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Für einen Wochentag hatte der fünfzehnte September in seltener Ruhe begonnen. Den ganzen Morgen schon wirkte der Savignyplatz wie ausgestorben. Die durch die Bäume flimmernden Sonnensprengsel zeichneten hübsche Muster aufs Pflaster. Nur wenige Fußgänger oder Radfahrer schienen unterwegs zu sein, von Autos ganz zu schweigen.

Wie Sonntag, dachte Dr. Sylvie Westphal, als sie die Fensterflügel ihres Wohnzimmers öffnete und auf den Platz hinunterblickte. Oder wie wenn alles den Atem anhält, bevor etwas passiert. Etwas, das man seit Langem erwartet und von dem man annimmt, dass es jetzt jeden Moment passieren wird. Man weiß nur nicht, ob es sich als etwas Gutes oder etwas Schlimmes entpuppen wird. Aber egal, dachte sie, solange es nur weiter so ruhig bleibt. Mit einer Drehung um die eigene Achse wandte sie sich vom Fenster ab, ließ ihren Blick dabei kurz über ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe schweifen und fuhr sich mit den Fingern durchs lockige Haar, das nach dem Duschen noch nicht ganz trocken war. Dann ging sie in die Küche, nahm die Tasse mit dem inzwischen durchgelaufenen Kaffee und trug sie auf den zum Hinterhof gelegenen Küchenbalkon hinaus, wo sie auf dem schwarzen Klapptisch schon Löffel, Zucker und den Tagesspiegel bereitgelegt hatte. Heute war ihr Geburtstag, zur Feier des Tages hatte sie sich den Vormittag freigenommen und konnte jetzt gemütlich Auge in Auge mit den Spatzen und Amseln in der Hinterhofkastanie frühstücken. Oder wenigstens Kaffee trinken. Essen würde sie später in der Kantine – falls der Betrieb in der Rettungsstelle es zuließ.

Sie überflog die Aufmacher auf der ersten Seite, blieb bei einer Meldung über den Aufmarsch einer Neonazigruppe namens „Der III. Weg“ vor einem Einkaufszentrum in einer brandenburgischen Kleinstadt hängen. Eine Kundgebung, deren Redner langjährige Naziaktivisten und NPD-Mitglieder waren. Mit Transparenten und Fahnen. Mit Hetzereien gegen Migranten und Flüchtlinge und mit lautstarken Drohungen gegen jeden Deutschen, der sich nicht klar von Ausländern abgrenzte und sich nicht eindeutig zum deutschen Volk bekannte.

Kopfschüttelnd faltete Sylvie die Zeitung ganz auseinander und blätterte auf Seite drei, wo über die Bürgerinitiative einer ländlichen Gemeinde unweit von Berlin berichtet wurde, die offenbar mit einem Großgrundbesitzer im Streit lag, der sich gegen einen geplanten Windpark auf seinen Ländereien verwehrte, aber sie kam nicht dazu, sich in den Artikel zu vertiefen, denn vor ihr in der Kastanie setzte ein Mordsspatzengezeter ein. Es klang, als würde der dicke Nachbarkater es sich wieder einmal nicht nehmen lassen, sich vor der versammelten Vogelgesellschaft zu blamieren. Doch bevor Sylvie die Chance hatte, den Störenfried zu lokalisieren, klingelte ihr Telefon, das sie bewusst nicht auf den Balkon mitgenommen hatte. Ihrem ersten Impuls, das Läuten einfach zu ignorieren, folgte sie dennoch nicht. Zumindest wollte sie nachsehen, wer da versuchte, sie zu erreichen. Immerhin hatte sie Geburtstag …

„Lou?“

„Sylvie. Tut mir leid, dass ich dich störe. Aber …“

Also kein netter Geburtstagsglückwunsch.

„… du musst heute doch erst mittags …“

Sylvie Westphal kannte Lou Feldmann gut genug, um zu wissen, was hinter seinem Anruf steckte.

„Kugel?“, fragte sie.

„Messer.“

„Sehr dringend?“

„Nicht lebensgefährlich. Kommst du trotzdem? Kottbusser Damm, Höhe Haltestelle Schönleinstraße. Der Laden neben dem Waschsalon. Liegt für dich ja praktisch auf dem Weg.“

„Gute halbe Stunde, mindestens. Ich bin noch nicht wirklich vorzeigbar und kann immer noch nicht fliegen.“

Sie legte auf.

Kaum zehn Minuten später steuerte Dr. Sylvie Westphal, den Arztkoffer in der Hand, auf ihren in einer Seitenstraße geparkten roten Alfa Giuletta zu.

Gefährliche Erben

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