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Martina und Gila

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Normalerweise mochte es Martina, wenn ihre Freundin Gila herüberkam, nur geschah das etwas zu oft in letzter Zeit. Ein ruhiger Abend auf der Couch mit einem Buch wäre ihr lieber gewesen. Allerdings tat es gut, mit ihr über ihren Sohn zu reden. Martina spürte eine immer größer werdende Distanz zwischen sich und Andreas.

„Ich verstehe Andy nicht mehr“, seufzte Martina.

„Weiß er denn, wie das damals mit dir und Hans war?«, fragte Gila leise und zog die Beine bequem auf die Couch. „Ich meine, dass Hans sich komplett von dir zurückgezogen hatte.“

„Ach was. Das erzählt man doch seinen Kindern nicht!“

„Er ist doch jetzt erwachsen! Der macht eine Lehre als Maler und Lackierer, bald zieht er aus, und irgendwann heiratet er seine Jana. Meinst du nicht, er hat ein Recht darauf zu erfahren, dass sein Vater unter Depressionen gelitten und sich von allen zurückgezogen hat? Er wundert sich doch, dass Hans sich nie meldet. Oder nicht?“

„Das schiebt er auf mich. Weil ich Hans angeblich aus dem Haus gegrault habe. Zuerst mit den vielen Streitereien und dann, weil ich ein Kind von einem anderen bekommen habe.“

„Ein Grund mehr, ihm alles zu erzählen. Warum willst du, dass dein Sohn dir innerlich ewig die Schuld an eurer Trennung geben wird?“

„Das tut er ohnehin. Die Wahrheit kann ich ihm einfach nicht sagen!“

„Mensch Martina!“ Gila nahm kopfschüttelnd noch einen Schluck Wein. „Wieso solltest du ewig der Sündenbock bleiben? Andy wird zu dir den Kontakt auch noch abbrechen, wenn du ihm nicht sagst, dass in Wirklichkeit sein früherer Lehrer Steffis Vater ist.“

„Soll ich ihm vielleicht sagen, dass ich mit seinem geliebten Religionslehrer ein Verhältnis gehabt habe, weil sein Vater mich nicht mehr wollte und unser Geld in diverse Spielautomaten geschmissen hat? Dass wir nur noch nebeneinander hergelebt haben? Dass ich mich allein und nicht mehr begehrt gefühlt habe? Als ob mich keiner mehr will, bis zu diesem Elternsprechtag?“

„Das ist immer noch besser, als dass er gar nichts weiß.“

„Zu spät. Ich habe ihm weisgemacht, dass ich einen One-Night-Stand in einer Kneipe hatte. Klingt doch auch viel interessanter.“ Martina goss sich und ihrer Freundin Gisela, genannt Gila, noch Wein nach.

Gila verzog zweifelnd das Gesicht. „Na, ich weiß ja nicht ...“

„Es ist besser so. Und Daniel kann seine Frau doch nicht verlassen! Sie sitzt jetzt im Rollstuhl. Diese Krankheit ist wirklich furchtbar. Ich rechne es ihm hoch an, dass er sich um sie kümmert. Dass wir zusammen sind, muss die Ärmste ja auch nicht wissen, das wäre noch schlimmer für sie.“

„Also trefft ihr euch weiterhin heimlich?“

Martina zuckte mit den Schultern. „Was bleibt uns anderes übrig? Solange Vera lebt, werden wir sie nicht verletzen. Das haben wir so verabredet, daran halten wir uns. Danach ... Schscht!“

„Hi.“ Andy kam die Treppe herunter, und winkte der besten Freundin seiner Mutter kurz zu.

„Hallöchen, Andy. Möchtest du auch Wein?“

Andy schüttelte heftig den Kopf. „Nein.“

„Nein danke, heißt das“, schnaubte Martina und sah ihren Sohn vorwurfsvoll an. Der achtete nicht darauf und starrte in den Kühlschrank.

„Mit Wein kann er eh nichts anfangen. Das ist ein richtiger Mann, der trinkt Bier“, grinste Gila. „Oder, Andy?“

Langsam drehte sich Andreas um, musterte Gila, die er seit frühester Kindheit kannte, und wandte betont den Blick ab.

„Ich trinke kein Bier“, knurrte er, nahm sich einen Becher Kakao, und stieg die Treppe wieder herauf, ohne sich noch einmal umzusehen.

„Kommt der jetzt erst in die Pubertät? Dass Steffi langsam bockig wird, ist normal, sie ist ja dreizehn. Aber Andy...? Kommt das bei Jungs später oder so?“, fragte Martina irritiert.

