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Polizeihauptkommissar Uwe Trantow informierte seinen Chef bewusst nicht über den Inhalt des Telefongesprächs, nach dessen Beendigung er sich in seinem zivilen Dienstwagen auf den Weg machte. Falls der Chef wissen wollte, womit er sich am Nachmittag rumgeschlagen hatte, würde er Recherchen vorschützen. Was nicht einmal gelogen war, denn dieser Fall war bislang noch nicht bei der Abteilung Delikte am Menschen beziehungsweise Organisierte Kriminalität gelandet.

Elmar von Steinfurt hatte ihn unter dem Siegel der Verschwiegenheit ins Vertrauen gezogen und ihn gleichzeitig unmissverständlich angehalten, alles zu vermeiden, was auch nur annähernd nach Polizeiaktion roch. „Ich regle das selbst, Uwe. Ich möchte dich nur informieren. Vielleicht brauche ich euch ja doch irgendwann. Jetzt aber noch nicht.“ Nicht einmal eine Telefonüberwachung hatte er sich abringen lassen.

Vor gut zwanzig Jahren, als Elmar von Steinfurt im Zuge der „Rückgabe vor Entschädigung“-Regelung den alten Familienbesitz bei Klein Marklin für sich reklamiert und bald darauf mit der Sanierung des Herrenhauses begonnen hatte, um mit seiner damaligen Frau Marga und den zwei halbwüchsigen Kindern Klaus-Rainer und Gloria so schnell wie möglich überzusiedeln, hatte er Trantow des Öfteren gebeten, sich für ihn bei Behörden, in der Gemeinde oder bei Baufirmen starkzumachen.

Trantow kannte sich aus, er war in Klein Marklin geboren und aufgewachsen. Hatte noch kurz vor der Wende seinen Wehrersatzdienst bei einer der kasernierten Einheiten der VP-Bereitschaften angetreten. Eine Laufbahn innerhalb der Kriminalpolizei schien ihm vorstellbar. Als mit der deutschen Einheit die Volkspolizei aufgelöst und in die neuen Landespolizeien überführt wurde, bewarb Trantow sich um einen Studienplatz an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung. Er musste ein Auswahlverfahren durchlaufen, sich aber nicht auch noch, wie zu DDR-Zeiten, um studieren zu können, freiwillig für drei Jahre als „UaZ“, als Unteroffizier auf Zeit, verpflichten. Nach Abschluss der Ausbildung konnte er eine frei gewordene Stelle bei der Potsdamer Polizei übernehmen. Er war immer noch jung und hungrig. Und überglücklich, weil er das Gefühl hatte, angekommen zu sein und seine berufliche Laufbahn in die Zielgerade zu lenken.

Fester Bestandteil seiner sporadischen Wochenendbesuche im Klein Marklin’schen Elternhaus blieb auch dann nach wie vor, dass er sich beim sonntäglichen Frühschoppen sehen ließ. Hier hörte er zum ersten Mal von den wiederaufgetauchten Nachfahren der früheren Gutsherren. Und dass Elmar von Steinfurt, der Sohn des einst enteigneten Grafen, jemanden suchte, der ihn bei der Regelung seiner Angelegenheiten beraten konnte. Trantow war hilfsbereit und erbot sich. Außerdem war er neugierig auf den westdeutschen Spross dieser alten Familie und auch seltsam beeindruckt, dass es tatsächlich noch echte Grafen gab. Titel, die sich sogar noch in der Jetztzeit durch Grundbesitz ausweisen ließen. Elmar von Steinfurt, etliche Jahre älter als er, war umgänglich. Sie verstanden sich. Tranken ab und zu mal ein Glas miteinander, gingen zusammen auf die Jagd, redeten über früher und heute, das Leben vor und nach der Wende, hüben und drüben. Dass der Graf diplomierter Landwirt und seit Jahren schon im BUND aktiv war, sprach für ihn. Mehr aber noch, dass er diesen Grund und Boden, den er nur aus den Erzählungen seiner Eltern kannte, offenbar tatsächlich liebte. Großartige Mischwälder mit uralten Eichen, Platanen, Linden und Rosskastanien, ein riesiges Waldgebiet, das wegen seiner Wildbestände auch zu DDR-Zeiten den staatlichen Rodungs- und Aufforstungsarbeiten nicht zum Opfer gefallen war. Die rundherum üblichen Kiefernwälder – Telegrafenmasten-ähnliche Anpflanzungen – waren nichts als schnell verwertbares Nutzholz. Steinfurts Wälder dagegen waren alt, naturbelassen, naturgeschützt. Er dachte nicht daran, aus diesen Waldbeständen Profit zu schlagen.

