Читать книгу IXXI - Doug Mechthild - Страница 17
Sophias Geschöpf
Оглавление„Bedroom ... bathroom ... attic ... hall ...“ Steffi zog die Stirn kraus. Schon wieder hatte sie „bathroom“ und „bedroom“ verwechselt. Blöde Sprache! Sie zuckte heftig zusammen, als sie ein Geräusch an der Tür hörte. Ein Kratzen und Schaben. Dann öffnete sich ihre Zimmertür, und Andy kam rein, ohne zu klopfen. Er hatte etwas in der Hand. Eine Rolle aus dickem Papier. Noch ehe Steffi erkannte, dass es ihr „One Direction“ Poster war, das außen an der Tür hing, war Andy schon zu ihrem Bett gegangen, hinaufgeklettert und nun zerrte er entschlossen ihr Poster mit dem Robbenbaby von der Wand!
„Hey! Was machst du denn da!“ Entsetzt sprang Steffi ebenfalls auf ihr Bett, und packte ihn am Arm. Aber Andy achtet nicht auf sie. Er riss beide Poster in Fetzen und machte mit den kleineren Bildern von Pia Lindemann und Zayn Malik weiter.
„Andy! Was soll denn das! Hör auf! Hey!“ Mit beiden Händen versuchte Steffi, ihn am Zerreißen ihrer Fotos zu hindern. Andy hatte sich ihrer Pinnwand zugewandt und verwandelte die Urlaubsbilder von Luke, ihrer ersten Liebe aus Wales, zu Konfetti. Gegen Andy hatte die zarte Steffi keine Chance. Er machte einfach weiter, ohne auf ihren Protest zu achten. Er hörte nicht mal auf, als er seiner Schwester versehentlich auf den Fuß trat. Selbst ihr erschrockenes “Aua“ störte ihn nicht.
Steffi sprang zurück auf den Boden und sank schluchzend auf den mit Krümeln übersäten Teppich. Klagend strich sie über die zerstörten Poster und Fotos.
Sie ließen sich nicht ersetzen. Denn Luke hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen und der Kontakt war abgebrochen.
„Hey, meine Kleine, weine nicht“, sagte Andy mit weicher Stimme und setzte sich neben sie. „Ich kann dir das erklären. Ich habe es nur zu deinem Besten gemacht.“
„Hä? So ein Quatsch!«, rief Steffi. „Was soll das denn!“
„Du darfst dir nicht Bilder von irgendwelchen Jungs ansehen. Du wirst dich verlieben und an unmoralische Dinge denken. Das macht dich anfällig für Gleichaltrige, die sowieso nur das Eine von dir wollen.“, erklärte Andy und riss die Poster sorgfältig in kleine Stücke. „Und so entstehen Babys.“
„Ach, so ein Scheiß!“, rief Steffi. Andys mitleidiges Gesicht verfinsterte sich und er schlug seiner kleinen Schwester über den Mund. Nicht sehr fest, aber spürbar.
Steffi stieß einen entsetzten Schrei aus und wich zurück.
„Ich kann es nicht dulden, dass du so über Gottes Gesetze redest“, erklärte Andy ruhig. »Die sind Gottes größtes Geschenk an die Menschheit, und wir müssen seine Worte befolgen, um diesen Planeten zu retten. Ich könnte es nicht ertragen, dass du zur Hölle fährst. Du kannst dich noch retten.“
„Hölle ... hä ... was ...?“
„Ich war auch erst so verwirrt.« Andy lachte. »Hör zu, Kleines. Ich weiß ja, dass du dich nur schwer auf etwas konzentrieren kannst. Also erzähle ich dir das
Wichtigste. ‚Guidelines for a new World‘ ist eine sehr schöne Sicht der Dinge. Wusstest du, dass Tierquälerei darin verboten ist?“
Steffi schaute ihren Bruder verdutzt an. „Echt? Das ist ja cool!“
„Ja. Es steht darin geschrieben, dass Tierquäler von Gott verflucht sind. Du siehst also, dass diese Ansicht gut ist. Der Katholizismus, der Tieren keine Seele zugesteht und zum Thema Tierquälerei gar nichts sagt, könnte sich da mal eine Scheibe von abschneiden, oder? Du weißt, wie schlimm es beispielsweise in Spanien ist. Deswegen machen wir doch nie Urlaub da. Weil du das nicht willst.“ Andy legte Steffi behutsam den Arm um die Schultern. Sie wehrte sich nicht.
„Schon ... das ist toll, ... aber ... Also, ich finde, ich muss mich nicht vor den Männern verstecken.“
Andys Gesicht verhärtete sich unmerklich, aber seine Stimme blieb liebevoll.
