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3.3Notwendigkeit transdisziplinärer Forschung in der Wissensgesellschaft

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«Beobachter», so Knorr-Cetina (2002), «sind sich heute größtenteils dahingehend einig, dass westliche Gesellschaften in dem einen oder anderen Sinn durch Wissen bestimmt werden» (ebd., 15). Auch wenn der Begriff der Wissensgesellschaft aufgrund der terminologischen Unschärfen und auch des sehr positivistischen Wissensbegriffs, der die sozialen Entstehungszusammenhänge von Wissen ausblendet, kritisiert wird (vgl. Knorr-Cetina, 2002, 18; Knoblauch, 2010, 261 f.), ist doch relativ unbestritten, dass die Entstehung und Nutzung von Wissen in der Gegenwart massiven Veränderungen unterworfen ist.

So hat sich zum Beispiel die Zugänglichkeit von Wissen durch das Internet stark verändert. In dieser Entwicklung wird, beispielsweise mit Blick auf Wikipedia, auch eine Demokratisierung des Wissens gesehen, da das Verfügen über Wissen nicht mehr an Geld und Macht gebunden ist. Allerdings ist die Vorstellung einer Demokratisierung des Wissens wohl zu relativieren, da sich das Machtgefüge nur verschoben hat: Es geht zunehmend weniger um den Zugang zu Informationen, sondern vielmehr um das Gewinnen von Aufmerksamkeit für neues Wissen auf der Seite derjenigen, die das Wissen verbreiten, und um Strategien der Filterung von Wissen aufseiten derer, die es nutzen:

«Entsprechend ambivalent kann man die Auswirkungen der allseitigen Verfügbarkeit von Informationen auf die demokratische und offene Gesellschaft betrachten. Einerseits wird Wissen durch seine Verfügbarkeit im Internet allgemein zugänglicher: Nicht nur Eliten haben Zugang zu Forschungsergebnissen, sondern auch immer weitere Teile der Bevölkerung. […] Auf der anderen Seite – und darüber kann auch die Open-Access-Bewegung nicht hinwegtäuschen – werden aber Techniken zur Systematisierung und Filterung von Wissen aufgrund der Informationsfülle immer wichtiger.» (Christoph, 2016, 27)

Neben dem Umgang mit der Wissensflut ist zudem der Umgang mit dem Nicht-Wissen und der Bewertung von Risiken, die sich aus den sich rasant vermehrenden Forschungsergebnissen ergeben, eine Herausforderung der gegenwärtigen Wissensgesellschaft (vgl. Stehr, 2003, 7). Die Risiken der Forschung, zum Beispiel im Bereich der Gentechnik oder der künstlichen Intelligenz, werden zu einem neuen Gegenstand der Forschung, die als «reflexive Verwissenschaftlichung» bezeichnet wird (Knoblauch, 2010, 285). Die Abschätzung solcher Risiken kann aber nicht aus der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin heraus erfolgen, sondern erfordert transdisziplinäre Kooperationen. Als ebenso notwendig erweisen sich transdisziplinäre Kooperationen bei der Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Problemfeldern. Dabei zeigt sich, dass

«die heute hoch spezialisierten wissenschaftlichen Disziplinen angesichts drängender und überaus komplexer Problemfelder wie etwa Multikulturalität, Ökologie und Gentechnologie natürlich nicht verzichtbar [sind], aber eine rein fachliche Gliederung des Wissens und damit einhergehende Spezialisierungen […] so umfassende Probleme nicht mehr bewältigen [können]» (Paule, 2014, 828).

Das Gelingen transdisziplinärer Kooperationen ist jedoch keineswegs gewiss, und zwar nicht nur aus organisatorischen Gründen, sondern vor allem aufgrund der Schwierigkeiten, die sich aus der notwendigen Integration der Forschungsperspektiven ergeben:

«Ein grundsätzliches Defizit entsprechender Forschungsprojekte besteht demnach darin, dass es den Beteiligten häufig nicht gelingt, die notwendige Integrationsleistung zu erbringen. Stattdessen verbleiben Projekte mit einem inter- oder transdisziplinären Anspruch zu oft auf der Ebene der Multidisziplinarität, auf der verschiedene disziplinäre Ansätze lediglich nebeneinandergestellt werden und jeder Teilnehmer sein ‹eigenes Süppchen› kocht […].» (Waag, 2012, 28)

Die zunehmende Ausdifferenzierung der Forschungsdisziplinen erschwert die Verständigung und die Zusammenführung der Perspektiven. Nicht nur die jeweiligen Fachsprachen erweisen sich hier als Verständigungshemmnis; die wissenssoziologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat darauf aufmerksam gemacht, dass die jeweiligen Forschungsgemeinschaften von spezifischen Wissenskulturen geprägt sind, die bestimmen, wie Wissen erzeugt, wie es kommuniziert und bewertet wird:

«Eine Wissensgesellschaft ist nicht nur eine Gesellschaft von mehr Experten, mehr technologischen Spielereien oder mehr Spezialistenmeinungen. Sie ist vor allem eine Gesellschaft von Wissenskulturen, also der ganzen Bandbreite von Strukturen, Mechanismen und Arrangements, die der Erzeugung des Wissens dienen und sich mit ihnen artikulieren.» (Knorr-Cetina, 2002, 18) Soll transdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen, ist es also notwendig, diese Wissenskulturen zu reflektieren und die blinden Flecken der eigenen und fremden Forschungszugänge aufzudecken. Golecki formuliert mit Blick auf den schulischen Unterricht schon 1999, dass eine «wohlverstandene» Wissenschaftspropädeutik in der gymnasialen Oberstufe «mit einer Offenheit und Neugier auch für andere Bereiche und Perspektiven, mit einer gegenseitigen Sensibilisierung und einem Bewusstsein der Begrenztheit und der Ergänzungsbedürftigkeit des eigenen Fachs, mit der Fähigkeit und der Bereitschaft zu einem Diskurs mit Vertretern anderer Fachrichtungen und auch mit Laien» (ebd., 28 f.) verbunden sein müsse. Damit ist angedeutet, dass Schule – und keineswegs nur in der gymnasialen Oberstufe – sich den gegenwärtigen Herausforderungen der sich wandelnden Wissensgesellschaft stellen muss. Fächerübergreifender Unterricht kann hier eine, wenn auch sicher nicht die einzige Antwort sein.

Begegnungen mit der Wirklichkeit (E-Book)

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