Steinfurts Frau Marga allerdings hatte es nicht lange in der dörflichen Ruhe gehalten. Schon nach wenigen Jahren war sie mit den Kindern zurück in den Westen gegangen. Der Trennung folgte die Scheidung. Klaus-Rainer und Gloria tauchten nur noch in den Schulferien auf und wechselten erst wieder dauerhaft von West nach Ost, als sie in Berlin zu studieren begannen. Kurz zuvor hatte Steinfurt erneut geheiratet. Albert, der gemeinsame Sohn aus dieser zweiten Ehe, musste inzwischen elf oder zwölf Jahre alt sein. Und Hauptkommissar Uwe Trantow war nach wie vor ein Freund des Hauses. Freund des Hausherrn zumindest. Und deshalb jetzt auch ganz besonders bemüht, diese heikle Situation so schnell wie möglich zu entschärfen und möglichst ohne Komplikationen aufzulösen.

Abrupt trat er auf die Bremse. Nicht zum ersten Mal wäre er beinahe an der links vor ihm versteckt in den hohen Büschen liegenden Einfahrt zu Steinfurts Gut vorbeigerauscht. Das Tor zwischen den beiden gemauerten Pfeilern links und rechts des zum Herrenhaus führenden Wegs stand offen, wie immer, die Kamera auf dem rechten Pfeiler war eingeschaltet, wie immer. Trantow stieg aus, stellte sich davor, winkte hinein, wie immer. Rollte dann auf dem Sandweg zu dem von dichtem Gebüsch und Bäumen verborgenen Herrenhaus bis vor die Freitreppe. Forsch nahm Trantow zwei Stufen mit jedem Schritt und klingelte.

Steinfurt ließ ihn ein, ging voraus. Im kleinen Salon mit den Hirschgeweihen an den ziegelrot gestrichenen Wänden und dem eindrucksvollen Keilerkopf über dem Kamin roch es muffig. Abgestandener Rauch, verbrauchte Luft. Schräg durch die geschlossenen hohen Fenster fielen durch flirrendes Laub vielfach gebrochene Sonnenstrahlen und malten verwirrende Muster auf den Parkettboden. Der helle Nachmittag schien ausschließlich draußen vor der Tür stattzufinden. Hier herrschte Dämmerlicht. Erst als Trantow mit einem „Ich darf doch?“ den Lichtschalter betätigte, bemerkte er die Dame des Hauses in einer Sofaecke kauern. Sie hatte den Blick gesenkt, schien ihn gar nicht wahrzunehmen. „Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich …“, stammelte er, aber Steinfurt winkte ungeduldig ab. „Wir haben jetzt keine Zeit für Formalitäten, Uwe. Und es bleibt dabei: äußerste Geheimhaltung.“

Trantow hob die Augenbrauen. Er würde Steinfurt jetzt keinen Vortrag darüber halten, dass er als Polizist dem Legalitätsprinzip unterlag und entsprechend, sobald er auf eine strafbare Handlung oder ein Verbrechen aufmerksam wurde, angehalten war, dieses zu verfolgen und eventuelle weitere Straftaten zu verhindern. Auch wenn er eine Zeit lang verdeckt ermitteln konnte, durfte er nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, als ginge ihn das alles nichts an. Auch nicht, wenn er von einem Freund darum gebeten wurde. „Mir wäre wohler, wenn du einer Telefonüberwachung zustimmen würdest, Elmar“, sagte er.

„Unnützer Aufwand“, wehrte Elmar von Steinfurt ab. Er drehte sich missmutig um und starrte zum Fenster hinaus. „Sie rufen mich sowieso auf meinem Mobiltelefon an.“

Trantow versuchte es auf die ruhige Tour. „Werden sie nicht, Elmar, weil du es ausstellst. Dann müssen sie übers Festnetz gehen.“

Steinfurts letzte Bemerkung hatte seine Frau Ingeborg aus ihrer Lethargie aufschrecken lassen. Mit einem Ruck war die zierliche Frau in die Höhe geschnellt. „Unnützer Aufwand? Habe ich richtig gehört, du sagtest: unnützer Aufwand?“ Mit wenigen Schritten war sie neben dem Grafen und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Es geht um das Leben unseres Kindes, Elmar! Und da redest du von unnützem Aufwand?“ Ihre Stimme überschlug sich. „Was bist du für ein Vater. Zu geizig, um das Lösegeld aufzubringen. Und jetzt willst du noch nicht einmal …“ Sie brach ab.