„Das schützt dich und bewahrt dir deine Würde. Im Buch steht, dass eine Frau sich vorsehen soll, nicht die Aufmerksamkeit eines Mannes zu erwecken.“
„Ich will mich auch nicht verstecken. Wieso soll ich auch? Die Männer könnten ja weggucken, wenn ich die so antörne.“
Andy presste kurz die Lippen zusammen.
„Nun, fangen wir erst einmal klein an, okay? Keine Bilder von Jungs mehr, kein Fleisch und keine tiefen Ausschnitte, keine kurzen Röcke.“
„Äh, ich mag kein Fleisch. Schon vergessen? Ich esse keine Tiere. Aber konvertieren will ich nicht, davon habe ich nichts gesagt.“ Ihr Blick fiel auf ein weiteres Häufchen Papier, und sie brach wieder in Tränen aus.
„Du hast ja auch unsere Bilder aus Dänemark zerrissen!“
„Keine Fotos mehr mit Jungs darauf!«
„Da ist doch nur Strand drauf!“
„Da sind ein paar männliche Gestalten im Hintergrund, siehst du?“
„Aber ...«
„Nein, Steffi. Wenn du irgendetwas aufhängst, auf dem Männer abgebildet sind, werde ich es kaputtmachen. Fertig, Punkt. Verstanden?“
„Du hast gar kein Recht ...“
„Ich bin dein großer Bruder. Ich trage Verantwortung für dich.“
„Und Mama?“
„Ha!“ Andy schnaubte verächtlich, „die hat von Verantwortung ja noch nie etwas gehört!“
„Es ist mir egal, ob du mein großer Bruder bist, ich kann machen, was ich will!«, rief Steffi.
„Ja, genau das ist es, was in diesem Land falsch läuft!“, brüllte Andy. Steffi zuckte zusammen.
„Jeder denkt, er könne machen, was er will! Es ist aber nicht so! Gott hat uns sehr genau gesagt, was wir machen dürfen und was nicht! Und ich werde nicht zusehen, wie du Gottes Willen mit Füßen trittst, hörst du? Glaubst du denn, ich würde dich eines Tages in der Hölle schmoren sehen wollen?“
„Hölle ...? Das ist doch alles Quatsch! Himmel! Hölle! So etwas gibt es nicht!“, schrie Steffi zurück.
Andy zog sie heftig in seine Arme und hielt sie fest, obwohl sie sich wehrte.
„Nein, Steffi, nicht doch, nein ... schhh ... beruhige dich. Du bist verwirrt ... niemand hat sich um deine geistigen Bedürfnisse gekümmert ... es ist nur natürlich, dass das alles für dich neu ist ... klar, dass du Angst hast ... das ist zu viel auf einmal ...“
Steffis Widerstand erlahmte. In den Überresten ihrer Bilder kniend, weinte sie in den Armen ihres völlig veränderten Bruders. Sie verstand überhaupt nichts mehr.
„Deine Religion ist doch voll rückständig! So will ich nicht leben“, jammerte sie.
Andreas streichelte beruhigend ihren Kopf.
„Das ist nicht rückständig, im Gegenteil. Du hast Verpflichtungen in deinem Leben. Denen du gerecht werden musst. Dein Leben wurde dir nicht als endlose Party geschenkt.“
„Was soll das denn heißen?“, schniefte Steffi.
„Gott hat uns gesagt, dass wir diesen Planeten nicht erhalten haben, um ihn zu vernichten. Und wir wurden nicht darauf platziert, um unserem eigenen Willen zu gehorchen. Wir sind spirituell nur Kinder und brauchen Anleitung. Sieh doch, was Ma… Menschen tun. Sie fressen, vermehren sich und zerstören weiterhin alles. Sie kümmern sich nicht um den, der ihnen all das hier geschenkt hat. Ist das vielleicht recht?“
„Nein, aber…“
„Gott ist real. Die Menschen haben ihn immer falsch verehrt. Sie führten Kriege in seinem Namen und brachten sich gegenseitig um. Moslems, Juden, Christen, sogar Buddhisten … alle beten auf ihre Weise zu demselben Gott, aber trotzdem hassen und bekämpfen sie sich. Wie dumm das doch ist! Gott, der echte und wahre Gott, wird all das Unrecht wiedergutmachen. Wenn er endlich kommt, wird er alle vereinen. Aber bis dahin müssen wir aufhören, solche Betonköpfe zu sein.“
„Woher weißt du denn, dass dein Gott der richtige ist?“
„Anton hat ihn mir gezeigt. Er gab mir sein Buch. Es steht so viel Weisheit darin! Er hat mich zu einem Treffen mitgenommen. Die Männer dort sind so nett, dort sind alle Brüder!“
„Keine Frauen?“
„Die Frauen beten woanders. Es soll nicht dazu kommen, dass Männer und Frauen sich gegenseitig in Versuchung führen.“
„Und die Kinder?“
„Kinder gibt es dort nicht. Alle sind über zwölf Jahre alt, das Alter, in dem man beitreten kann.“
„Aha.“
„Es herrscht so eine herzliche Atmosphäre. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich habe dort zum ersten Mal gespürt, was Geborgenheit ist.“
„Ist ... ist es denn so schlimm hier bei uns?“, warf Steffi zaghaft ein.