„Nein, Jungs zicken nicht so rum. Was hat der denn? Man könnte meinen, er war pikiert, weil ich einen Rock anhabe. Ich trage doch öfters Röcke. Oder bekomme ich langsam Krampfadern? Ist es nicht gemein, dass man immer so einen Scheiß kriegt, wenn man über vierzig ist?“

„Hat er dir wirklich auf die Beine gestarrt?“

„Ja! Aber leider nicht so, wie ich das gerne hätte“, lachte Gila. „Er guckte, als ob mir da gerade eine riesige Spinne darüber laufen würde. Irgendwie entsetzt und angeekelt.“

„So hat er heute auch geguckt, als ich ihm das mit dem One-Night-Stand in der Kneipe gesagt habe. Ob der unter die Moralapostel gegangen ist? Auf einmal?“

„Ist vielleicht nur eine Phase. Oder Hans hat doch Kontakt mit ihm und eine Menge Scheiße über dich erzählt. Und über mich auch. Der hat doch damals jedem die Schuld gegeben, er war das arme, unschuldige Opfer seiner Spielsucht. Weißt du nicht mehr?“

„Ja, stimmt. Aber irgendwie ... habe ich das Gefühl, dass er mich verachtet oder so was. Und nicht erst seit heute. Vielleicht hätte ich ihm doch sagen sollen, wie das damals mit seinem Papa war. Aber für ihn wäre das nicht schön, er hängt so an Hans. Soll er lieber weiter mir die Schuld geben.“

„Nee, das ist falsch! Er ist jetzt erwachsen. Er kann die Wahrheit verkraften.“

„Na ja ... vielleicht hast du recht ...“

„Geh schnell hoch und erzähle es ihm. Ich muss sowieso den Wein wegbringen.“ Mühsam erhob sich Gila und wankte zum Badezimmer.

Martina stand ebenfalls auf. Gila vertrug nach wie vor sehr wenig Alkohol. Bald schon würde sie zu lallen beginnen, albern werden und auf der Couch einschlafen, wenn sie noch ein Glas trank.

Martina ging die Stufen hoch und blieb kurz vor dem Zimmer ihrer Tochter stehen. Die Tür war mit einem großen „One Direction“ Poster bedeckt. Immerhin verdeckte es die Macken im Holz der alten Tür. Martina hatte damals ein Michael Jackson Poster gehabt. Sie fühlte sich uralt, wenn sie Steffis Poster ansah. Die Jungs darauf waren alle so jung. Und sie kannte keinen davon. Es war wohl ein Zeichen, dass man alt wurde, wenn einen die Boygroups und musikalischen Vorlieben

der Kids nicht mehr interessierten. Es war auch ein eindeutiges Zeichen, dass Martina den Zugang zu Steffis Welt verlor. Statt Märchenbüchern und Puppen hielten jetzt die Jungs Einzug. Nette Milchbubis mit glatten, weichen Gesichtern. In welchen ihre Tochter wohl verliebt war?

Bei Steffi lief leise der Fernseher. Martina runzelte die Stirn. Es war schon halb elf, aber vielleicht war Steffi beim Fernsehen eingeschlafen. Das passierte recht oft. Martina hob die Schultern und näherte sich dem Zimmer ihres Sohnes. Das war direkt gegenüber. Seine Tür schmückte ein Bushido-Poster. Sie hob die Hand, um zu klopfen, erstarrte aber, als sie leise eine sehr merkwürdige Musik vernahm.

Was hörte sich Andy denn da an? Sie drückte ihr Ohr gegen die Tür und erstarrte, als sie Andys Stimme leise, aber unverkennbar mitsingen hörte. Noch etwas unbeholfen klang es, aber ihr Sohn gab sich große Mühe, die schwierigen, fremd klingenden Laute genau zu imitieren.

Martina richtete sich mit klopfendem Herzen auf.

Ohne darüber nachzudenken, öffnete sie die Tür.

Andy saß vor seinem Computer. Der Bildschirm war die einzige Lichtquelle im Raum. Er starrte gebannt auf ein Video, bei dem unverständliche Worte durch das Bild liefen. Darunter waren deutsche Untertitel zu sehen. Martina entzifferte noch die Worte „... dass diese Weltreligionen der Ursprung allen Übels sind.“ Da fuhr Andy auf seinem Bürostuhl herum und schrie wütend: „Raus hier!“

Erschrocken zog Martina die Tür zu und flüchtete.

„Nanu? Das ging aber schnell!“ Gila hatte es sich wieder auf der Couch bequem gemacht.

Martina beachtete sie nicht, ging zum Barschrank und goss sich mit zitternden Händen einen Whisky ein.

„Tina? Was ist denn?“ Erstaunt sah Gila zu, wie ihre Freundin das Glas auf einen Zug leerte. Dann kam Martina wieder zurück, und ließ sich in ihren Sessel fallen.