Trantow schaute verdattert zwischen Graf und Gräfin hin und her. Als Steinfurt nicht auf die Vorhaltungen seiner Frau reagierte, sagte er: „Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Von einer Lösegeldforderung war bisher nicht die Rede, Elmar.“

„Zwei Millionen“, heulte Ingeborg von Steinfurt auf, „hat er Ihnen das nicht gesagt? Der Übergabetermin war heute Mittag, aber …“

Weiter kam sie nicht, weil der Graf sie am Arm gepackt hatte und ihr ins Wort fiel: „Es reicht, Ingeborg. Erspar uns die Einzelheiten, bitte.“ Er sah Trantow an. „Wenn die glauben, ich zahle zwei Millionen, dann sind sie falsch gewickelt. Da können sie lang warten.“

„Ich verstehe nicht“, sagte Trantow noch einmal.

„Er ist zu geizig“, schluchzte Ingeborg, die Steinfurts Hand an ihrem Arm abgeschüttelt hatte. „Sein Sohn ist ihm das Geld nicht wert.“ Sie schluckte, holte tief Luft. „Wissen Sie, was er gemacht hat? Er hat zwanzigtausend eingepackt. Zwanzigtausend! Und damit bin ich zu dem angegebenen Ort der Übergabe gefahren. Ich habe mich so geschämt. Vor meinem eigenen Kind. Deshalb habe ich noch den Schmuck, den ich getragen habe, dazugelegt. Wertvoller Schmuck. Aber die zwei Millionen …“ Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen, versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Wenige Atemzüge später ließ sie die Hände sinken, hob, das Gesicht tränenüberströmt, den Kopf, ging zurück zum Sofa, setzte sich und sagte mit wieder fester Stimme: „Ich will mein Kind wiederhaben, Elmar, koste es, was es wolle, hörst du. Das bist du mir und ihm schuldig. Und ich verspreche dir, wenn sie Albert etwas antun, bringe ich dich um. Eigenhändig.“

„Mach doch kein solches Theater“, sagte der Graf. „Sie werden ihn schon nicht gleich massakrieren. Aber mit Hysterie kommen wir jedenfalls bestimmt nicht weiter.“

Noch bevor Trantow sich wieder dem Grafen zuwenden konnte, öffnete sich die Tür und Steinfurts ältester Sohn Klaus-Rainer kam herein. Ein dunkelhaariger Mittdreißiger mit Ray-Ban-Sonnenbrille in der Hand und schwarzem T-Shirt unter seinem knittrigen hellen Leinenanzug.

„Aha“, sagte er, ohne sich lange mit Begrüßungsformalitäten aufzuhalten, „Krisensitzung.“ Er ging zu einem der Fenster und öffnete es. „Jemand dagegen? Dicke Luft hier. Hat sich schon was getan?“ Als sein Blick über Ingeborg von Steinfurts verweintes Gesicht glitt, runzelte er die Stirn. „Ist Albert – ich meine, ist ihm … etwas … passiert? Ich meine, außer dass er entführt wurde?“

„Nein“, sagte der Graf kalt, „nichts. Ingeborg hat den Koffer am vereinbarten Ort abgestellt.“

„Aha“, sagte Klaus-Rainer erneut, „zwei Mio also. Und jetzt warten wir, dass sie ihn zurückbringen, oder?“

„Keine zwei Millionen“, sagte der Graf. „Zwanzigtausend.“

„Hast du nicht gesagt, sie wollen zwei Millionen?“

„Hast du zwei Millionen flüssig? Ich nicht.“

„Aber du könntest sie flüssigmachen.“

„Das ist es ja“, sagte Ingeborg. „Er könnte. Aber er will nicht.“

„Wieso, will nicht?“, fragte Klaus-Rainer. „Das geht doch nicht. Ich meine – Albert … Man lässt doch sein Kind nicht einfach …“

