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Doris F.: Die Stille

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Am schlimmsten ist die Stille.

Ich wache morgens auf und spüre schon, dass ich allein bin. Das Bett fühlt sich leer an. Ich beziehe beide Decken und Kissen, als ob er noch da wäre. Aber ich merke es trotzdem. Es ist das schrecklichste Gefühl auf Erden. Diese Gewissheit, dass er nicht mehr da ist und auch nie mehr wiederkommen wird.

Jörg starb damals, weil ihm ein Metallteil aus einem der Stände an den Kopf flog. Es war wie ein Geschoss, haben sie mir gesagt, Jörg hat nichts gespürt. Er war sofort tot. Aber sie rieten mir dringend davon ab, seine Leiche anzusehen. „Behalten Sie ihn in Erinnerung, so wie Sie ihn kannten.“ Er muss also völlig entstellt gewesen sein.

Beim Bestattungsinstitut wurde ich gar nicht erst gefragt, ob ich einen offenen Sarg bei der Trauerfeier wünschte.

Seitdem habe ich immer dieses Bild vor Augen: Jörgs Körper ohne Kopf. Er trug damals die beige Jacke mit Lammfellfutter, eine schwarze Jeans und Wildlederstiefel. Als es knallte, hatte Bernd, sein Chef, der uns gerade über den Weg gelaufen war, eine launige Bemerkung gemacht. „Na, das Weihnachtsgeld verbraten, was?“, so in der Art. Jörg hatte genickt, gegrinst und in die Bratwurst gebissen. Kleine Dampfwölkchen kamen aus seinem Mund. Etwas Senf hing in seinem Mundwinkel, seine Augen waren halb geschlossen. Er hatte zum Friseur gemusst und es nicht mehr geschafft, deswegen blinzelte er, weil eine Haarsträhne ihm ins Auge geweht wurde. Das weiß ich noch. Es ist das letzte Mal, dass ich sein Gesicht sah. Dann spürte ich eine ungeheure Wucht. Wie eine riesige Faust, die mich wegschleuderte. Und dann die Hitze. Aber es fühlte sich nicht an wie Hitze, es war im ersten Augenblick beinahe wie Kälte. Etwas, das die Haut sich zusammenziehen lässt.

Warum ich noch lebe, weiß ich nicht. Es ist mir auch egal. Es wäre mir lieber gewesen, ich wäre auch gestorben. Aber mein linker Arm, mein linkes Bein und die linke Hälfte meines Gesichts und meines Körpers erlitten „nur“ starke Verbrennungen.

Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich mit diesem Restleben anfangen soll. Ich gehe zum Neurologen und zur Therapie, schleppe mich in Selbsthilfegruppen, schlucke Antidepressiva und Schmerzmittel, lasse mich operieren. Ich habe schon vergessen, wie oft ich unterm Messer war.

Alles ist wie in einem Nebel. Abends, wenn es am schlimmsten ist, ertappe ich mich dabei, dass ich auf Jörg warte. Und dann wird es mir wieder bewusst: Er ist tot, er wird nicht mehr zur Tür hereinkommen. Und seine T-Shirts, Socken und Unterhosen, die ich an dem Tag noch schnell aufgehängt hatte, damit wir abends zu seinen Eltern fahren und Weihnachten zusammen feiern konnten, wird er nie wieder tragen. Aber ich bringe es nicht über mich, sie abzunehmen und wegzulegen … oder den Rest seiner Kleidung wegzugeben. Das wäre, als würde ich ihn noch einmal umbringen. Es waren doch seine Sachen ...

IXXI

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