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Die schwarze Weihnacht

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Es würde bald schneien. Dunkle Wolken hingen so tief am Himmel, dass er die Hand nach ihnen ausstrecken wollte. Immer wieder sah er aus dem Fenster, nahm noch so viel in sich auf, wie er konnte. Ein hohes, feines Flirren schien in der Luft zu liegen.

Er hörte es, wie er auch seinen Herzschlag hörte, das Krächzen der Krähen vor dem grauen, ungepflegten Mehrfamilienhaus, das ihm kein Heim war. Ein hupendes Auto, ein paar laut redende Kinder.

Alles erschien ihm fern und unwirklich, gleichzeitig nahm er jede Kleinigkeit wahr. Ging es jedem so, der wusste, dass er bald sterben musste?

Er hatte nicht geschlafen in der Nacht. Er hätte ohnehin nur Albträume von Steffi und seiner Mutter gehabt.

Ich muss mich bereit machen, dachte er, es ist heute, heute, in ein paar Stunden. Nie hätte er gedacht, dass er einmal so etwas Wichtiges, Großes vollbringen würde. Dass er, ein kleiner ehemaliger Waster, einmal Gottes Willen vollstrecken würde.

Der Gedanke erfüllte ihn mit Demut, Ehrfurcht und ganz tief in ihm, wo er nicht hinzuschauen wagte, fragte ein trauriges, verzagtes Stimmchen: „warum ich?“

Jener Teil von ihm hätte gern nach Gottes Geboten gelebt und ein ganz normales Leben geführt.

Aber Gott hatte anders entschieden. Nun galt es, seinen Willen entschlossen zu erfüllen. Ohne Zweifel, ohne Zögern. Er schob die Trauer beiseite, so gut er konnte. Mit der Angst war es nicht so einfach. Sein Herz schlug schnell, dann wieder langsamer. Die schweißnassen Hände rieb er nervös an der Hose ab. Immer wieder massierte er seine Schläfen, wo der Schmerz pochte. Wenn er den Rucksack ansah, röteten sich seine Wangen, dann wurde er wieder blass. Es war noch früh am Morgen. In der kleinen Dusche hatte er sich gereinigt, danach angemessen gekleidet und gebetet. Er schämte sich seiner Angst.

Er hatte Angst, seine Mutter und Steffi alleine zu lassen. Sie brauchten einen Mann, der für sie sorgte und ihnen den richtigen Weg zeigte. Murat hätte er vielleicht seine kleine Schwester anvertraut. Aber er traute Murat nicht mehr.

Anton war nun sein bester Freund.

„Was sorgst du dich, Bruder? Du hast deiner Mutter und deiner Schwester oft genug von uns erzählt und ihnen gesagt, was sie falsch machen. Und womit sie Gott erzürnen. Sie wollten nicht hören.“

Seit seine Augen geöffnet worden waren, träumte er fast jede Nacht, dass seine Mutter in einem riesigen Feuerloch verschwand. Sie schrie und versuchte, sich am glühenden Rand festzuhalten. Er sah, wie ihre Finger verbrannten, bis nur noch schwärzliche Knochen sich in das rauchende Gestein krallten. Sie fiel und verschwand in den Flammen. Steffi lag rücklings in rötlicher Lava. Auch sie kreischte, und Lava floss in ihren Mund. Das blonde Haar verschmorte, die Haut platzte auf, und das Fleisch ging in Flammen auf. Die flehend ausgestreckten Arme waren nur noch verkohlte, klappernde Knochen.

Immer dann war er keuchend aus dem Albtraum hochgefahren und hatte geweint. Seine Mutter ... Sie war ein guter Mensch, jedenfalls nach seinem früheren, beschränkten Weltbild und eben seine Mutter. Aber in Gottes Augen nur eine dumme Hure, die die Welt jeden Tag mehr in den Abgrund stürzte. Er hatte sich damit abgefunden, dass sie wegen ihrer Verbohrtheit brennen musste. Aber Steffi? Sie konnte ja nichts dafür, dass sie in diesem dekadenten Land groß geworden und von einer doofen Kuh erzogen worden war. Er war doch auch einmal so gewesen wie sie!