Andy kam blinzelnd zurück in die Realität von Steffis nun recht kahlem Zimmer.
„Schlimm? Nein, schlimm ... so würde ich das nicht sagen. Aber das hier ist kein Heim. Wann war das letzte Mal, dass wir alle als Familie etwas gemacht haben? Wir essen ja nicht mal zusammen.“
„Ist das denn ein Grund, seine Religion zu wechseln?“, fragte Steffi irritiert und strich sich eine wirre Strähne aus dem Gesicht.
„Wechseln?“, höhnte Andy, „wir sind doch nie religiös gewesen! Wann hätte uns unsere Mutter je von Ethik oder Moral etwas erzählt? Die Zehn Gebote habe ich zum ersten Mal im Religionsunterricht gehört, und da war es schon fast zu spät. Daniel Peters ist ein guter Mann und ein prima Lehrer. Ohne ihn wüsste ich überhaupt nichts über Religion. Er hat sich damals gut um uns gekümmert. Er kommt so oft hier zu Besuch und verbringt Zeit mit uns, weil wir ihm am Herzen liegen. Von ihm haben wir etwas erfahren, vorher nicht. Nur erzählt er unwissentlich lediglich Blödsinn, wie alle Christen. Selbst die Bibel ist nämlich verfälscht worden.“
„Ja? Ach ...“, murmelte Steffi.
„Ja. Das Kommen von Gott. Gott selbst wird dort völlig falsch dargestellt. Es ist nämlich so, dass die allmächtige Göttin Sophia Jahwe geschaffen hat. Und der hat diese Erde erschaffen und die Engel und auch uns Menschen. Aber er ist ein böser Gott, der die Menschen einsperrte und unwissend hielt. Ein Drittel der Engel hielt das nicht mehr aus und rebellierte. Der Größte unter ihnen, Luzifer, versuchte die Menschen aufzuwecken. Dafür wurden er und seine Engel auf die Erde geworfen. Seit Jahrtausenden versuchen Luzifer und seine Engel, Jahwe zu besiegen und den Himmel zu erobern. Das wird der Tag unserer Befreiung sein!“
„Luzifer! Aber das ist doch der Teufel!“
„Da siehst du, welchen Blödsinn man dir immer eingetrichtert hat. Es ist genau umgekehrt. Luzifer ist Gott. Und er ist der Gute.“
„Aha.“ Steffi zwirbelte die Haarsträhne.
Andy musterte sie scharf, sah, dass ihre Aufmerksamkeit mal wieder abschweifte, und nickte.
„Schon gut. Für heute reicht das. Häng einfach keine Bilder mehr auf, okay? Und ich, ich muss jetzt beten. Es wird Zeit.“
„Du ... du bist schon richtig konvertiert und so?“, fragte Steffi und sah ihren Bruder mit einer Mischung aus Neugier und Unverständnis an.
„Ja. Ich bin mit Anton im Tempel gewesen ... und es war unvergleichlich.“
„Hm.“
„Wir reden morgen weiter“, erwiderte Andy, zwinkerte seiner kleinen Schwester zu und schloss die Tür.
Wenig später öffnete er sie wieder und warf ihr einen Müllbeutel zu.
„Ach, übrigens, Skulpturen weiblicher Reproduktion sind auch verboten“, erklärte er und wies auf Steffis Pferdeporzellanfigur, die in ihrem Regal stand. Es war ein Abschiedsgeschenk von Anja gewesen, weil Steffi Anni, Anjas Pferd, nach ihrem Umzug nicht mehr sehen konnte.
Andy warf die hübsche kleine Figur heftig auf den Boden. Sie zerbarst in tausend Scherben. Steffi fuhr zusammen und starrte ihrem Bruder, der leise summend die Tür schloss und sich entfernte, verständnislos hinterher.
Sie schluckte schwer und klaubte die Reste ihrer Bilder und die Porzellanscherben zusammen. Sie warf sie in den Müll, während ihr Bruder nebenan zu Luzifer betete.