Читать книгу Gefährliche Erben - Elfi Hartenstein - Страница 5
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ОглавлениеLou Feldmann stieg die Treppe an der U-Bahn-Station Schönleinstraße nach oben, hielt einen Moment inne und ließ seinen Blick den Kottbusser Damm hinauf in Richtung Hermannplatz wandern. Die Luft flirrte. Für Mitte September war es ungewöhnlich heiß. Feldmann betrachtete die Leute, die an ihm vorbeigingen. Sie waren anders. Es war ein anderer Stadtteil. Eine andere Welt in derselben Stadt. Ein anderes Leben. Ein anderer Geruch. Jedes Mal, wenn er hierherkam, fiel ihm das auf. Er liebte sein Friedenau, sein Viertel, liebte sein Haus, seine Kneipe, seine Freunde und Bekannten. Doch wenn er hätte wählen können, wäre er hierhergezogen. Nach Kreuzkölln, wie es bei den Kiezbewohnern hieß.
Hinter ihm kamen drei junge Leute aus der U-Bahn. Zwei Männer, eine Frau, alle Anfang zwanzig und vermutlich Studenten, wie Feldmann an den mit Wäsche vollgestopften blauen Ikea-Taschen, die sie mit sich schleppten, zu erkennen glaubte. Sie waren auf dem Weg zu dem nur zwei Häuser entfernten Waschsalon. Murats Waschsalon. Gut besucht, stellte Feldmann fest, als er vor der Glasfront stehen blieb. Er überquerte die Straße, holte sich einen Pappbecher mit Kaffee aus einer Bäckerei, stellte sich vor die Tür und schaute zum Waschsalon hinüber. Nach wenigen Minuten wurde er ungeduldig. Murat war überfällig, und Feldmann hasste es, warten zu müssen. Vor allem jetzt, wo Murat ihn um eine Schlichtung gebeten, ihn angefleht hatte zu vermitteln. Feldmann hatte erst abgelehnt, schließlich aber doch zugestimmt. Weil er Murat gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Denn in seiner aktiven Bullenzeit hatte er dazu beigetragen, Murats Sohn wegen Totschlags hinter Gitter zu bringen. Obwohl der Knast aus den wenigsten bessere Menschen machte. Murat hatte, soweit Feldmann wusste, seinen Sohn dort kein einziges Mal besucht. Der war für ihn gestorben. Feldmann war froh, kein Bulle mehr zu sein. Er war froh, dass er hingeschmissen hatte. Wenn er die Armut um sich herum sah, die Täter produzierte, Täter, die er früher hatte verfolgen und festnehmen und Richtern überstellen müssen, die nicht einmal ihren eigenen Horizont überblickten. Diese reiche Gesellschaft, die andere Länder zur Sparsamkeit zwang und ruinierte, diese vom Volk und auch von ihm gewählten Politiker, die Wirtschaftsfürsten umarmten und mit immer neuen Vorteilen ausstatteten, damit sie noch mehr Gewinne im Ausland verschwinden lassen konnten. Froh und erleichtert war er gewesen, als er sich von dem Beamteneid, den er auf diesen Staat geschworen hatte, verabschieden konnte, seinen schriftlich fixierten Verzicht auf weitere Pensionsansprüche zu den Akten gegeben hatte.
Im Haus neben Murats Waschsalon stand ein Laden leer, Veranstaltungsplakate waren auf die Scheiben geklebt. Das musste der Laden sein, den Fred Klotz gemietet hatte, um Murat Konkurrenz zu machen. Eine verschleierte Türkin, bei der auch der viele schwarze Stoff nicht half, ihre Pfunde zu verstecken – ja, diese Seite des Kottbusser Damms war fest in türkischer Hand -, war plötzlich stehen geblieben, starrte offensichtlich erschrocken durch die großen Glasscheiben in den Laden, ging schnell weiter. Vorher war sie geschlendert, jetzt rannte sie fast. Feldmanns alter Bulleninstinkt war sofort wieder wach. Er lief über die Straße, musste auf dem Mittelstreifen stehen bleiben, weil ihm ein Protzauto für geschätzte hunderttausend Euro mit einem jungen Türken am Steuer den Weg abschnitt. Er lief weiter. Die Tür zum Laden war nur angelehnt, er stieß sie auf. Drinnen, wo nur noch ein paar dringend restaurierungsbedürftige Stühle und Schrankwände standen, umkreisten sich Murat und Fred. Fred, ein stämmiger Vierzigjähriger, und Murat, der um die sechzig war, mit eisgrauem Haar und einem Stilett in der Hand. Vielleicht hatte Murat vor vierzig Jahren mal den Kampf mit dem Messer geübt. Aber seine Schnelligkeit hatte er inzwischen verloren. Er wechselte das Messer von einer Hand in die andere und wiederholte das Spiel immer wieder. Fred starrte auf das Messer, nicht auf Murats Augen, er war kein Kämpfer, aber er kämpfte um sein Leben mit einer Bierflasche in der Hand, der er den Boden abgeschlagen hatte. Die andere Hand hatte er mit einer Lederjacke umwickelt und benutzte sie als Schild. Sein Hemd war aufgerissen. Blut rann ihm die Seite hinab. Der ein oder andere Treffer war Murat also schon gelungen.
„Schluss. Aus. Feierabend“, schrie Feldmann, als er dazwischenging. Er breitete die Arme aus, um die Wütenden am Kampf zu hindern – die eine Hand ausgestreckt gegen Fred, die andere gegen Murat. „Lass das Messer fallen“, sagte er drohend und sehr leise zu Murat. Sie sahen sich an. Murat brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen. Er ließ das Messer auf den Boden fallen. Fred, den er dabei nicht aus den Augen gelassen hatte, warf seine Bierflasche gegen die Wand. Dann nahm er sich einen von den Stühlen und setzte sich. Er riss sein Hemd weiter auf, besah sich die blutenden Wunden an seiner Seite, presste dann das Hemd dagegen.
„Setz dich“, sagte Feldmann scharf zu Murat. Der zögerte, holte sich aber doch einen Stuhl, setzte sich. Feldmann nahm sich den, der umgekippt am Boden lag, und platzierte ihn in die Mitte.
Er sah Fred an. „Wenn du die Polizei rufen willst, bitte“, sagte er. „Dann gehe ich.“
Fred musterte Lou, während er versuchte, die Blutung oberhalb seines Bauches zu stoppen. Ein Waschbrettbauch war das schon seit zehn Jahren nicht mehr. „Ich weiß, wer du bist“, sagte er. „Lou Feldmann. Ich hab mit deinem Neffen Manu öfter mal Billard gespielt. Einmal bist du gekommen, um ihn auszulösen.“ Er nahm den Hemdenstoff von seinem Bauch weg, die Blutung hörte nicht auf, er drückte weiter dagegen. „Nein, keine Bullen. Ich hab zwar keine Ahnung, was es hier zu schlichten geben soll, aber versuch es halt.“
„Wenn du damit ins Krankenhaus gehst, werden die wissen wollen, wie das passiert ist. Und dann kommen die Bullen.“
„Noch mal. Keine Bullen. Kein Krankenhaus.“
Feldmann nickte, holte sein Handy aus der Tasche und rief Sylvie Westphal an.