Er hoffte, dass Gott ein Einsehen haben werde. Ja, er hatte Angst, Mutter und Schwester zu verlassen, die auf ihrem Weg bleiben und weitermachen würden wie bisher. Aber nun, da er den Rucksack sah, der in der Ecke stand, packte ihn auch das Entsetzen.

Wie würde es sein, wenn er an dem Kabel zog? Würde er noch etwas spüren? Würde es wehtun? Oder war es nur einen Augenblick lang dunkel, und dann befand er sich im Paradies?

Aber es gab kein Zurück mehr.

Trotzdem fühlte er für eine Sekunde echtes Bedauern darüber, dass sein Leben nun enden musste.

Dass er niemals Steffi zur Umkehr bewege und sie davon abhalten konnte, den Planeten Gottes zu vernichten. Wie jeder Mensch hing er am Leben. Er spürte das Blut, das in seinen Adern kreiste, seinen Atem und den feinen Luftstrom auf seiner Haut, der durch das gekippte Fenster hereinwehte. Es war kalt geworden.

Einen Augenblick lang spürte er entsetzliches Heimweh. Gerne wäre er in seinem Zimmer mit den Dachschrägen gewesen, hätte die letzte Nacht auf Erden in seinem Bett verbracht und durch das Dachfenster über ihm in die Sterne geschaut, so wie er es geliebt hatte.

An dem alten Schreibtisch, den sein Vater dagelassen hatte, als er auszog, hatte er mehr über Gott erfahren, die Videos seiner Geschwister gesehen und ein neues, sinnvolles Leben entdeckt. Ein Leben, das jetzt enden musste. Denn er hatte sich an eine neue Zukunft verkauft.

Er sah auf seine Finger, mit denen er normalerweise um diese Uhrzeit Tapeten einkleisterte, Wände schliff oder die Farbmischmaschine bediente. Geschickt waren sie, von Adern durchzogen, kräftig. Bald würden sie nur noch zerfetztes, verkohltes Fleisch und Knochensplitter sein. Aber dank Gott hatte er überhaupt Hände. Sie waren ihm gegeben worden, um Schrecken über die Waster zu bringen.

Sein leerer Magen brodelte. Er hatte nichts essen können. Trotzdem zogen sich seine Eingeweide einen Augenblick lang schmerzhaft zusammen. Er holte tief Luft und rief sich die Worte von Antons Onkel ins Gedächtnis zurück.

„Es ist eine Ehre, für so eine wichtige Aufgabe auserwählt zu werden. Wir müssen noch bleiben, um den Kampf gegen die alles verschmutzenden Christen weiterzuführen. Du aber musst deine Aufgabe übernehmen, auch wenn du Gewissensbisse hast. Du weißt, wie wichtig deine Aufgabe ist. Wir beneiden dich!“

Er kam sich trotzdem entsetzlich allein vor und hätte etwas Beistand bitternötig gehabt. Er fragte sich, wie es den anderen wohl erging. Auch sie machten sich gerade auf den Weg.

Anton, wo war Anton? Ein paar nette Worte, eine Umarmung, zusammen ein letztes Mal beten. Wie sehr er sich wünschte, dass Anton hier wäre. Selbst das Eklige, was Anton mit ihm im Bett bisweilen gemacht hatte, wäre ihm jetzt willkommen gewesen. Ein wenig Körperkontakt, etwas Geborgenheit.

Aber er war allein in der kleinen Wohnung.

Andreas Ganziger zog sich eine Trainingshose, ein T-Shirt und eine Sportjacke über

seine leichte weiße Baumwollkleidung, nahm vorsichtig den Rucksack und verließ die Wohnung.

IXXI

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