„Du ... du glaubst das nicht! Der guckt sich da oben Videos gegen Religionen oder dergleichen auf YouTube an!“

„Oh ... nun ja, das muss man heutzutage tolerieren, wir erkennen doch jede Weltanschauung an.“

„Aber ... Er hat in so einer komischen Sprache mitgesprochen! Fast wie Chanting klang es, aber buddhistisch oder so was wie Yoga war es nicht.“

„Ja ...? Vielleicht etwas Neueres, das wir nicht kennen. Na ja, ist ja sicher auch nur eine Religion wie jede andere.“

„Meinst du?«

„Ja, na klar! Ja, es ist komisch, wenn sich junge Leute heutzutage überhaupt noch für Religionen interessieren. Aber so rücksichtslos, wie sich heute alle verhalten, fände ich etwas mehr Moral gar nicht schlecht. Es glaubt doch kaum noch einer an Gott.“

„Das schon. Durch die Aufklärung ... Früher war ein Blitz der Zorn Gottes, heute ist er nur noch eine elektrische Entladung. Alles ist erklärbar geworden. Die Menschen brauchen eben keinen Gott mehr. Aber dass Andy sich für so etwas interessiert ...“

„Vielleicht durch die Medien? Oder hat er in der Schule früher Freunde gehabt, die ihn dafür interessiert haben könnten?“

„Ja, schon. Der eine Typ, Anton, das war ein guter Freund von ihm. Der sah irgendwie spirituell aus. Der raucht und trinkt nicht, wirkt total selbstbewusst. Na ja, aber auch etwas arrogant. Der war vor ein paar Wochen mal hier, sagte nicht mal Hallo zu mir und ging gleich mit Andy nach oben. War komisch gekleidet, ganz in Schwarz. Der sah mich an, als wäre ich ein Insekt oder so etwas.“

„Glaubst du ... dass die beiden da oben über Religion geredet haben?“

“Keine Ahnung. Aber deswegen muss er mich doch nicht so ansehen, als wolle er mir den Kopf abreißen!“

„Nimm‘s nicht so tragisch. Dass du dich so kleidest, mögen so welche wie der eben nicht. Du kannst es dir ja auch leisten, bei deiner Figur. Und so ein tolles Dekolleté muss man einfach zeigen!“

„Danke, Süße.“

„Weißt du, ich habe jemanden kennengelernt ...“

Martinas Gesicht erhellte sich.

„Echt? Das wurde aber auch mal Zeit! Wie alt ist er denn?“

„Dreiunddreißig. Ja, okay, ich weiß ... Ich bin sieben Jahre älter. Aber das ist ja nicht so viel. Und das Alter ist auch nur eine Zahl. Er findet mich toll. Ich habe die schönsten Augen der Welt.“ Gila kicherte albern.

„Hast du den im Urlaub aufgegabelt?«

„Nein. Über das Internet.“

„Na, das klingt ja nett.“

„Mal sehen. Hey! Willst du nicht mit mir nach Malle?“

Martina winkte ab. „Solange Andy hier noch wohnt, ist das schlecht. Da reicht das Geld kaum. Er spart doch auf eine eigene Wohnung mit Jana und kann hier nicht viel beisteuern. Der frisst wie ein Scheunendrescher. Aber wenn er nächstes Jahr die Ausbildung beendet ... und ausgezogen ist ... dann komme ich gern mit.“

„Bis dahin ist es zu spät.“

„So?“

„Ja, mein Schatz ... er ist nicht so ein Fan vom Verreisen. Und … er zieht bald zu mir.“ Gilas Gesicht glühte und sie wirkte recht unbehaglich.

„Was? Jetzt schon?.“

„Na ja, ich wusste nicht, was du dazu sagen würdest. Ich wollte es eigentlich für mich behalten, bis ...“

„Bis es zu spät ist?“

„Bis es konkreter ist. Wer weiß, vielleicht bin ich ja doch bloß ein Flirt für ihn.“

„Klingt aber nicht so.“

„Ich glaube auch nicht, dass er nur mit mir spielt.“

„Hoffentlich klappt das alles.“ Martina beugte sich vor, und tätschelte Gilas rundlichen Arm. Sie war eigentlich sehr hübsch, hatte aber wenig Selbstbewusstsein. Sie sah eben zu viel fern. Wenn eine Frau ein paar Kilos zu viel auf den Rippen hatte, galt sie sofort als fett, hässlich und unvermittelbar. Gila versuchte gar nicht erst, einen Mann zu finden. Aber nun hatte wohl jemand sie gefunden und den eisernen Ring um ihr Herz gesprengt. Martina war froh darüber. Gila kam nur deswegen so oft vorbei, weil sie einsam war.

„Wie heißt er denn?“

„Kevin.“

„Na, dann auf Kevin!“ Martina hob ihr Glas.

IXXI

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