„Ich lasse mich nicht erpressen“, sagte Steinfurt. „Und außerdem kann ich keine zwei Millionen aus dem Ärmel schütteln. Meine Gelder sind langfristig angelegt.“

Alle schwiegen. Trantow wartete gespannt. Ingeborg von Steinfurt tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen von Augen und Wangen und schnäuzte sich die Nase. Der Graf stand neben Klaus-Rainer mit dem Rücken zum Fenster. Er rührte sich nicht, blickte vor sich zu Boden. Klaus-Rainer hatte sich abgewandt und schaute in den Garten hinaus. Schließlich drehte er sich um, sah seinen Vater an und sagte: „Du kannst Albert nicht hängen lassen. Der arme Junge. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.“

Als Steinfurt nicht antwortete, fuhr Klaus-Rainer fort: „Ich könnte mit dem Bürgermeister sprechen. Du weißt ja, das Angebot steht nach wie vor. Die Gemeinde kauft dir den Grund lieber heute als morgen ab. Falls – was vorherzusehen ist – der Wert keine zwei Millionen erreicht, lässt sich der Rest sicher als Vorausdarlehen für künftige Anteilseinkünfte deklarieren. Du hast dann immer noch genug Land. Und der Windpark kann gebaut werden.“

Trantow hatte, nicht erst seitdem sich Bürgerinitiativen lautstark zu Wort gemeldet hatten, von diesen Plänen gehört. Klein Marklin wollte dem Beispiel einiger Schwarzwald-Gemeinden folgen und sich mit eigener Stromerzeugung von den Energieriesen abkoppeln. Energieversorgungsautarkie. Klang gut. Was anderswo Wasserkraftwerke und Sonnenenergie erreichten, sollte hier Windkraft ermöglichen. Trantow war kein Fachmann. Er wusste nicht, ob das wirklich funktionieren würde, ob die Berechnungen richtig waren, ob die Investitionen sich schnell genug amortisierten. Er hatte gehört, dass die Bürger bereits Anteile zeichneten. Sie waren ganz scharf darauf, den Windpark zu errichten. Langfristig, so hieß es, wolle Klein Marklin mit Ökotourismus punkten. Die Windräder mussten in ausreichend großem Abstand gebaut werden. Mindestens zwei Kilometer Abstand zu den Häusern. Lieber mehr, meinten die Bürger.

„Meine Wälder stehen unter Naturschutz“, sagte Steinfurt. „Da wird kein Windpark hineingebaut. Ich bin Umweltschützer. Die Gemeinde kann sich anderswo Flächen suchen.“

„Windenergie ist sauber. Die macht die Umwelt nicht kaputt.“

„Warum soll dazu ausgerechnet mein Land herhalten?“

„Weil der Hügel und die drum herum liegenden Anhöhen die Effektivität eines Windparks steigern.“

„Auf diesem Hügel haben meine und deine Vorfahren vor über dreihundert Jahren eine Kirche und einen Wachtturm errichtet, von dem aus man kilometerweit über Land schauen konnte.“

„Diese Kirche und dieser Wachtturm sind seit Generationen verfallen und verrottet. Man kann sie zwischen den Bäumen kaum mehr sehen.“

„Aber die Fledermäuse sehen sie. Und sie wohnen dort. Eine in unseren Breiten schon fast ausgestorbene Fledermausart. Du glaubst doch nicht, dass ich die für zwei Millionen verkaufe?“

„Könnt ihr endlich aufhören? Ich halte das nicht mehr aus.“ Ingeborgs Stimme.

„Außerdem gibt es sowieso keine Baugenehmigungen in Naturschutzgebieten“, fuhr der Graf unbeirrt fort.

„Kommt darauf an, wie der Antrag begründet wird“, sagte Klaus-Rainer.

Oder wie viel Schmiergelder über den Tisch gehen, dachte Trantow. Man müsste herausbekommen, wer in diesem Fall mit wem verhandelt. Trantow war noch nicht so lange aus Klein Marklin fort, hatte noch Bekannte, die er fragen konnte. Mit den Kollegen vor Ort sollte er jedenfalls Fühlung aufnehmen. Er durfte nicht ständig in fremden Revieren wildern. Die Sache mit Steinfurts Sohn war schon delikat genug.

