 23), ist die Notwendigkeit einer transdisziplinären oder zumindest mehrperspektivischen, das heißt einer verschiedene fachliche Zugänge vergleichenden und abwägenden Auseinandersetzung mit den komplexen Herausforderungen unserer Gesellschaft ohne Zweifel auch schon in der Schule anzubahnen.
Insbesondere mit Blick auf die gymnasiale Oberstufe wird schließlich als drittes Ziel des fächerübergreifenden Unterrichts eine zeitgemäße Wissenschaftspropädeutik genannt. Die Schülerinnen und Schüler sollen dazu befähigt werden, «sowohl im Rahmen einer selbstgewählten Spezialisierung in elementarer Form gemäß den Methoden und Gütekriterien selbst wissenschaftlich zu arbeiten […] als auch an dem Austausch und der Verständigung zwischen unterschiedlichen ‹Fachkulturen› und mit Nichtexperten teilzunehmen» (ebd., 30 f., Hervorh. im Orig.). Dies setzt ein Bewusstsein der «fachspezifische[n] Konstruktion von Wirklichkeit» und auch der «historischen, sozialen, ökonomischen und philosophischen Bedingtheiten der Wissenschaften» (ebd., 31) voraus.
Dabei herrscht eine grundlegende Einigkeit darüber, dass sich Fachunterricht und fächerübergreifender Unterricht ergänzen müssen (vgl. Kranz, 2013, 41): «Fachunterricht ohne fächerübergreifenden Unterricht bleibt fragmentarisch, fächerübergreifender Unterricht ohne Fachunterricht steht auf tönernen Füßen» (Labudde, 2009, 331). Dies betont auch Moegling (2012): Fachunterricht und fächerübergreifender Unterricht «sollen allerdings nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern es soll die historische und kulturelle Bedeutung des Disziplinären, des zu den Fächern Geordneten anerkannt werden, die Fachlichkeit [soll] häufig sogar als Ausgangspunkt fachlicher Überschreitung angesehen werden» (ebd., 85; vgl. auch Tenorth, 1999, 205).
Dies gilt es auch mit Blick auf die aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen zu bedenken: Die Einführung der Bildungsstandards und die bildungspolitische wie wissenschaftliche Fokussierung auf die in den Fächern zu erwerbenden Kompetenzen scheinen die eben entfalteten Perspektiven und Zielsetzungen des fächerübergreifenden Unterrichts zu vernachlässigen (vgl. Moegling, 2012, 82 f.). Dies gilt es kritisch zu verfolgen, wobei die Funktion der Bildungsstandards berücksichtigt werden muss: Sie beziehen sich auf die Kernbereiche des jeweiligen Fachs und wollen das Erreichen dieser als zentral erachteten Kompetenzen sichern. Sie stehen somit dem fächerübergreifenden Lernen nicht entgegen (vgl. Henkel, 2013, 70), lassen aber die Diskussion der Ziele und Realisierungsmöglichkeiten fächerübergreifenden Unterrichts umso notwendiger erscheinen.