Das Telefon klingelte. Graf und Gräfin versuchten beide, danach zu greifen, jeder wollte den Hörer abheben. Trantow hob abwehrend die Hand.

„Geh du ran, Elmar“, sagte Trantow.

Alle bemühten sich, so leise wie möglich zu atmen, alle blickten gespannt auf den Grafen.

Steinfurt meldete sich.

„Mit uns nicht, Herr Graf. Verarschen können wir uns selber.“ Eine kräftige Männerstimme. „Gehen Sie die Auffahrt runter zum Tor. Da wartet etwas auf Sie. Ich melde mich gleich wieder.“

Der Anruf war beendet. Noch bevor Steinfurt den Hörer aufgelegt hatte, war Ingeborg schon an der Haustür, stürzte hinaus ins Freie. Bis zum Tor hatte Trantow sie eingeholt. Den am Pfeiler lehnenden Aktenkoffer sahen sie gleichzeitig. Der Graf hielt seine Frau zurück, Trantow streifte sich weiße Einweghandschuhe über, packte den Koffer.

Ingeborg heulte auf. „Das ist er. Das ist der Koffer, den ich … Lassen Sie mich!“ Sie versuchte, ihn Trantow zu entreißen. „Gleich. Wir bringen ihn erst rein“, sagte er ruhig.

Oben auf der Freitreppe wartete Klaus-Rainer. Trantow in der Mitte zwischen Graf und Gräfin kam sich vor wie ein Ringrichter. Sie gingen alle zusammen zurück in den Salon. Hauptkommissar Trantow legte den Aktenkoffer auf den Tisch, klappte den Deckel auf und trat einen Schritt zurück, gab den Blick frei. Alle standen um ihn herum, starrten ungläubig und entsetzt auf den zuoberst auf den Banknoten liegenden Finger. Ingeborg durchbrach das Schweigen als Erste.

„Das ist doch … Sie haben Albert den kleinen Finger abgeschnitten! Aber er ist doch Bluter! Er stirbt, wenn er keine Medikamente bekommt!“ Flehend fasste sie nach Trantows Arm. „Tun Sie was, bitte!“

Trantow nickte. „Sobald die sich wieder melden. Wir müssen warten. Aber dann …“ Sein Blick wanderte zu Steinfurt, der mit bleichem Gesicht ins Leere starrte. Schließlich räusperte er sich. „Der Schmuck“, sagte er, „das ist der Schmuck, den ich dir geschenkt habe, Ingeborg. Den hast du einfach, ohne mich zu fragen …?“

„Wie du jetzt von Schmuck reden kannst!“, fauchte die Gräfin ihn an.

Steinfurt zog die Augenbrauen in die Höhe. „Hast du etwa gedacht, die wissen, was der wert ist?“ Er schüttelte den Kopf. „Keine zwei Millionen natürlich, aber immerhin. Wie du siehst: Perlen vor die Säue.“

Trantow hatte wortlos das Zimmer verlassen und sich telefonisch mit dem zuständigen Rechtsmediziner kurzgeschlossen. Jetzt kam er wieder herein. „Wenn der Finger innerhalb von vierundzwanzig Stunden, nachdem er abgetrennt wurde, wieder angenäht werden kann, besteht eine gewisse Hoffnung. Man muss ihn in einen Plastikbeutel wickeln und in einen Topf mit Eiswürfeln legen.“

„Großer Gott!“ Ingeborg hielt sich die Hand vor den Mund, als wollte sie sich daran hindern, laut loszuheulen. „Ich kann nicht. Ich kann das nicht anfassen!“ Sie würgte. „Alberts kleiner Finger!“

Es war Hauptkommissar Trantow, der den Finger aus dem Koffer nahm und mit ruhiger Stimme fragte: „Vielleicht möchte mir mal wer zeigen, wo es hier einen Topf, Eiswürfel und einen Plastikbeutel gibt?“

Ingeborg stand schon an der Tür und ging ihm wortlos voraus.

Dann sagte niemand mehr etwas. Lähmende fünf Minuten lang war es so still im Raum, dass das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu hören war. Bis das Telefon endlich Laut gab.

Die Durchsage war kurz und bündig: „Jetzt wissen Sie Bescheid. Es bleibt dabei: zwei Millionen. Morgen Mittag, selbe Zeit, selber Ort. Wenn nicht – der Junge hat noch mehr Finger.“

Gefährliche Erben

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